Nur Worte
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Die Striche auf dem Papier, sagen wir, bedeuten Zahlen. Was haucht ihnen Bedeutung ein, wenn wir lesen: 2 + 3 = 3 + 2?
Wir können die Summe bilden und erhalten 5 = 5. Die Bedeutung liegt demnach in dem Verfahren, das wir anwenden, um vom komplexen Ausdruck zum einfachen zu gelangen.
Wir spielen mit den Zeichen auf dem Papier, aber dieses Spiel vollziehen wir nach Regeln. Eine Regel lautet: Ersetze ein Zeichen nur durch ein anderes Zeichen, wenn die Bedeutung des gesamten Ausdrucks unverändert bleibt und wir das Verfahren rekursiv anwenden können, sodass wir hinschreiben: 5 = 3 + 2 = 2 + 3.
Wir müssen nicht sagen, 2 + 3 drücke den (platonischen) Gedanken 5 aus und 3 + 2 drücke DENSELBEN Gedanken aus und nur aufgrund der Identität der Gedanken oder Bedeutungen können wir uns der Wahrheit des Ausdrucks versichern. Wir können den Ausdruck „Gedanke“ streichen und erhalten dasselbe Ergebnis.
Wir sehen oder lesen in seltsamen Wolkengebilden ein Gesicht, ein Gesicht freilich, das uns nur im übertragenen Sinne anschaut. Warum? Weil es nicht zurücklächelt, wenn wir es anlächeln.
Könnten wir nicht bis 10 zählen, wüssten wir mit einer einzelnen Zahl wie 1 oder 9 nichts anzufangen.
In der Reihe 2, 4, 6, 8 erkennen wir ebenso ein Muster wie in der Reihe 1, 10, 100, 1000.
Doch in der Reihe 2, 3, 5, 7, 11, 13, 17, 19 erkennen wir kein Muster, aber einen Zusammenhang, wenn wir sie als Reihe von Primzahlen durchschauen.
Das Kind malt die Sonne als Gesicht. Ist das eine Metapher? Eine Metapher für die Liebe zum Leben?
Wenn das Kind im Freien unter der strahlenden Sonne spielt, sieht es in der Sonne kein lächelndes Gesicht, wie das Gesicht, das es soeben gemalt hat.
Wiederkehrende figurale oder ornamentale Strukturen nennen wir Muster. Unsere immer wiederkehrenden Alltagshandlungen, gestisch, mimisch, motorisch oder verbal, sind solche Muster.
Wir können sie wie ein ornamentales Band auf dem Saum des Lebens in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit und Intensität oder ihrer Ähnlichkeit anordnen.
Jeder Mensch stickt gleichsam auf den Saum seines Lebens ein individuelles Musterband.
Können wir anhand der Häufigkeit wiederkehrender Muster ihre Bedeutung gewichten? Es könnte Verbindungsstücke zwischen den Mustern geben, die monochrom oder blind, also selbst keine Muster sind, doch ohne die sich der ganze Zusammenhang auflöste.
Wir können auf dem Saum mit Mustern und figürlichen Ornamenten keine durchgehende Erzählung erkennen. Und dort, wo das Band abbricht oder durch den Tod zerschnitten wird, finden wir keine gleichsam hervorleuchtenden Muster, die ein Licht auf die ganze Reihe werfen würden.
Du gibst mir das Versprechen, mich nächste Woche wieder zu besuchen. Ich verstehe, was du meinst, indem du es sagst. Du gibst mir dein Wort, und sind es auch nur Worte, sie genügen mir.
Und wenn ich dich frage, wie ernst du es meinst, kannst du deine Worte nur beteuernd wiederholen.
Wir können uns den Sinn unserer Worte nicht gleichsam in einer transsubstantiierten Form und Gestalt verabreichen und hinunterschlucken.
