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Erhellungen am Wegesrand

02.09.2018

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Wenn der Himmel von Wolken bedeckt ist, können wir auf diese große und jene kleine Wolke zeigen. Ist der Himmel wolkenlos und klar, worauf zeigen?

Bilder, Namen, Erinnerungen steigen auf, ziehen vorüber. Ist die Seele wolkenlos und klar, warum sprechen?

Die Wolken lösen sich auf und der klare Himmel kommt zum Vorschein. Doch auch der klare Himmel verdunkelt sich.

Die Bilder, Namen, Erinnerungen ziehen vorüber. Doch auch die Seele verdunkelt der Schlaf, verwirrt der Traum.

Der ins glatte Wasser geworfene Stein erzeugt um seine Mitte konzentrische Wellenkreise, die sich ins Unabsehbare auszudehnen, ins Grenzenlose zu wandern scheinen. Doch bald ermüden sie und die Wasseroberfläche ist wieder glatt und wie unberührt, als wäre nichts geschehen.

Erfährt die Substanz der Welt wie das Wasser gleichsam eine Phase der Modulation und gerät in symmetrische Schwingungen und kehrt dann zum Ausgangszustand zurück?

Was wir erfahren scheint wie der Grünspan an der Mauer haften zu bleiben oder wie der Efeu, der sie am Ende ganz überdeckt. Doch dann kommen winterliche Tage und die graue Mauer tritt in ihrer Nacktheit wieder zutage.

Wir sagen: „Die Zweige des Apfelbaums blühen“ und „Der Apfelbaum treibt Früchte“ oder „Der vom Baum gefallene Apfel fault“ und lassen uns von der Grammatik des Wortgebrauchs täuschen, denn in Wahrheit vollzieht sich das Blühen an den Zweigen, entwickelt sich aus der befruchteten Blüte das Fruchtfleisch mit den Samen, wirken Fäulnisprozesse auf das Fruchtfleisch ein.

Doch diese Art der grammatischen Täuschung ist eher harmlos, denn auch wenn wir sagen, dass die Rose blüht, gehen wir stillschweigend davon aus, dass die Rose kein handelndes Subjekt ist wie der Gärtner, die sie gepflanzt hat und pflückt. Wir benötigen keine Zusatzerklärung wissenschaftlicher Natur, um einen solchen Sprachgebrauch zu rechtfertigen.

Sollen wir sagen, die optischen Farbtöne Hellblau, Graublau, Blassblau, Himmelblau, Dunkelblau und Violettblau sind Varianten der Grundfarbe Blau? Oder begnügen wir uns damit zu sagen, hier sind die Blautöne, mit denen wir unseren Sehraum belegen?

Die vorsokratische Rede von der Substanz der Welt ist eine dimensionslose Projektion unseres Gebrauchs von Begriffen spezifischer Stoffe und Elemente wie des Wassers, des Schnees, der Luft, des Chlorophylls oder des Lichts nach Abzug ihrer spezifischen Differenz ins Unbegrenzte.

Diese scheinbar tiefschürfende Form grammatischer Täuschung ist weniger harmlos, wenn sie uns zu einer chimärischen Ontologie verleitet.

Unsere Selbstgegenwart kann zwischen einzelnen Handlungen gleichsam bis zum Nullpunkt herabgemindert sein, wie sie es in langen Phasen des Schlafs tatsächlich zu sein pflegt. Doch zu sagen, unsere Selbstgegenwart sei in diesen Zwischenräumen gleichsam leer, ist eine verzerrende Projektion unseres Gebrauchs von räumlichen Bildern wie dem eines vollen und leeren Behälters auf psychologische Prädikate, die keine räumliche Dimension haben.

Wer einen alten Bekannten nach längerer Zeit auf der Straße trifft und an einem unwillkürlichen Zittern seiner Hand bemerkt, dass es um seine Gesundheit nicht zum besten bestellt ist, bezeigt jene subtilere Form der Höflichkeit, die wir Feingefühl nennen, wenn er sich der floskelhaften Frage nach seinem Befinden enthält.

Wir enthalten uns eingewöhnter Höflichkeitsfloskeln wie der Frage nach dem Befinden, wenn der Betreffende beispielsweise eine schwarze Armbinde zum Zeichen der Trauer um einen jüngst verstorbenen Angehörigen trägt, ohne darum unhöflich zu sein.

Der vor Vitalität strotzende, doch feinsinnige Mann, der, seinen Tennisschläger unter dem Arm, auf einen alten Bekannten trifft, der zu seinem Bedauern mittlerweile am Stock geht, sieht nicht nur davon ab, ihn nach seinem Befinden zu fragen, sondern verschont ihn auch mit prahlerischen Geschichten über seine sportlichen Erfolge, um den anderen nicht zu beschämen.

