Vom Ethos der Sprache
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Wenn du dich mit deinem Freund Peter für gestern im Park verabredet hattest und er kam zwar, aber hatte die Verabredung in Wahrheit vergessen und sein Versprechen, zur vereinbarten Zeit zu erscheinen, nur scheinbar erfüllt, weil er rein zufällig des Weges kam, so würdest und könntest du nicht sagen: „Ich freue mich, dass er gekommen ist, obwohl es Zufall war.“
Du würdest und könntest nicht sagen: „Ich bin ihm dankbar, dass er gekommen ist, obwohl er vielbeschäftig ist und einen weiten Weg hat.“
Dass wir in solchen Fällen nicht von Dankbarkeit sprechen können, ist nicht die Wirkung eines physischen oder natürlichen Zwangs, sondern die Folge eines logischen Zwangs, der auf Konventionen unserer Sprache zurückgeht. Denn wir reden nur dann davon, für etwas dankbar zu sein, wenn es uns nicht wie gebratene Hendl ins Maul flog.
„Danke!“ (ähnlich wie „Bitte!“ oder „Entschuldigung!“) sagen zu lernen scheint nicht ganz einfach zu sein, wie wir an Kindern beobachten können, die zu diesen Sprachhandlungen wiederholt angeleitet werden müssen. Eine psychologische Erklärung legt der Umstand nahe, dass dankbar zu sein das Eingeständnis einer Abhängigkeit dem gegenüber einschließt, dem man zu Dank verpflichtet ist.
Eine sprachlogische Erklärung legt der Umstand nahe, dass „Danke!“ zu sagen die Einsicht in den Unterschied zwischen einem natürlichen Geschehen und einer freiwilligen Handlung einschließt. Eine freiwillige Handlung nennen wir eine solche, die ebensogut hätte unterbleiben können.
Die Einsicht in den Unterschied zwischen kausalen Abläufen und willkürlichen Handlungen wiederum impliziert die Fähigkeit, kontrafaktische Bedingungssätze bilden zu können: „Wenn die Großmutter keinen Kuchen gebacken hätte, um ihn den Kindern mitzubringen, hätten sie nichts zu naschen gehabt.“
Kinder können nur im übertragenen Sinne dankbar dafür sein, dass es schneit und sie Schlitten fahren können, wenn sie dem Märchen glauben, Frau Holle habe ihretwegen ihre Kissen ausgeschüttet.
Wir können uns im Allgemeinen nur für eine Handlung entschuldigen, die wir hätten unterlassen können. Die Tatsache, dass wir in der Lage sind, uns sogar für etwas zu entschuldigen, was wir hätten nicht unterlassen können, wie dafür, im Gedränge, stolpernd und von anderen gestoßen jemandem unwillentlich auf den Fuß getreten zu sein, ist gleichsam eine Übersteigerung dieser Regel, die wir Höflichkeit nennen.
Ähnlich wie wir nicht behaupten können, dass es regnet, und zugleich behaupten, dass wir glauben, dass es nicht regnet, können wir uns nicht entschuldigen und gleichzeitig glauben, dass die Handlung, der die Entschuldigung gilt, sowieso eingetreten wäre.
Diese Ähnlichkeit betrifft die sprachlogische Form der Aussagen, die wir nicht auf eine rein logische Inkonsistenz zweier sich ausschließender Behauptungen p und nicht-p reduzieren können.
Denn wir können rein logisch gesehen ja glauben, dass es nicht regnet, obwohl es regnet (Moores Paradox). Wir schließen diese Form von Behauptungen aber aus dem sprachlogischen Grund aus, dass wir das wahre Wahrnehmungsurteil, dass es regnet, nicht als Gegenstand einer gegenteiligen Überzeugung zulassen.
Die Kinder können nicht die Großmutter bitten, Kuchen für sie zu backen, und gleichzeitig glauben, ihre Bitte wirke wie ein magische Zwang oder eine Beschwörung, sodass die Großmutter nicht umhin könnte zu tun, worum sie bitten.
Glaubten die Kinder, ihre Bitte wirke wie ein magischer Zwang auf die Großmutter, hätten sie keinen Grund, sich für den mitgebrachten Kuchen zu bedanken.
Das Dankgebet und der Lobgesang sind nur sinnvoll, wenn sie auf Gottes freie Gnadentat antworten, auch wenn ihr eine Bitte oder ein Gebet vorausgingen.
