Skip to content

Gedankenspiele

17.09.2018

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

In einem Lehrbuch der Kunstgeschichte finden wir den typischen Rundbogen der romanischen Architektur und den typischen Spitzbogen der gotischen Architektur. Solche Muster im Sinne sagen wir vor einem Kirchengebäude: „Die Türme zeigen romanischen Charakter, der Chor gotische Stilformen.“

Sind die typischen Formen des romanischen und gotischen Bogens im Lehrbuch platonische Ideen oder empiristische Abstraktionen? Es sind präskriptive Muster, die vorgeben, wie ein Bogen gebaut oder mit welchem Namen ein gebauter bezeichnet werden soll.

Die Blätter einer bestimmten Baumart wie der Eiche oder der Linde ähneln sich stark, die Blätter verwandter Baumarten wie der Eiche und der Linde ähneln sich, die Blätter und Nadeln unterschiedlicher Baumarten wie der Linde und der Tanne ähneln sich kaum. Doch sagen wir von allen, daß es Blätter und Nadeln von Bäumen sind.

Die Blätter oder Nadeln von künstlichen oder synthetischen Gewächsen zählen wir nicht zu dieser Reihe, obwohl sie den genannten wie ein Ei dem anderen gleichen können.

Die Wahrnehmung von Ähnlichkeiten führt uns genauso auf rechte Wege, wie sie uns zu Abwegen verführt.

Gleiches können wir von den natürlichen Sprachen, ihrer Wortbildung und ihrem grammatischen Aufbau sagen.

Sanskrit, Altgriechisch und Lateinisch haben untereinander eine größere grammatische Ähnlichkeit als Französisch und Deutsch mit dem Chinesischen.

Doch die Idiomatik dieser Sprachen ist jeweils aufgrund kultureller Unterschiede anders geprägt.

Sind die künstlichen Sprachen der Logik oder Mathematik ein Analogon zu den künstlichen Gewächsen? Das logische Oder ist wie ein synthetisches Blatt gegenüber dem Oder der natürlichen Sprache.

Haben wir etwas erkannt, wenn wir ein Fenster als romanisches Fenster erkennen? Wir haben jedenfalls, was wir sahen, richtig benannt.

Wir können mit einer gewissen metaphorischen Übertreibung sagen, wenn wir die Form und Maserung eines Pflanzenblattes betrachten, haben wir alles vor Augen, was wir über den Sinn des Lebens sagen können.

Ähnlich wie manche, die der Chiromantik anhängen, behaupten, die Deutung der Linien der Handinnenfläche eines Menschen sage ihnen alles über das Leben und Schicksal des Betreffenden.

Doch wenn wir die Morphologie einer fremden Sprache, beispielsweise ihre Grammatik und Idiomatik, betrachten, können wir nicht davon ausgehen, sie besser zu verstehen als ihr gewöhnlicher natürlicher Sprecher.

Wenn wir ein Blatt als Lindenblatt bestimmen, können wir es nicht als Eichenblatt bestimmen, und wenn wir ein Fenster romanisch nennen, dann können wir es nicht gleichzeitig gotisch nennen. Handelt es sich hier um deskriptive Wahrheiten oder grammatische Regeln?

Wenn du ein Fenster mit einem Rundbogen genau beschreiben kannst, es aber gotisch nennst, handelt es sich doch wohl um einen Verstoß der Spielregeln, wie kunsthistorische Etiketten anzuwenden sind.

Ein Blatt ist, was wir korrekterweise ein Blatt nennen, und dies tun wir, weil wir es anhand von exemplarischen Benennungen und Handlungen gelernt haben, wie es kleine Kinder lernen, wenn sie im Herbst unter Eichen und Linden die herabgefallenen Blätter auflesen.

Wenn wir auf solche Weise einen ungefähren Begriff vom Blatt gelernt haben, können wir uns angesichts ungewöhnlicher Blattarten oder angesichts von Nadeln fragen, ob wir sie auch Blätter nennen sollen.

Ähnlich mit der kunsthistorischen Etikettierung von Fenstern, wenn wir auf Zwischenformen stoßen, die uns teils gotisch, teils barock anmuten.

Anhand wiederholter Bitten oder Aufforderungen, etwas zu tun oder zu sagen, und aufgrund des Lobes oder des Tadels, der positiven oder negativen Resonanz, die wir erfahren, wenn wir einer solchen Äußerung nachkommen oder sie mißachten, lernen wir das Muster oder den Typus der Sprachhandlung, für die bestimmte Bitten, Befehle und an uns herangetragene Wünsche Beispiele oder Arten darstellen.

