Figuren des Selbst
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Die uns mit enigmatischen Sprüchen kommen, können von einer Gegend der Sprache Zeugnis ablegen, die unseren Horizont übersteigt, oder Betrüger und Scharlatane sein, die unsere Verblüffung nutzen, um uns heimlich etwas aus der Tasche zu stibitzen, uns zumindest Zeit und Aufmerksamkeit zu rauben.
In manchen Fällen bleiben wir ein Leben lang im Zweifel, welche dieser Alternativen zutreffen mag.
Er sagt heute so, morgen so. Wir ignorieren sein Geschwätz und schenken dem Sprecher kein Vertrauen.
Warum ist die Wahrheit und Richtigkeit einer Mitteilung ein Prüfstein für unser Vertrauen? Weil sie uns über Hindernisse hinweghalf oder ans Ziel gelangen ließ.
Er sagt heute das Gegenteil dessen, was er gestern vollmundig verkündete. Der Widerspruch und die logische Inkonsistenz sind für uns ein Kriterium der Entscheidung dafür, dem Sprecher unser Vertrauen zu entziehen oder ihm mit Mißtrauen zu begegnen.
Das aufgrund wichtiger und richtiger Auskünfte bei uns gekeimte und angewurzelte Vertrauen in den Sprecher enthebt und entlastet uns der Mühe, jede seiner künftigen Mitteilungen auf die Waagschale peinlicher Prüfung und Abwägung zu legen.
Dem Fremden, dem unsere Muttersprache mit ihren eigentümlichen Wendungen und feinen Anspielungen nicht ins Blut übergegangen sein kann, begegnen wir schon auf sprachlicher Ebene mit Argwohn, wenn es sich um Fragen von Sein und Nichtsein handelt.
Der Intellektuelle will uns verblüffen und sich eitel spreizen, indem er ohne Not vom üblichen Sprachbrauch abweicht.
Er hält es für schick oder ein Zeichen von Esprit und geistiger Überlegenheit, sich in trivialen Angelegenheiten unverständlich auszudrücken.
Der faule, doch auf die Menge bannend wirkende Zauber der Wortverdreher und Sprachwürger, die sich für Poeten ausgeben oder gar für Philosophen.
Das schlichte Wort ist oft der edelste Schmuck.
Höllenflamme, die Hütten und Werke des Lebens in Brand steckt, zischende Schlange des Paradieses, die zur Verleumdung des Wahren, Guten und Schönen anstiftet: die menschliche Zunge, wie es der Brief des Jakobus beschreibt.
Der Austausch von Worten läßt sich nicht à la Sorbonne auf den Diskurs der Macht abbilden oder reduzieren: Der Bezug auf Wahrheit ist ihm ursprünglich einbeschrieben, und wir vertrauen auf den Sprecher, der ihn zu wiederholten Malen hergestellt hat, und mißtrauen dem Lügner und dem Scharlatan, der sich mit der Larve des Richtigen und Wahren tarnt.
Vor dem offensichtlich Unwahren scheuen wir zurück und weisen es gelassen ab. Die Bosheit braucht die Maske des Wahren, jenes verführerische Schillern und Blenden erlesener oder aufgehübschter Worte, um in Herz und Mark zu dringen.
Der Lügner redet im Schatten der Wahrheit, um die er weiß, der Scharlatan in der Sonne des Bösen, das er verkennt.
Der Lügner ist gerissen und schlau, weiß er doch dem Schein den Anstrich des Echten zu geben. Der Scharlatan ist inspiriert und besessen, breitet er ja um die innere Leere den Nimbus des Geheimnisvollen und in die geistige Nacht die Schimmer dämonischer Fäulnis.
Um am Gespräch teilzunehmen, etwas zu behaupten, zu fragen, zu erzählen, müssen wir uns selbst vertrauen. Dies ist die ursprüngliche Intuition des Ich: Es lauscht gleichsam in sich hinein auf sein eigenes Lebenslied.
Wie beim Hören oder Lesen von Sätzen müssen wir auch beim Hören einer Melodie unserem Bewußtsein vertrauen: So hören wir nicht nur die Abfolge jeweils singulärer Töne, sondern den Verlauf und die eigentümliche Bewegung der Tonlinie, wobei das soeben Gehörte in der mehr oder weniger ausgedehnten Gegenwart des Bewußtseins resoniert und das noch kaum Angeklungene wie eine akustische Aura bereits in die Gegenwart des Bewußtseins hineinzustrahlen scheint.
Wir hören die Melodie auch in den winzigen Lücken von Stille und über den Abgrund des Innehaltens hinweg, in denen es kein akustisches Ereignis gibt: Wir füllen die Lücken der Stille mit der imaginären Linie der von uns spontan aus dem Klangmaterial erzeugten Melodie.