Die Vermehrung der technischen Errungenschaften vom Auto und Motorrad bis zur drahtlosen Kommunikation steht im direkten Verhältnis zur Verminderung von Höflichkeit, Feingefühl und Esprit.

Höflichkeit ist nicht nur ein Vorrat von erlernbaren Verhaltensregeln guten Benehmens. Gewiss kann man die Floskeln und Umgangsformen, die wir gute Manieren nennen, erlernen und auswendig wissen: Doch ihnen übergeordnet ist die Kunst ihrer Anwendung, die auch diejenigen Gelegenheiten ins Auge fasst, bei denen wir uns ihrer Anwendung enthalten und dem zudringlichen Schmarotzer die Tür vor der Nase zuschlagen oder dem rücksichtslosen Krakeeler den Mund verbieten.

Die fette Beute bei der Jagd nach dem Glück wiegt leichter als die von ihr bleiben, die abgenagten Knochen der Verzweiflung.

Der feuchte Glanz und der betörende Wohlgeruch der Aprikose ziehen unweigerlich die Mücken und Schmeißfliegen an.

Die ungleiche Verteilung der Begabungen bedingt die ungleiche Verteilung des Reichtums, die ungleiche Verteilung des Reichtums führt zu Verteilungskämpfen, zu Krieg und Bürgerkrieg. Die Unterdrückung der Begabungen und die erzwungene Gleichheit der Einkommen führen zum Stillstand und zur kulturellen Verödung.

Je intelligenter die Techniken der Kommunikation, umso geistloser die Unterhaltung.

Eine Bilddokumentation über den Altarraum vor und nach dem II. Vaticanum gäbe ein stummes Zeugnis vom Zerfall der Begriffe vom Heiligen und Numinosen.

Im Namen der Aufklärung und der allgemeinen Partizipation wird der Tisch des Wunders in einen Schanktisch und Stammtisch verwandelt.

Wäre die Natur des Menschen von der Erbsünde vollkommen verderbt, könnte er nichts von ihr wissen.

Wäre die Sprache ein blindes Glas, könnten wir uns nicht wenigstens zum Teil in ihr widerspiegeln.

Die Sprache ist nicht das reine Glas, durch das wir die Welt ungetrübt erblicken, denn es läuft an, wenn wir ihm zu nahe treten, das heißt mit dem Rätsel unserer Existenz behauchen.

Einfache Sätze ermöglichen uns zu verstehen, was wir nicht begreifen, zum Beispiel, dass wir eines Tages gestorben sein werden.

Wir verstehen, dass die Zweige des Apfelbaums blühen und dass die Blüten sich in Früchte verwandeln, auch wenn wir es nicht begreifen oder ohne erklärende Hypothesen, die uns die Botanik an die Hand gibt.

Wir verstehen, was es heißt, wir selbst zu sein oder uns nicht gleichzeitig in Hamburg und New York aufhalten zu können.

Wir gründen unser System von Überzeugungen auf einfache Gewissheiten, die in einfachen Sätzen ausgedrückt werden können, wie dem Satz, dass wir sterben werden, ohne sie auf Evidenzen oder logische Folgerungen zu stützen. Denn von der Annahme, dass ich sterben werde, habe ich keine Evidenz, und die Folgerung, dass ich sterben werde, weil allem Anschein nach alle Menschen sterblich sind, ist keine strenge logische Folgerung.

Wir gehen mit einfacher Gewissheit davon aus, dass die Blüten des Apfelbaums keine Zitronen hervortreiben werden, ohne uns von der Absurdität einer solchen Annahme einer botanisch begründeten Evidenz versichern zu müssen.

Im Märchen freilich ist dies möglich, doch zeigt es nur, dass wir im wirklichen Leben über kein „Sesam öffne dich“ verfügen, das uns Unmögliches zugänglich machen könnte.

Wir verfügen über einfache Gewissheiten, die uns der Grenzen unserer Sprache versichern, wie die Gewissheit, dass wir nicht mehr sagen können, als die Macht unserer Sprache hergibt, und über jene, die uns die Grenzen des Denkens aufzwingen wie die Gewissheit, dass wir nicht der Überzeugung sein können, alle Überzeugungen seien eitel oder falsch.

Aus den Quellen unserer mehr oder weniger gut begründeten Überzeugungen schöpfen wir keine Gewissheiten, sondern nur Wahrscheinlichkeiten: Mich kann die Erinnerung täuschen, die Wahrnehmung irreführen und mit meiner Vermutung kann ich falsch liegen.

