Über die Bedeutung des menschlichen Namens
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Archaische Stämme bezeichnen sich mit Namen, die wir mit dem Begriff „Mensch“ wiedergeben.
Sich Namen zu geben heißt, ein Mensch zu sein. Der Mensch ist das Tier, das sich einen Namen gibt.
Menschliche Eigennamen im eigentlichen Sinne wie Karl, Anna, Paul oder Hildegard sind nicht deskriptiv wie der vom Eigennamen abgeleitete Titel Kaiser (von Caesar) oder wie der die messianische Abkunft beschreibende Name Christus.
Tiere geben sich keine Namen, sie haben solche, die wir ihnen geben. Sie verfügen nicht über eine Sprache, in der eine Namensgebung nur auf der Grundlage des im rituellen Akt der Taufe wachen Bewußtseins des Nennenden von der eigenen und der Identität des Benannten möglich ist („ICH taufe DICH auf den Namen …“). Tiere haben keinen Namen im eigentlichen Sinne, weil sie keine Biographie haben, und sie haben keine Biographie im eigentlichen Sinne, weil sie namenlose Wesen sind.
Der Sinn des menschlichen Namens beruht auf den rituellen und institutionellen Aufgaben, die ihm in der menschlichen Gemeinschaft zukommen: zunächst die Identifikation einer Person anhand ihrer familiären Herkunft (in manchen Sprachen gekennzeichnet mittels eines Suffix wie in den skandinavischen durch das Suffix -son in Mathisson, Sohn des Mathis, oder -dottir wie in Leifsdottir, Tochter des Leif), sodann zur Bezeugung und Besiegelung von Amtshandlungen, Akten, Urkunden, Aussagen vor Gericht, Dekreten, Zeugnissen oder Testamenten.
Die dem Namen zugeflossene Magie speist sich aus der Vorstellung, Seele und Lebenskraft seines Trägers seien mit ihm wie ein Gefäß und sein Inhalt verbunden, und den Namen ehren oder entweihen hieße dieses Leben erhöhen oder verdunkeln, würzen oder vergiften.
Wir unterscheiden in unserem Kulturkreis Rufnamen und Familiennamen, wobei mediterran und abendländisch von Juden, Griechen, Römern, Kelten und Germanen her der Familienname der Name des Vaters ist, dessen genealogische Linie von Geschlecht zu Geschlecht vererbt wird. Der Name des Vaters ist das Paßwort auf den Graten des historischen Übergangs, ob zum Ruhme oder zum Elend, im Glanz und im Grauen. Die patrilineare Überlieferung des Namens ist der geschichtliche Ursprung und Resonanzraum von Pietät und Ahnenkult als Ursprung der Religion, von Gedächtnis und Erzähllust als Ursprung des Mythos, der Legende und schließlich der Historiographie sowie von Sammlung und Pflege vorbildlicher Exempla als Stimuli juvenilen Tatendrangs, von kultureller Höchstleistung und kriegerischer Zerstörung, künstlerischer Blüte und traditionsfeindlicher Barbarei – eines ist ohne das andere nicht zu haben.
Der Name als soziale Institution ist die Keimzelle des Geschehens, das wir Geschichte nennen. Die alte Historiographie (vor der zahlenförmigen Chronologie) folgt in der Abfolge der Ereignisse den Namen der Herrscher und Könige; so listet Herodot die Namensreihe der lydischen und persischen Herrscherhäuser auf, um seine Erzählung zeitlich zu strukturieren, noch Tacitus bleibt diesem Verfahren treu, das erst infolge des Übergewichts der christlichen Zeitrechnung abgelöst wird.
Die erste und primordiale Historie ist die Familienchronik, das Gedächtnis der Ereignisse um die Träger eines gemeinsamen Namens.