Wenn wir auf diese Weise den ungefähren Begriff oder das Muster einer Sprachhandlung gelernt haben, können wir uns angesichts von ungewöhnlichen Äußerungen fragen, ob es sich um eine Bitte oder eine Frage handelt.

Schließlich kommen wir sogar dahinter, daß die Bitte oder Frage, ob wir nicht noch etwas lauter schreien können, keine echte Bitte oder Frage darstellt, sondern eine gleichsam degenerierte Form einer Bitte oder Frage, die wir Ironie nennen.

Ironische Bemerkungen sind wie Pflanzen aus Kunststoff in einem Garten mit echten Blumen.

Wir bevorzugen das kunsthistorische Urteil, das ein gotisches Fenster richtig benennt, vor einem Fehlurteil, genauso wie wir die Erfüllung einer angemessenen Bitte loben und ihre Mißachtung tadeln. Wir scheuen uns demnach nicht, eine Parallele zwischen dem epistemischen Wert des korrekten Urteils und dem ethischen Wert der angemessenen Handlung zu ziehen.

Kinder könnten Arithmetik als Spiel lernen, wenn sie 10 Tannennadeln gegen 1 Tannenzapfen tauschen. Dann könnten sie eine Reihe bilden mit 10 Nadeln und dahinter 1 Zapfen legen; oder sie könnten 100 Nadeln auf einen Haufen zählen und dafür 10 Tannenzapfen oder 1 Kastanie tauschen.

Wenn nun ein Kind einen Tannenzapfen gegen 1 Kastanie tauschen wollte, würden es ihm die anderen Kinder verweigern und sagen: „Das geht nicht!“ Oder sie sagen: „Das darfst du nicht!“

Ersichtlich ziehen die Kinder in diesem Spiel eine Parallele zwischen dem logischen Zwang und dem moralischen Gebot.

Kinder könnten Algebra als Spiel lernen, wenn die einen 7 Tannennadeln und einen kleinen Kieselstein sowie einen Tannenzapfen in eine Reihe legen und die anderen auffordern, so viele Nadeln an die Stelle des Kieselsteins zu legen, daß sie den Zapfen gegen die Anzahl der Tannennadeln tauschen wollen. Der Kieselstein, lernen sie, ist eine Variable oder ein algebraisches Symbol und steht für die Unbekannte x.

Die Kinder könnten zwei Kieselsteine und einen Tannenzapfen in eine Reihe legen und damit eine Gleichung mit zwei Unbekannten lösen, indem sie jeweils die Stelle eines Kieselsteins mit einer Anzahl von 1 bis 9 Tannenadeln ersetzen, sodaß sie das Spiel mit zwei Variablen erlernen.

Doch wenn ein Kind käme und wollte an die Stelle eines Kieselsteins 10 Tannennadeln setzen, würden es ihm die anderen Kinder verwehren und sagen: „Wir spielen hier mit zwei Kieselsteinen. Für den einen dürfen wir deshalb keine 10 Nadeln legen, sondern mindestens 1 weniger!“

Die Kinder drücken das logische Muß als moralisches Gebot oder Verbot aus, wenn sie dem anderen Kind verbieten, mehr als 9 Nadeln auf einmal zu legen, oder ihm gebieten, für einen Kieselstein mindestens 1 Nadel zu setzen.

Doch das schlaue Kind läßt sich nicht einschüchtern, wenn es ihm die anderen Kinder verwehren, statt des 1 Kieselsteins 10 Tannennadeln zu setzen und den zweiten Kieselstein frei zu lassen. Es hat verstanden, daß man die freie Variable mit null gleichsetzen kann.

Man kann die Arithmetik und die Algebra als normatives Spiel oder als Spiel mit systematischen Handlungsanweisungen auffassen.

Den Gebrauch wertender Ausdrücke wie „gut“ und „schlecht“ und ihre komparativen und superlativischen Formen können Kindern demnach ausgehend von epistemischen Bewertungen und spielerisch im normativen Spiel mit Zahlen und Zahlsymbolen erlernen, gleichsam in einem Vorhof der Moral.

Keiner wird die Kinder zu dem Spiel zwingen; doch wenn sie es spielen, nötigen sie sich selbst, es gut zu spielen.

