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Wittgensteins Sinnbilder IV – der Taucher

30.03.2019

Ludwig Wittgenstein soll nach dem Zeugnis seines Schülers Norman Malcolm die Mühe des Denkens bisweilen mit der Anstrengung des Tauchers verglichen haben, trotz des natürlichen Auftriebs des eigenen Körpers schwimmend und rudernd in die Tiefe zu gelangen.

Quelle: Norman Malcolm, Ludwig Wittgenstein, Ein Erinnerungsbuch, München und Wien 1958, Seite 72

 

Die erste Erinnerung – das erste Licht, die erste Bewegung. Bei mir war sie Wasser, in dem ich badete, das von der Sonne durchleuchtet wurde. Diese erste Erinnerung ist der erste Augenblick des Glücks, an den ich mich entsinne. Glück und Wasser – das fließt schon von Anfang an zusammen. Ufer und Inseln sind schon Versprechungen.

Friedrich Georg Jünger, Gedanken und Merkzeichen

 

Und immer
Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Vieles aber ist
Zu behalten. Und not die Treue.
Vorwärts aber und rückwärts wollen wir
Nicht sehn. Uns wiegen lassen, wie
Auf schwankem Kahne der See.

Friedrich Hölderlin, Mnemosyne

 

Was ich verstanden habe, ist ausgezeichnet – ich glaube auch das, was ich nicht verstanden habe, jedoch bedürfte es dazu eines delischen Tauchers.

Sokrates über seine Lektüre des Heraklit bei Diogenes Laertios

 

Nach Wittgenstein haben wir demnach die Neigung, auf der Oberfläche dessen, was wir sagen und tun, zu schwimmen oder uns treiben zu lassen. Er aber gehört zu jenen heroischen oder dialektischen Charakteren im Bereich des Denkens wie Hölderlin im Bereich des Dichtens, die wie der Taucher schwimmend und mit Armen und Beinen rudernd gegen die natürliche Tendenz des Auftriebs immer wieder Mühe aufwenden, um in tiefere Gründe zu gelangen.

Dagegen finden wir bei lyrischen Charakteren wie Friedrich Georg Jünger die bezauberte Hingabe an die leicht und melodisch bewegte Oberfläche der Dinge, der Luft, die von der Erinnerung verwehter Gesänge widerhallt, der Flamme, die das Dunkel der Seele mit leisem Pathos erweckt, des Wassers, das sie ganz und unversehrt auf das schwingende Blatt seiner Rose hebt.

Mit poetisch-ironisch feinem Griff sehen wir Sokrates, wohl von Platon selbst, in einen Mann verwandelt, der zögernd am Ufer des herakliteischen Logos verweilt; er springt nicht hinein, denn er scheut die Strudel und die Abgründe eines Wassers, in dem der Tag und der Traum, die Tat und der Schlaf, die Besonnenheit und der Wahn dieselben Schaumkronen bilden und dessen ewige Brandung die Zeichnung des Menschen am Ufersand immerfort verwischt. Doch er weiß um die Gestalt des Tauchers, der den Sprung wagen mag, inspiriert vom Klarsinn des delischen Apollon, vielleicht mit den Gesichtszügen seines Schülers Platon.

Hölderlin baute die deutsche Hymne, aus dem Geiste Pindars erweckt, in sich Ufer auswerfender Stromgestalt durch rhythmischen Wechsel idyllischer, dramatischer und heroischer Töne; dabei konnte ein idyllischer Splitter – „uns wiegen lassen, wie/Auf schwankem Kahne der See“ – wie ein vergifteter Dorn ins Fleisch der Betrachtung gehen, die von der Sehnsucht nach dem reinen Wasser der Unschuld nicht läßt. Doch würde die Hingabe zur Unzeit erkauft mit der Untreue, des Kommenden zu gedenken.

Freilich, das Wasser Wittgensteins ist nicht der blaue Missouri oder der glänzende Spiegel des Bodensees eines Friedrich Georg Jünger noch der Rhein oder die Ägäis Hölderlins, sondern der von Strudeln bewegte sumpfige Teich philosophischer Sätze oder das trübe Wasser der Alltagssprache. Auch kann er nicht hoffen wie der Perlentaucher, wunders welche kostbaren Dinge vom Grund zu bergen gleich einem Becher von Thule; wenn es hochkommt, sind es absonderlich ineinander verschmolzene Muscheln und Lavabrocken oder vielleicht eine abgestorbene Molluske; oft ist aber, was schwer wog und glänzte, nichts als eine moosüberwachsene alte Blechdose.

Das Vertrauen eines Dichters wie eines Friedrich Georg Jünger in die Ordnung des Kosmos ist heidnisch-antik; es baut nicht auf die Arbeit des Menschen, mittels Technik eine gute Ordnung aufzurichten, ja im Gegenteil, je mehr der Mensch an der Natur herumpfuscht, umso häßlicher scheint ihm ihr Gesicht entstellt.

Freilich, Wittgenstein sah sich keineswegs im Strom des modernen Fortschritts und prophezeite die Vollendung seiner rasenden Entwicklung im Bild einer sterbenden Ascheglut, über der die Geister der Vergangenheit wie Rauchwolken aufquellen.

Auch wenn er eine fundamentale Ordnung in der grammatischen Struktur der natürlichen Sprache wahrzunehmen glaubte, hat Wittgenstein sie nicht wie eitel Harmonie vergötzt, sondern als ein Ingenieur im Katastropheneinsatz an den undichten Stellen herumgeschraubt, an denen das verschmutzte Öl der Phrase austrat.

Doch manchmal beschlich ihn die Ahnung, daß all das glänzende Blech und die weitgespannten Bögen aus Beton und Stahl das dunkle, tauige Moos der Sprache eines Goethe, Mörike und Rilke nicht mehr tragen, ja von sich abstoßen würden.

Der Philosoph sah sich als prophetischen Heros im Kampf gegen die Verhexung der Sprache durch Bilder scheinbarer Stimmigkeit, unter deren glänzendem Firnis aus Eitelkeit und Geltungssucht die erstickte Frucht des Unsagbaren faulte.

„Glück und Wasser“ – das heidnische Glaubensbekenntnis. Doch Wittgenstein wollte nicht sich vom Element des Lebens tragen lassen, sondern hinabtauchend mußte er die glatte Oberfläche zerreißen.

Was war das Unglück Wittgensteins? Die fatale Herkunft von einer zur Groteske assimilierten jüdischen Magnatensippe, die er bis zur Askese verraten hat und deren kulturelles Erbe er doch nicht loswurde? Die Qual des Gedankens, der ihn vampyrhaft aussog? Die Unfähigkeit, dem Ideal des einfachen, schlichten Lebens in der schönen Fremde nicht gerecht zu werden, aus Eitelkeit oder Gewissensnot? Die Unfähigkeit zu Liebe und Hingabe, deren zarte Spuren die Noten im Stile Mozarts und Brahms waren, die er manchmal wie Motti an den Anfang eines Manuskripts schrieb? Das Jüdische seines Naturells, das sich in ihm zu einer unendlichen talmudistischen Exegese auswuchs, die an jedem Wort die Ritzen und Schründe ertastete, wie die alte Kabbala an den zerschlagenen Gefäßen der Schöpfung?

 

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