Wir finden in fiktiven Erzählungen und beispielsweise den Dramen des Sophokles eine gezielte und prägnante Auswahl aus den Musterbändern des Lebens. Aristoteles hat in seiner Poetik versucht, die Auswahl von Handlungsmustern im Drama auf gewisse Spielregeln zurückzuführen.
Die Verfasser der synoptischen Evangelien haben das Leben Jesu nach einem Muster angeordnet, dessen göttliche Spielregel die christlichen Theologen im Buch der Schöpfung, Offenbarung und Erlösung zu entziffern glaubten.
Man kann die Theologie der Nachfolge Jesu, wie es beispielsweise die Wüstenväter taten, als radikale Vereinfachung und Verdichtung der Muster des Lebens verstehen.
Aber das Band wird so oder so zerschnitten und findet keine Fortsetzung. Denn es lässt sich nichts anstückeln.
Man kann nicht nach Mustern leben, die anhand fiktiver Spielregeln ausgesondert und zusammengeklebt wurden, ohne eine komische oder tragische Figur zu werden wie Don Quichotte.
Man könnte die Formen seelischer Erkrankung durch eine Musterbildung beschreiben, die sich mehr an fiktionalen Spielregeln als an realen orientiert, beispielsweise die zwanghaft widerkehrenden Muster des Paranoikers aus der Präferenz für Muster von Schauer- oder Horrorgeschichten.
Oder wir gehen so weit zu sagen, dass sich der Normale bevorzugt trivialer und banaler Erzählmuster bedient, während der Kranke auf irreguläre, zugespitzte oder abgeschnittene Muster festgelegt ist.
Wir könnten eine Poetik beispielsweise der schizophrenen Erzähl- und Redemuster entwerfen.
Der schizophrene Glaube, die Worte seien magische Körper oder sakrale Behälter ihrer Bedeutung, so dass das Wort „Angst“ Angst hervorruft oder der Teufel aus dem Wort „Teufel“ hervorlugt.
Die konkrete Poesie behandelt die Wortzeichen und die abstrakte Malerei die geometrischen Linien und Figuren wie der mathematische Formalismus die Zahlzeichen.
Die Dichtung zehrt bis zu den sublimsten Gestaltungen eines Goethe oder Hölderlin aus dem Glauben an die Magie, die Wortzeichen könnten Beschwörungen gleich bewirken, was sie sagen.
Ein Ursprung der Geisteskrankheit: die Verwerfung des Mutterschoßes als leere Wildnis. Oder als Verwerfung des väterlichen Samens als ein Gift.
Der satirisch vergiftete mephistophelische Geist, der die Muster des Lebens höhnisch zerreißt.
Die Sprache feiert im Hohn auf den Schöpfungsakt oder den Geschlechtsakt aus dem Munde des Goetheschen Mephistopheles.
Verführung und Verwerfung sind in der Sprache des Mephistopheles ununterscheidbar.
Die vergiftete Quelle am Grunde der Geisteskrankheit. Der Paranoiker fahndet nach dem, der sie vergiftet hat.
Der Scharlatan und der Hochstapler bilden ein Modell der geistigen Erkrankung.
Da er sich selbst, das heißt der Echtheit und Würde seiner Herkunft, misstraut, verwirft der Geisteskranke die zu ihm gesprochenen Worte. Er hält sie für unecht und verfälscht wie seine eigene Existenz.
Die Fähigkeit des Hochstaplers zur perfekten Mimikry eines fremden Lebensmusters.
Als Schauspieler des eigenen Lebens Worte wie Falschgeld in Umlauf bringen.
Die Selbsttäuschung des Hochstaplers verführt ihn zu der Annahme, für Falschgeld echtes eintauschen zu können.
Das echte Versprechen bindet sein Wort an die Tat. Im Mund des Schwindlers sind Worte freilich nur Worte, doch verleiht er ihnen einen trügerischen Glanz, die Aura der Verführung, denn er setzt auf die Gutgläubigkeit seines Opfers.