Eine jede von unserem Bewußtsein spontan aus dem gegebenen akustischen Material erzeugte Melodie ist eine musikalische Figur des Selbst – so wie wir auch aus dem Porträtbild, der gemalten Landschaft oder dem Stilleben eine Figur des Selbst erwecken.
Wenn wir aus dem von unserem Gesprächsteilnehmer vorgegebenen akustischen Material spontan die Satzgestalt einer Frage oder Aufforderung erzeugen, erfahren wir an dem Gehörten eine semantische Gestalt des Selbst.
Wir könnten sagen: Wie wir uns im einen Falle musikalisch innewerden, so werden wir uns im anderen Falle semantisch inne.
Wir sind in der von uns als semantische Gestalt der Frage oder Aufforderung gehörten und verstandenen Äußerung auf analoge Weise existentiell enthalten, wie die Folgerung eines korrekt gebildeten Schlusses in den Prämissen logisch enthalten ist.
Wir gelangen aus der Virtualität des dämmernden oder schlafenden Bewußtseins in die Aktualität einer Figur des Selbst, wenn wir uns im akustischen, visuellen, taktilen, olfaktorischen, gustatorischen und motorischen Material oder Phänomen spontan innewerden.
Es gibt kein Gesehenes oder Gehörtes, das nicht ein von dir oder mir Gesehenes oder Gehörtes wäre. Es gibt kein gesagtes oder geschriebenes Wort, das nicht jemandes Wort wäre.
Wir trauen jenem, der das Wahre, mißtrauen jenem, der das Falsche sagt. Das Vertrauen wächst, je mehr wir durch den einen auf gangbare Wege, das Mißtrauen wächst, je mehr wir durch den anderen auf abschüssige Pfade gelenkt werden.
Das Vertrauen ist der Baustoff unserer einfachen Sittlichkeit in den Formen der Freundschaft und Liebe; das Mißtrauen ist der Sprengstoff, der die gewachsenen Institutionen des alltäglichen Umgangs zum Einsturz bringt.
Das gesunde Mißtrauen kommt dem Betrüger und Scharlatan auf die Schliche; das kranke sieht in jedem Spiegelschatten auf dem Fensterglas den Verfolger, die Fratze seiner eigenen Nichtigkeit.
Das gesunde Mißtrauen ist der Spiegel der moralischen Welt, in der Fortuna oder das Fatum die ethischen Fähigkeiten der Verläßlichkeit, des Verantwortungsbewußtseins, des Pflichtgefühls, der Pietät und der Treue auf eklatante und skandalöse Weise ungleich ausgeteilt hat.
Die ungleiche Verteilung der moralischen Fähigkeiten steht im umgekehrten Verhältnis zur ungleichen Verteilung der geistigen Fähigkeiten: Der Betrüger ist gerissener und schlauer als der Betrogene, wenn der Betrogene auch moralisch begabter sein mag als jener, der ihn ums Ohr haut.
Nicht nur die ungleiche Verteilung der intellektuellen Begabungen ist eine unüberwindliche Hürde für diejenigen, die sich des Endspurts ins Paradies der Freien und Gleichen unterfangen, sondern mehr noch die ungleiche Verteilung der moralischen Gefühle und Fähigkeiten.
Jedes Bewußtsein existiert in der Dauer eines Augenblicks, die mit dem Glockenschlag nicht untergeht.
Der Augenblick des Bewußtseins ist die Ewigkeit, in der sich alle Zeiten immerdar neu versammeln, überkreuzen und wieder auslöschen.
Der Augenblick, in dem wir für uns erwachen, hat keine physikalisch meßbare und chronometrisch taxierbare Ausdehnung. Er ist in sich unendlich, diffus und grenzenlos verfließend.
Die schlichten Tatsachen unseres Daseins sind unerklärlich und können bloß erfaßt und umschrieben werden wie das Licht, das jäh durch die bunte Scheibe fällt und einen blutigen Fleck auf den Kacheln malt, oder der Duft, der unvermutet aus dem Garten durchs offene Fenster ins Zimmer weht.
Daß jemand eine Katze auf dem Fenstersims zu sehen wähnt, obwohl dort keine Katze ist, erklären wir aufgrund der Tatsache, daß er dem Wein über die Maßen zugesprochen oder LSD eingenommen hat; doch die schlichte Tatsache, daß wir dort auf dem Fenstersims wirklich eine Katze sehen, können wir nicht erklären. Denn die echte Wahrnehmung der Katze ist die Voraussetzung dafür, die scheinbare Wahrnehmung der Katze als Halluzination zu verstehen.
Der Sinn des Gesagten läßt sich unmittelbar oder intuitiv erfassen und verstehen, aber nicht durch kausale Theorien über neuronale Prozesse erklären; während wir den Unsinn einer Äußerung aufgrund der kausalen Theorie, daß der Sprecher betrunken oder verrückt ist, erklären können.