Die Großmutter hat keinen Grund, sich dafür zu entschuldigen, wenn sie den Kindern keinen Kuchen mitgebracht hat, es sei denn, sie hätte ihnen versprochen, welche für sie zu backen.
Nur wenn wir der Ausführung einer Handlung ein bestimmtes Maß von Verbindlichkeit zurechnen, sind wir berechtigt oder gehalten, um etwas zu bitten oder uns für etwas zu entschuldigen.
Wir tadeln das Kind, wenn es sich bei der Großmutter nicht für den mitgebrachten Kuchen bedankt. Indem wir das Kind wiederholt für ungehörige oder das Unterlassen angemessener Handlungen tadeln sowie für angemessene und die Unterlassung ungehöriger Handlungen loben, üben wir seine Fähigkeit, den Unterschied zwischen dem, was wir tun und unterlassen, und dem, was zu tun und zu unterlassen wir nicht vermeiden können oder was einfach geschieht, zu verstehen.
Indem wir dem Kind beibringen, bei der angebrachten Gelegenheit „Danke!“, „Bitte!“ und „Entschuldigung!“ zu sagen, üben wir es in das Ethos der Sprache ein.
Wir müssen uns nicht am Griff des kategorischen Imperativs festhalten, um nicht in den Abgrund der moralischen Verwahrlosung zu rutschen, und wir müssen nicht auf den Sinai steigen, um das Ethos zu verstehen, das unserem sprachlichen Weltumgang Orientierung gibt.
Zu sagen, es sei dem Menschen durch ein göttliches Gesetz oder einen der Vernunft inhärenten kategorischen Imperativ aufgetragen, bestimmte Handlungen nach gewissen inhaltlichen Vorschriften oder formalen Kriterien ethisch zu bewerten, heißt nicht mehr als zu sagen, dass wir bestimmte Handlungen wie das Bitten, Danken oder Sich-Entschuldigen nach gewissen sprachlogischen Regeln und Mustern bewerten.
Wie nicht alle Menschen in gleicher Weise begabt sind, das Niveau sprachlicher Differenzierung zu erlangen, das jemand wie Goethe benötigte, um die Marienbader Elegie zu schreiben oder Hölderlin die vaterländischen Hymnen, können nicht alle Menschen in gleicher Weise aufgrund sprachlicher Regeln und Muster die sprachliche Logik ethischer Haltungen erlernen und beherrschen, die sich in der Verwendung von Ausdrücken wie „Danke!“, „Bitte!“ und „Entschuldigung!“ manifestiert. Der nicht unbedeutendste und geringste Grund liegt zutage, wenn sie Sprecher einer Sprache sind, die solche Ausdrücke teilweise oder überhaupt nicht kennt.
Diese schlichte Tatsache wird vom Anspruch universal geltender moralischer Vorschriften, sei es eines übernatürlichen Gesetzes, eines allgemeinen Vernunftprinzips oder einer allgemeinen kommunikativen Vernunft, ignoriert oder verdeckt.
Dieser universale Anspruch kann auch nicht mit Hinweis auf allen Sprachen vorgeblich zugrundeliegende einheitliche syntaktische Strukturen eingelöst werden, denn die sprachlogischen Regeln unserer ethischen Einstellungen sind keine syntaktischen, sondern semantische Regeln.
Sprachlogische Regeln wie die Unvereinbarkeit einer Bitte, einer Danksagung oder einer Entschuldigung mit der Annahme, sie könnten sich an ein Tier oder ein sprachunfähiges Wesen wenden oder von einem Tier oder einem sprachunfähigen Wesen vorgebracht werden, können nicht algorithmisiert werden.
Könnten wir eine Sprache erfinden, in der wir völlig ohne Ethos oder sprachlogisch begründete ethische Einstellungen auskommen? Das ist schon aus dem Grund nicht möglich, weil wir dann auf die elementaren Satzbewertungen Ja und Nein oder Wahr und Falsch verzichten müssten. Denn eine Behauptung aus triftigen Gründen als falsch zurückzuweisen, impliziert einen Tadel, wie den wahren Schluss aus einem komplizierten Argument mit „Ja!“ zu bestätigen ein Lob.
Wir können das Ethos der Sprache nicht algorithmisieren, weil wir den Maßstab unseres Lobes und Tadels nicht in Zahlen ausdrücken können.
Wir können nicht sagen, jemand, der sich für eine schwere Beleidigung entschuldigt hat, habe sich mehr entschuldigt, als jemand, der sich dafür entschuldigt hat, einem anderen versehentlich auf den Fuß getreten zu sein, obwohl der eine sicherlich mehr Schuld auf sich geladen oder mehr auf dem Kerbholz hat als der andere.