Die Heiligung des Namens macht seinen Träger sakrosankt, sie führt zur Heraldik und Emblematik, zu Schwur und Eid auf die mit dem Emblem des Namens ausgezierte Fahne. Die damnatio memoriae oder die Entweihung des Namens macht ihren Träger vogelfrei. Sie bedeutet das Auslöschen des Gedächtnisses einer Person, eines Hauses, eines Geschlechternamens. Die Formen der Entweihung und Schändung des Namens sind Legion, sie reichen von der satirischen und karnevalesken Entstellung über die magische Verfluchung bis zur Dämonisierung (die asiatischen Horden, die Hexen, die Juden).
Das historische Ringen ist der Kampf um den Glanz und Ruhm oder den Untergang der Namen von exzellenten Personen und großen oder maßlosen Herrschern, Geschlechtern und Völkern.
In den Epen der Völker von Homer und Vergil bis zur Bhagavadgita und Edda erkennen wir den Kampf um den Ruhm des göttlichen und heroischen Namens. In Shakespeares Königsdramen sind die handelnden Personen als Träger landmannschaftlicher Namen wie beispielsweise Cornwall, Kent, Gloucester in der Tragödie „König Lear“ benannt.
Die Geschichte des alten römisch-deutschen Kaiserreichs liest sich wie die Abfolge und Perlenkette von Namen der sich um die Herrschaft streitenden Stämme von Merowingern, Karolingern, Franken, Sachsen, Bayern, Friesen, Schwaben, Hohenzollern, Preußen.
Der Eigenname bezeichnet sowohl die Person als auch das ihr gehörige Eigentum an materiellen und geistigen Gütern. Ohne Name kein Recht und kein Rechtsinstitut, das beispielsweise die Verfügung über Hab und Gut, Erbe und Schuld eines Namensträgers in Kraft setzt oder außer Kraft setzt.
Das historische Ringen ist auch der Kampf um den Ruhm der Namen von Völkern wie der Griechen mit den Persern, der Römer mit den Karthagern, der Juden mit den Assyrern, Babyloniern oder Seleukiden, aber seit der Ära des Monotheismus auch von Weltreligionen, die nichts wären ohne die auratische Ausstrahlung der Namen ihrer Gründer.
Das durch siegreiche Feldzüge und kulturellen Glanz ruhmvoll aufgepflanzte Banner des Geschlechternamens weht auf dem First eines Hauses wie des Hauses Habsburg, Luxemburg oder Brandenburg.
Für den Ruhm des glanzvollen Namens mag der Held, der vagabundierende Söldner oder das träumerische Gemüt den Tod in der Schlacht suchen wie der Prinz von Homburg im Drama von Kleist.
Wie eng die Identität der Person und die Integrität des Namens verknüpft sind, zeigt das Schicksal des Verfemten oder dessen, der sein Gesicht verloren hat und sich von sozialer Scham getrieben in ein Pseudonym oder die Anonymität flüchtet, und der Fall des Wahnpatienten, der sich manisch gestimmt eines fremden glorreichen Namens rühmt.
Ist Dr. Jekyll das vom Tageslicht verscheuchte oder versöhnte Monstrum Mr. Hyde oder Mr. Hyde das im Grauen der Dämmerung aus der Haut gefahrene monströse Selbst des Dr. Jekyll? Jedenfalls markiert der Autor der Horrorgeschichte die beiden Seiten des hybriden Wesens mit zwei unverwechselbaren Namen, ohne uns über die Janusköpfigkeit einer solchen Doppelnatur den letzten Aufschluß zu geben.