Wenn wir die Wahrnehmung der Katze aufgrund der Tatsache zu erklären glauben, daß das Katze genannte physische Objekt Lichtstrahlen reflektiert, die über unsere Retina zur neuronalen Verarbeitung eines visuellen Datums oder Seheindrucks im Gehirn gelangen, gehen wir semantisch in die Irre, denn es kann per definitionem im neuronalen Netzwerk oder im physikalischen Raum kein Bild geben; wir nehmen ja kein mentales Bild wahr, sondern die Katze vor unseren Augen, die dort auf dem Fenstersims wirklich und wahrhaftig schnurrt.
Wir können die physiologischen Voraussetzungen des Sehens erklären, aber treffen im physikalischen Raum nirgends auf einen Seheindruck oder ein Bild.
Alles könnte auf das Gleiche hinauslaufen und die neuronalen Vorgänge störungsfrei ablaufen, ohne daß wir von einem Seheindruck sprechen würden, wenn wir das Traumbild der Katze auf dem Fenstersims wahrnehmen. Ein Seheindruck kann sich ja als Täuschung erweisen, aber können wir uns in der Wahrnehmung von Traumbildern irren?
Das Ich ist keine psychische Kapsel oder mentale Monade, sondern gleichsam in die Welt des Erlebens ergossen.
Die Figuren des Selbst verschwimmen nicht im Fluidum des phänomenalen Bewußtseins, sondern entwerfen sich in den Linien des Gesehenen und Gehörten; so sind wir ein Teil der von uns gesehenen Landschaft, so steigen und sinken wir mit dem Verlauf der von uns gehörten oder gesungenen Melodie.
Du kannst im Verlauf eines Gesprächs der Schatten der Figur deines Gesprächspartners werden, ähnlich dem Spiegelbild auf dem Wasser, das wieder verschwimmt und verlöscht, wenn es aufgerührt wird vom Wind, wie dein Schatten vor der Leidenschaft deiner Frage oder deines Ausrufs erbleicht.
Die Figur des Selbst wird charismatisch, wenn sie ungetrübt vom gleichsam atemlos innehaltenden Wasser einer Kollektivseele gespiegelt wird. Dies gespannte Innehalten ist ein Ausdruck der Not, der Angst oder einer überschwenglichen Hoffnung.
Wenn wir uns unterhalten oder gemeinsam spazierengehen, sagt jeder seine Sätze, setzt jeder seine Schritte, doch die Sätze sind als Fragen und Antworten getragen vom Strom des Gesprächs, die Schritte werden Teile eines gemeinsamen Wegs.
Wie die Freundschaft keine sichtbare und kausal erklärbare Entität darstellt, sondern nur in gewissen Gesten und rituellen Handlungen beschreibbar ist, so auch das Wir des Gesprächs, das Wir des gemeinsamen Gangs.
Der Ring des Wir umfaßt alle, zu denen wir „Du“ sagen, wenn es sich um eine verschworene Gemeinschaft oder eine Brüdergemeinde handelt; alle, zu denen wir „Sie“ sagen, wenn es sich um eine formale Organisation wie einen Verein oder ein Unternehmen handelt.
Aus dem rituellen Umgang im Ring des Wir entsteht das gemeine Recht, das gegenüber dem ausformulierten Gesetz des Staates in impliziten und informellen Regeln daherkommt. Die Riten der Gemeinschaft sind einander spiegelnde, tragende, verwobene Figuren des Selbst, die wir mit den verteilten Stimmen eines Kanons vergleichen können.
Riten sind durch Wiederholung und Variation ästhetisch und sittlich geordnete Gesten, Sprechakte und Handlungen, deren Sinn als Figuren des gespiegelten Selbst wir unmittelbar oder intuitiv erfassen: Der Gastgeber empfängt den Gast auf der Schwelle des Hauses durch Handschlag und Gruß, die der Gast rituell beantwortet.
Der Sinn der schönen Künste von der Architektur über den ornamentalen Schmuck bis zu Lied und Musik erschließt sich aus der Erfüllung der Aufgabe, diesen rituellen Figuren des sich spiegelnden Selbst einen ästhetisch geordneten Resonanzraum zu geben.
Die Verhäßlichung der schönen Künste durch eine globalisierte und wurzellose künstlerische Elite, der Architektur durch die Reduktion ihrer Formen auf den funktionellen Zweck mittels Beton, Glas und Aluminium und die Zerstörung des ornamentalen Dekors sowie der Musik durch Denunzierung des singbaren Lieds und des tonalen Systems als sentimentalen Kitsch und abgestorbenen Klangkörper ist ein verhängnisvoller Angriff auf das sich in den rituellen Figuren gemeinschaftlicher Ordnung spiegelnde Selbst.
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