Es ist bemerkenswert, dass wir eine Entschuldigung sans phrase höher schätzen als eine wortreiche Begründung, von der uns der unangenehme Geruch der Ausrede ins Gesicht schlägt.
Wir bedanken uns für etwas, was wir geschenkt bekommen haben.
Falls es sich als ein Danaergeschenk erweist, bereuen wir, es angenommen zu haben.
Wenn alle alles geschenkt bekämen oder umsonst erhielten, ginge uns ein Stück Menschlichkeit verloren, weil wir dann selbst nichts mehr schenken könnten.
Das Paradies ist kein Ort für Menschen, denn ihm fehlen die Würde und das Verdienst.
Die infantile Utopie, dass einem die gebratenen Hendl ins Maul fliegen, hat keine Würde.
Eine unheilige Allianz von Utopisten und Technokraten wird der menschlichen Freiheit den Garaus machen.
Die Utopisten wollen das Ethos der Sprache vernichten, auf dass keiner mehr getadelt und keiner mehr bestraft werde, indem sie alle Hierarchien der Bewertung und Auslese einebnen, die Technokraten wollen das Ethos der Sprache vernichten, auf dass keiner mehr sich zu entschuldigen hat und keiner mehr sich bedanken muss, indem sie die Sprache und das Denken naturalisieren und algorithmisieren.
Diejenigen, die das Heil für alle verkünden und anrichten wollen, sind die wahren Unheilstifter.
Auch wenn das Manna für alle vom Himmel regnete, drehte sich einigen bei seinem Verzehr der Magen um.
Die vielbrüstige Artemis von Ephesos deutet auf die scheinbar unvergiftete Quelle der Utopie, die allen Bedürftigen fließende Milch der Urmutter.
Aber vielleicht ist dies eine faszinierende Halluzination derjenigen, in deren Trank ein giftiger Tropfen des Dämons gefallen ist.
Durch Geschenke, die wir nicht verdienen, werden wir beschämt.
Aber manchmal auch durch Geschenke, die unsere geheimen Wünsche an den Tag bringen.
Das Grundwort „Dank“ der Hölderlinschen Dichtung gebraucht Heidegger, um das geforderte Verhältnis zur Sprache zu bezeichnen, weil sie uns sagt, was wir sagen.
Schuld häuft auch an, wer den schuldigen Dank nicht entrichtet.
Wir haben uns selbst, die Welt und das Licht, die Sprache und den Sinn nicht gemacht. Wir stehen demnach von Anbeginn im Verhältnis der Schuld zu den Quellen des Daseins.
Das Opfer als elementares religiöses Ritual drückt beides aus, die Schuld und den Dank.
Das Kind lernt den Dank, wenn es sich an der Freude des beschenkten Geschwisters oder Freundes freut, auch wenn es auf das von ihm geschenkte Spielzeug verzichten muss.
Im Symbol ist das Unbegreifliche da, wie in der liegenden Acht als dem Symbol des Unendlichen.
So das Eigentliche im Uneigentlichen, das Unaussprechliche in der Stille, die sich unendlich auftut zwischen den Zeilen des Gedichts.
So wie es sich dem Glauben im nackten Kind der Krippe oder in der unscheinbaren Hostie offenbart.
Der tiefsinnige Denker endet seine Rede mit dem Hinweis, leider sei er wieder einmal von seinen Gedanken so mitgerissen worden, dass er nicht dazu kam, das Wesentliche zu sagen. Doch, könnten wir fragen, kam man es besser zum Ausdruck bringen?
Wir wissen, der Weg, den wir gehen, endet nicht dort, wo er für uns abbricht. Sollen wir uns deshalb gleich auf die faule Haut legen?
Größe hat die Ehre, dass ihrer dankbar gedacht wird.
Ähnlich dem Heisenbergschen Elektron, das auf seiner Bahn nur auftaucht, wenn es beobachtet wird, versinken wir ins Nichts, wenn wir nicht an uns denken oder uns nicht fühlen. Hier gilt der Satz: Esse est cogitari.
Aber wir können nicht ohne Sprache an uns oder andere denken, und wir denken an uns, nicht ohne an andere zu denken, und wir denken an andere, nicht ohne an uns zu denken. Wie wenn wir uns sagen: „Habe ich mich eigentlich bei ihr für das Geschenk bedankt?“
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