Mit der Vorgabe, daß 1 Tannenzapfen 10 Tannennadeln wert ist oder bedeutet, haben sie die Arithmetik schon in der Tasche. Sie brauchen nicht einmal ein Gleichheitszeichen, sie sehen ja, was gleich ist und was nicht.

Wenn Kinder zwei Kieselsteine als algebraische Symbole der Art zu lesen verstehen, daß sich die Werte von 1 bis 10 auf sie verteilen lassen, sodaß ihre Summe jeweils 10 ergibt, haben sie auch den Begriff einer Funktion erfaßt, für die eine geregelte Werteverteilung zwischen 1 und 10 das gültige Argument 10 ergibt.

Sehen die Kinder in der Reihe vor dem Tannenzapfen 12 Tannennadeln und einen Kieselstein liegen, bemerken sie gleich, daß 2 Nadeln überzählig sind. Wenn wir sie auffordern, die beiden überzähligen Nadeln unter den Kieselstein zu legen, verstehen sie, daß der Kiesel die ihm zugeordnete Anzahl gleichsam unsichtbar macht und neutralisiert: So lernen sie die Subtraktion.

Wir sehen daran, daß logisches Denken als ein Spiel mit Symbolen der Identität dargestellt werden kann.

Was wir Identität nennen, ist nichts, was wir beschreiben oder definieren müßten, sondern der Name für das Verfahren oder die Möglichkeit, in solchen Denkspielen ein Zeichen gegen ein anderes Zeichen auszutauschen, ohne daß unsere Rechnung durcheinandergerät.

Es läuft auf das Gleiche hinaus, wenn wir an der Kasse bei einer Rechnung von 15 Euro darauf bestehen, daß uns die Kassiererin auf einen 20-Euro-Schein den Betrag von 5 Euro, gleichgültig ob in Form eines Scheins oder in Form von Münzen, herausgibt.

Ob wir sagen, dieses Areal umfaßt eine Fläche von 100 Hektar oder von 1 km2, kommt auf das Gleiche hinaus. Doch sagen wir, es sei notwendig, daß wir die Maßeinheit Hektar auf solche Weise in die Maßeinheit Kilometer und Meter umrechnen, daß 100 Hektar 1 km2 meint oder bedeutet und umgekehrt. Diese Bedeutung meint demnach ein Verfahren der Umrechnung, bei dem ein konventioneller Maßstab einem anderen konventionellen Maßstab zugeordnet wird.

Was wir logische Notwendigkeit nennen, ist ein selbstauferlegter Zwang oder eine logische Verpflichtung zur korrekten Anwendung konventioneller oder frei gewählter Maßstäbe.

Der Satz, daß dieses Areal 100 Hektar oder 1 km2 umfaßt, ist wahr, wenn er durch ein geeignetes Meßverfahren bestätig werden kann. Der Satz, daß 100 Hektar 1 km2 betragen, ist weder wahr noch falsch, sondern der Ausdruck einer konventionellen Festlegung. Er kann daher nicht durch ein geeignetes Meßverfahren bestätigt werden.

Wenn wir das Areal nicht sorgfältig vermessen haben, kann uns ein Meßfehler unterlaufen, und wir geben zu, daß wir uns geirrt haben. Doch wenn jemand erwartet, daß ihm die Kassiererin statt der gewöhnlichen 5 Euro 1 Perle herausgibt, sprechen wir hierzulande nicht von einem Irrtum, sondern zurecht von einer Form geistiger Verwirrung, obwohl dies in einer exotischen Kultur, in der bei einer gemischten Geld- und Naturalienwirtschaft 5 Euro vielleicht mit dem Gegenwert von 1 Perle taxiert würden, eine vernünftige Sache wäre.

Der Gedanke und der ihn zum Ausdruck bringende Satz, daß 1 km2 100 Hektar beträgt, oder der Gedanke, daß die Identität die symbolische Ersetzbarkeit konventioneller Zeichen ausdrückt, kann kein bloßer Gedanke im Kopf oder eine mentale Repräsentation im Gehirn dessen sein, der ihn denkt und in einem solchen Satz zum Ausdruck bringt, weil die maßstabgetreue Verwendung konventioneller Zeichen auf einer sozialen Vereinbarung beruht.

Kein Gedanke ohne konventionelle Zeichen, die ihn darstellen können, keine Zeichen ohne Gemeinschaft jener, die sie festlegen und benutzen. Folglich ist das, was wir Geist oder Denken nennen, kein neuronales Muster oder physikalisches Ereignis in einem Gehirn, sondern ein Bestandteil unserer Welt, die dasjenige umfaßt, was den Inhalt unserer Gedanken ausmacht, und auch diejenigen, die Gedanken haben und in sinnvollen Sätzen äußern.