Die Lüge des Schwindlers drückt nicht die Unwahrheit aus, sondern den blendenden Schein der Wahrheit. Der Schwindler ist kaltherzig und gerissen genug, seine Lüge nicht für bare Münze zu nehmen.
Der Geisteskranke verfällt dem Blendwerk seiner unechten Worte, er ist sowohl die Spinne, die das Netz webt, als auch die Mücke, die sich darin verfängt.
Man müsste die Rhetorik der schizophrenen Rede schreiben und all die Manierismen, Wortverdrehungen und Wortungetüme, ihre abrupten Interjektionen, Flüche und Verwünschungen, ihre barocken oder surrealen Neologismen, ihre bizarren ornamentalen Muster und herausgerissenen Fransen und verhedderten Rüschen wie die Tropen, Metonymien und Metaphern der klassischen Rhetorik klassifizieren und analysieren.
Der Kranke kann nicht zu seinem Wort stehen, weder ein Versprechen geben noch eines halten.
Der Banause ähnelt dem Kranken in einer invertierten Form der Bedeutungsblindheit. Für den einen sind die Worte höchster Dichtung nur Worte, gleich einem Kitzel im Ohr, für den anderen sind die banalsten Äußerungen des Nachbarn und zufälliger Passanten auf der Straße mehr als Worte: mit einer geheimen Botschaft behaftete Zeichen.
Hätten wir eine ausgearbeitete Rhetorik der schizophrenen Sprache auf empirischer Grundlage, das heißt der Analyse hinreichend vieler Aufzeichnungen von Monologen und Gesprächen schizophren Erkrankter, könnten wir ihre Tropen und Figuren, ihre typischen Redemuster, als Folie vor die dokumentierten Äußerungen, aber auch die späten Gedichte Hölderlins halten.
In dem Titelgedicht „Der Teppich“ aus dem Gedichtband „Der Teppich des Lebens“ umspielt Stefan George die Rede von den Mustern des Lebens und der Sprache gleichsam mit einem Muster zweiter Ordnung, der dramatischen Spielregel von Verstrickung und Lösung. Bei diesem Spiel handelt es sich um eine Variante des Weltspiels des Heraklit, eines kosmisch-göttlichen Spieles, dessen stumme dramatis persona von Heraklit im Bild eines im Sand des Meeresufers spielenden unschuldigen Kindes eingefangen wird.
Stefan George, Der Teppich
Hier schlingen menschen mit gewächsen tieren
Sich fremd zum bund umrahmt von seidner franze
Und blaue sicheln weisse sterne zieren
Und queren sie in dem erstarrten tanze.
Und kahle linien ziehn in reich-gestickten
Und teil um teil ist wirr und gegenwendig
Und keiner ahnt das rätsel der verstrickten ..
Da eines abends wird das werk lebendig.
Da regen schauernd sich die toten äste
Die wesen eng von strich und kreis umspannet
Und treten klar vor die geknüpften quäste
Die lösung bringend über die ihr sannet!
Sie ist nach willen nicht: ist nicht für jede
Gewohne stunde: ist kein schatz der gilde.
Sie wird den vielen nie und nie durch rede
Sie wird den seltnen selten im gebilde.
Wir sehen uns Menschen im Teppich oder den Mustern des Lebens verstrickt und verschlungen mit Pflanzen und Tieren, der Bund oder das Band, das alle miteinander eint, ist wie ein fremdes, unauflösliches Siegel oder ein Knebel und Knoten des Schicksals. Ein stummer Bann liegt auf dem ganzen Kosmos („blaue sicheln weisse sterne“). Auch wenn alles sich unter dem Rad des Schicksals zu bewegen scheint, handelt es sich um einen Zustand der Erstarrung („in dem erstarrten tanze“). Die Muster des Lebens gleichen hier den Mäandern orientalischer Teppiche oder den wuchernden Schlingen und Schlangen keltischer Friese: Sie laufen ewig „wirr und gegenwendig“ ineinander zurück.