Doch die Wahrscheinlichkeit, dass mich meine Erinnerungen, Wahrnehmungen und Vermutungen ständig an der Nase herumführen, ist um ein Vielfaches geringer als die Wahrscheinlichkeit, dass sie den Inhalt wahrer Überzeugungen bilden.

Wenn beispielsweise meine Wahrnehmung einer Person auf der gegenüberliegenden Straßenseite mich zu der Überzeugung veranlasst, dort gehe mein Freund Peter, und sie falsifiziert wird, habe ich immerhin die wahre Überzeugung gewonnen, dass dort nicht Peter gehe.

Die Semantik kann nicht auf die Physik zurückgeführt werden.

Wäre meine Überzeugung, dass dort mein Freund Peter gehe, eine Funktion der neuronalen Prozesse meines Gehirns, also eines letztlich physikalischen Vorgangs, könnte ich ihre Falschheit nicht verneinen und dadurch die wahre Überzeugung bilden, dort gehe nicht mein Freund Peter. Denn wie ließe sich ein physikalischer Vorgang verneinen?

Die Semantik kann nicht auf die Evolution zurückgeführt werden.

Wenn die evolutionäre Anpassung uns zu der Überzeugung gebracht hätte, dass unsere Überzeugungen Funktionen der evolutionären Anpassung sind, woher sollten wir wissen, dass sie stimmt? Denn auch wenn sie falsch wäre, könnte sie ein Produkt der evolutionären Anpassung sein.

Sind Sätze wie „Die Blüten des Apfelbaums treiben keine Zitronen hervor“ oder „Der Mensch zeugt immer einen Menschen“ Evidenzen der Erfahrung und insofern hinreichend bewährte induktive Annahmen oder verkörpern sie Regeln unserer Sprache?

Die Überzeugung, alle Überzeugungen seien Wirkungen einer physischen Ursache, impliziert eine reductio ad absurdum. Denn sie müsste selbst eine Wirkung physischer Ursachen wie der neurophysiologischen Prozesse im Gehirn dessen sein, der sie äußert. Wenn diese Prozesse sich ändern, und sie ändern sich fortwährend, müsste sich auch die resultierende Überzeugung entsprechend ändern. Sie wäre nach kurzer Zeit jedenfalls nicht mehr die Überzeugung, dass sich alle Überzeugungen auf ihre zugrundeliegenden physischen Ursachen reduzieren lassen. Demnach impliziert die Überzeugung, alle Überzeugungen seien Wirkungen einer physischen Ursache, ihre Negation. Daher ist jede Form naturalistischer Erkenntnistheorie inkonsistent.

Die Überzeugung, dass alle Überzeugungen Resultate des selektiven Prozesses der Evolution sind, wäre ein Ergebnis des Zufalls und könnte nur zufällig wahr sein, im Gegensatz zu der Überzeugung, dass alle Überzeugungen notwendigerweise wahr oder falsch sind. Daher ist jede Form evolutionärer Erkenntnistheorie inkonsistent.

Um zu sehen, dass dein Freund sich über deine schnippische Bemerkung ärgert, genügt es, den Ausdruck von Ärger auf seinem Gesicht zu sehen. Eine merkwürdige Fähigkeit zur Empathie in sein verborgenes Innere ist dazu nicht nötig. Denn alles liegt offen zutage.

Dem Freund an der Mimik abzulesen, dass er sich ärgert, ist ein unmittelbares Sehen in dem Sinne, dass es keine Vermutung darstellt, indem du etwa aus seiner Gesichtsmimik auf den mentalen Zustand schließt, den wir Ärger nennen. Denn von der Gesichtsmimik auf den mentalen Zustand des Ärgers zu schließen sagt nicht mehr als dem Freund an der Mimik abzulesen, dass er sich ärgert.

Unterwegs auf dunklen Pfaden können wir mit unserer Lampe nur einzelne Abschnitte der Umgebung erhellen. Zumeist sind wir genötigt, den Pfad, auf dem wir gehen, Stück um Stück auszuleuchten.

Der Wald, in dem wir unterwegs sind, der Wald der Sprache, kennt keinen Wechsel von Tag und Nacht. Zwielicht herrscht in ihm vor. Manchmal lockt er uns da und dort zu einer Lichtung, von der aus wir die Umgebung etwas deutlicher sehen. Doch es besteht keine Aussicht, dass über ihm die Sonne einer vollständigen Aufklärung aufgeht.

 

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