Der Begriff einer Welt ist die Grenze dessen, was wir meinen oder als Summe möglicher Tatsachen ansehen wollen. Daher ist er nicht eindeutig definierbar. Betrachten wir als eine Welt die Summe der möglichen Tatsachen in einem Zimmer, in dem sich ein paar Leute aufhalten, etliche Möbel stehen und viele Bücher auf den Regalen Staub ansammeln, dann ist die Summe aufgrund der möglichen Relationen zwischen all diesen Gegenständen unendlich, und diese Welt kann nicht vollständig beschrieben oder definiert werden.

Die epistemische Tatsache, daß wir mit der Angabe von 100 Hektar dasselbe meinen oder dieselbe Angabe machen wie mit dem Flächeninhalt von 1 km2, ähnelt der epistemischen Tatsache, daß die Kinder im algebraischen Spiel in 1 Tannenzapfen dasselbe sehen wie in 10 Tannennadeln oder 2 Kieselsteinen.

Wenn, was wir Denken nennen, ein durch Maßstäbe oder Kriterien normierter sowie durch sprachliche Handlungsanweisungen geregelter Austausch von konventionellen Zeichen darstellt, wobei die Maßstäbe und Kriterien angeben, welche Zeichen durch welche anderen Zeichen ersetzt werden können, sind wir geneigt zu sagen, daß Denken eine Form des Dialogs darstellt, eines wirklichen oder virtuellen, dessen Form aufgrund der Subjektivität der Gesprächspartner eine interne ethische Dimension innewohnt.

Das primitive mathematische Spiel der Kinder führt uns vor Augen, inwiefern Denken ein Ethos der Sprache impliziert. Dieses Ethos ist ein Ethos der Verpflichtung, getroffene oder festgesetzte Vereinbarungen einzuhalten und nicht zu tricksen, zu mogeln oder zu betrügen, sondern unter demselben Zeichen dasselbe zu verstehen.

Verstehen hat die primitive ethische Voraussetzung, verstehen zu wollen.

Die Verpflichtung ist eine soziale Abmachung oder das Versprechen, etwas mit gleicher Münze zu entgelten und nicht mit gezinkten Karten zu spielen, gleichgültig ob die Münze einen Wertgegenstand oder ein sprachliches Zeichen darstellt. Dabei wird in der Regel der Bruch der Abmachung oder das Nichteinhalten des Versprechens sanktioniert. Die Sanktionsmaßnahmen reichen von materiellen Strafen über den Tadel bis zu symbolischen Formen der sozialen Ausgrenzung und Stigmatisierung.

Die Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten der logischen Induktion und der Voraussage spiegeln sich in den Risiken der sozialen Verpflichtung, deren auf Dauer gestellte Einrichtung nur durch Zwänge und ein Sanktionsregime gegen die egoistischen und kriminellen Triebe und die Willensschwäche des Menschen aufrechterhalten werden kann, von den unkalkulierbaren Unwägbarkeiten des Schicksals zu schweigen.

Die moralischen Lasten sind aufgrund der asymmetrischen Streuung der Begabungen und sozialen Rollen gerechterweise vielfach ungleich verteilt. Der Erziehungsberechtigte und der Lehrer stehen in der Pflicht, den Schutzbefohlenen und Schüler sicher auf den unsicheren Pfaden des Lebens und den unbekannten Wegen der Lehre zu geleiten, das Kind in der reziproken Pflicht, ihren Anweisungen zu gehorchen.

Die auf Augenhöhe sprechen, stehen in der Pflicht symmetrischer Verantwortung im Spiel von Frage und Antwort, Rede und Widerrede, Sagen und Schweigen.

Liebe, könnten wir sagen, ist die Umkehrung des Bruchs der sozialen Abmachung durch den Lügner und Betrüger oder den Dieb und Räuber, der den Fragenden in die Irre führt oder das Dargereichte listig oder gewaltsam entwendet, dadurch, daß der Liebende den verpflichtenden Rahmen der sozialen Abmachung überschreitet, indem er hilfreiche Hinweise und Antworten gibt, noch bevor er gefragt worden ist, dadurch, daß er die materielle oder symbolische Gabe schenkt, ohne eine Gegengabe zu erwarten.

 

Comments are closed.

Top