„Und keiner ahnt das rätsel der verstrickten“ – das heißt sowohl keiner der auf dem Teppich eingewebten Figuren als auch keiner der den Teppich Betrachtenden, aber so können wir sagen, dies sind ja dieselben. Der Ausdruck „Rätsel“ gemahnt an die Sprüche der Sybille, aber auch an die enigmatischen Worte („wirr und gegenwendig“) des Heraklit.
„Da eines abends wird das werk lebendig.“ – In dem Ausdruck „werk“ fassen wir beides: die wörtliche Bedeutung des vor Augen liegenden Knüpfwerks des Teppichs, im übertragenen Sinne das Werk der kosmischen Schöpfung. Im Gegensatz zur biblischen Schöpfung, deren Werk durch das göttliche Wort (Himmel und Erde, Tag und Nacht, Pflanzen und Tiere) und den Anhauch des göttlichen Geistes (Mensch) lebendig wurde, ist das Werk des Lebensteppichs, dessen Schöpfer namenlos bleibt wie das Kind Heraklits, tot. Insofern erblicken wir im Gedicht Georges eine Umkehrung der biblischen Schöpfung, insofern der Schöpfer am Abend jedes Schöpfungstages mit Wohlgefallen die Vollendung seines Werks betrachtet („und er sah, dass es gut war“) und nach der Vollendung des gesamten Werkes ruht.
Im Teppich des Lebens bringt der Abend die Wende und das Werk wird lebendig. Diese Wende und diese Umkehr ist eigentlich ein Wunder, vergleichbar den Heilungswundern Christi oder dem christlichen Pfingstwunder der Ausgießung des Heiligen Geistes.
George gibt im übrigen nur eine Andeutung dessen, was die Lösung aus der Verstrickung bedeutet: Die toten Äste regen sich unter Schauern und die Wesen, also alle, nicht nur der Mensch, treten gleichsam mit leuchtenden Augen und erwachtem Lächeln aus dem Gespinst der aus der Erstarrung gelösten Muster hervor. Es mag der Hauch einer Andeutung in jenem Schauer liegen, um uns den Tanz dionysischer Feier ins Gedächtnis zu rufen.
Die letzte Strophe des Gedichts ist eigentlich eine Coda und exponiert die Exklusivität oder Erwähltheit dessen, der einem Seher gleich eine solche Lösung in einem Kunstgebilde zu erblicken vermag. Doch gibt es für diesen Blick und diese Weltsicht keine Theorie, keine Methode und keine Lehre können sie vermitteln („kein schatz der gilde“). Unvermutet, plötzlich, aus heiterem Himmel („nicht für jede Gewohne stunde“) sucht die Schau des Lebendigen den erwählten Dichter heim.
Wir kehren zur Ausgangsfrage zurück: Was gibt den toten Zeichen auf dem Papier Leben, was haucht den Mustern Leben ein? Nach Wittgenstein ist es schlicht das, was wir mit den Zeichen tun, wie wir sie verwenden, kombinieren, verknüpfen, und sind sie „wirr und gegenwendig“ entwirren und zu einer neuen übersichtlichen Ordnung gruppieren.
Wir können im Zustand dessen, der die Zeichen und Muster des Lebens für unlebendig, unecht und tot ansieht, ein Symptom geistiger Erkrankung diagnostizieren. Der Kranke erwartet die Rückkehr ins Leben durch ein Wunder, das den Zeichen gleichsam neues Leben einhaucht.
Doch wir könnten sagen, diese Erwartung sei selbst ein Symptom der Krankheit.
Nach Wittgenstein besteht der erste Schritt in der Therapie und Heilung der gleichsam natürlichen Krankheit des Geistes darin, die Auffassung der Zeichen als tote Buchstaben und das Hinstarren auf die Muster des Lebens wie auf tote Formen und gebannte Figuren der Verstrickung als Symptome dieser Krankheit zu durchschauen.
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