Menschen, Familien, Geschlechter, Völker, Kulturen ringen untereinander und miteinander um den Erhalt und die Mehrung des Ruhms ihres Namens. Wir entnehmen diesen geschichtsmächtigen Tatbestand ungezählten Zeugnissen. Wir nennen nur den gymnischen und künstlerischen Agon der Hellenen, ihrer alten Adelsgeschlechter, ihrer Städte und Stadtstaaten, die im Wettkampf ringenden Athleten, Sänger und Chöre, die dramatischen Festspiele zur Ehren des Dionysos in Athen; den Kampf der griechischen Philosophenschulen der Platoniker, Peripatetiker, Epikureer und Stoiker um die klügsten Köpfe der freien Jugend; die geistigen Strömungen der Orden in der Scholastik oder die mit harten Bandagen ausgefochtene Konkurrenz von Kunstschulen und künstlerischen Stilen wie Klassizismus, Naturalismus, Symbolismus, Jugendstil oder Abstraktion in Dichtung, Kunst und Architektur; solchen Kollektivnamen wurde geopfert an Blut, Schweiß und Tränen wie dereinst den mythischen Göttern.
Was der schwarzen Aura von Namen wie Hitler, Marx, Lenin, Stalin, Mao geopfert wurde, können Worte nicht fassen.
Wenn ein Kulturvolk den eigenen Namen und alten Ruhm, den seine wahren Heroen in Dichtung und Kunst ihm anhäuften und gültig besiegelten, verramscht oder dem Hohn seiner entnervten Eliten preisgibt, kann es nur noch in die billigen Kitzel und schnöden Ersatzkämpfe von Moden und Marken flüchten, freilich auch ein Agon der Namen – doch um den Preis eines hektischen oder stupiden Konsums, der keine tieferen spirituellen Bedürfnisse mehr zu stillen vermag.
Die Gründer tauften die Orte und Städte ihrer neuen Siedlungen und Kolonien, oft auf die Namen der Ahnen, vergöttlichter Heroen oder der Götter wie Athen, Sparta und Rom. Der Göttin Roma wurden kultische Ehren zuteil, und solange ihr Tempel stand und ihr Brunnen Wasser gab, war der imperiale Glanz ihrer Stadt noch nicht verblaßt.
Der Kampf um die Hoheit des Namens zeigt sich immer wieder in der Neubenennung der Städte durch die Eroberer und Invasoren, so wurde aus Byzanz Konstantinopel, aus Konstantinopel Istanbul, aus Chemnitz Karl-Marx-Stadt und aus Karl-Marx-Stadt wieder Chemnitz. Wann die Namen von Straßen, Stadtteilen und Städten in Deutschland mit orientalischen Schriftzügen prunken, ist nur eine Frage der Zeit.
Was wären ohne die Namen einer Beatrice, Laura oder Diotima die Dichtungen Dantes, Petrarcas und Hölderlins? Hier hat die Aura des Namens in der Tat eine größere Strahlkraft als die leibhaftige Geliebte – für die Liebenden selbst wie für uns Nachgeborene.
Es ist bei alledem merkwürdig zu gewahren, daß in uns allen unter den unzähligen Schriftzügen der Namen auf Emblemen, Buchtiteln, Etiketten, Briefköpfen, Klingelschildern, Zeugnissen, Attesten und Adressverzeichnissen, zwischen all den gerufenen, geflüsterten, verschwiegenen, sehnsüchtig oder schamvoll erinnerten Namen sich immer wieder ein Abgrund oder Spalt auftut, aus dem die blaue Luft oder das dunkle Wasser des Namenlosen eindringt, uns mit kindlichem Zauber zu betören oder ins graue Vergessen zu tauchen. Und scheinen wir uns nicht im Namenlosen, wo keine Letter und kein zudringlicher Anruf unseres Namens das wogende Element der Seele vergittert, keine Beschilderung uns den dürftigen Aufenthalt bemißt, eigentlicher zu Hause?
Die geschichtsbildende Macht des Namens umgrenzt das Menschliche nicht ganz, es klafft ein Loch im Dach der historischen Heim- und Werkstatt, und gleichmütig im Halbschlaf der Dämmerung ausgestreckt erblicken wir wie aus einem dunklen Brunnenschacht die von Vogelflug-Blitzen rätselhaft durchkreuzte blaue Nacht und mit dunstigem Schleier die Nichtigkeit unseres Lebens heiter verhüllend das namenlose Auge des Monds.
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