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Grenzen des Sinns

17.08.2018

Philosophische Anmerkungen zum Sinnbegriff

Betrachten wir den Unterschied folgender Sätze:

1. „Der Spiegel fällt von der Anrichte.“
2. „Die Anrichte fällt aus dem Spiegel.“

Beide Sätze sind im gewöhnlichen Sinne von grammatischer Korrektheit grammatisch richtig gebildet. Doch nur den ersten Satz akzeptieren wir sowohl als logisch sinnvoll als auch als empirisch gehaltvoll.

Wenn wir das Ereignis, dass der Spiegel von der Anrichte fällt, in dem ersten Satz korrekt beschreiben können, zeigt der Satz zugleich, dass er logisch sinnvoll gebildet ist.

Trotz seiner grammatischen Korrektheit, akzeptieren wir den zweiten Satz nicht. Warum?

Nun, weil wir in der irdischen Welt leben, in der wir leben. Und in dieser Welt unterliegen nur Gegenstände mit einem bestimmten Gewicht der Schwerkraft und nur solche Gegenstände fallen zu Boden, wenn keine Gegenkraft auf sie einwirkt. Spiegelbilder aber haben kein Gewicht, und sie haben kein Gewicht, weil sie keine dreidimensionalen Körper sind.

Könnte man in einer Welt, die anderen Bedingungen unterläge als unsere Welt, den zweiten Satz als sinnvoll akzeptieren? Nein, denn auch in einer Welt ohne Schwerkraft (was immer das heißen mag) kann der Satz nicht sinnvoll formuliert werden.

Wenn wir uns keine Bedingungen oder Kontexte ausdenken können, in denen wir einen Satz sinnvoll verwenden, akzeptieren wir ihn nicht als sinnvollen Satz.

Das heißt nicht, dass wir mit dem zweiten Satz und der Vorstellung einer Welt, in der Anrichten aus Spiegeln fallen, an die Grenzen unseres Vorstellungsvermögens geraten sind. Sondern an die Grenze des sinnvoll Sagbaren und das heißt des konsistent Denkbaren.

In einer Welt, in der die gespiegelten Dinge aus dem Spiegel fallen oder die gemalten Gegenstände aus dem Bild heraustreten könnten, hätten die Begriffe „Spiegel“ und „Bild“ die Grenzen des Sinns, die ihre konsistente und regelförmige Verwendung in unserer Sprache definieren, überschritten oder zur Unkenntlichkeit verwischt.

Weil der erste Satz etwas empirisch und logisch Sinnvolles aussagt, können wir ihm ein Muster oder Paradigma entnehmen, das wir nach der Regel bilden P (g) (A) und als logische Struktur betrachten. Dabei sind P (g) die Menge aller Eigenschaften, die wir Gegenständen unter dem Einfluss der Schwerkraft zuschreiben, und A die Menge aller Gegenstände, denen wir bestimmte Eigenschaften aus P (g) zuschreiben.

Zu P (g) zählen Prädikate wie fallen, gehen, laufen, stehen, verharren, widerstreben, fliegen, tauchen oder untergehen. Zur Menge A alle Körper, denen wir Ereignishorizonte in der Raum-Zeit zuweisen können, wie Sterne, Steine, Pflanzen, Tiere oder Menschen.

Drückt P (g) (A) eine allgemeine Tatsache über die Welt aus, in der wir leben? In gewissem Sinne, ja. Doch wir können genauso gut umgekehrt sagen: Was wir über Ereignisse in unserer von der Schwerkraft geprägten Welt aussagen können, drücken wir in dieser Form der Aussage angemessen aus, und allem, was wir nicht in dieser Form als sinnvollen Satz ausdrücken können, sprechen wir die Existenz ab, wie das, was der zweite Satz als Pseudo-Ereignis ausdrückt, dass die Anrichte aus dem Spiegel falle.

Betrachten wir einen Strich beliebiger Länge, gleichgültig ob mit der PC-Taste erzeugt oder mit dem Bleistift auf das Papier gezeichnet oder mit dem Messer auf Holz eingekratzt. Da jeder Strich zwei Enden hat, verfügen wir über die Zahl 2, und da wir beliebig viele Striche machen können, über die Menge der geraden Zahlen. Wenn über die Menge der geraden Zahlen, dann auch über die Menge der ungeraden Zahlen, wenn wir von jeder geraden Zahl 1 subtrahieren oder addieren.

Das Papier könnte zu schweben beginnen, weil die Schwerkraft plötzlich aussetzt, das Papier könnte starr werden oder wellenförmig. Wir verfügten weiterhin über unsere Zahlen, egal ob unser Strich schwebt, starr ist oder keine gerade Linie mehr, sondern ein Teil einer Welle.

Ist das oder Ähnliches gemeint, wenn wir von der Idealität der Zahl sprechen?

Ein rechtwinkliges Dreieck kann mit dem Papier, auf dem es konstruiert worden ist, zu schweben beginnen, doch wenn das Papier sich wellenförmig deformiert oder das Dreieck unter dem Einfluss sich jäh verzerrender Raum-Zeit-Linien gestaucht oder deformiert wird, sind wir mit den Lehrsätzen der euklidischen Geometrie am Ende.

Sollen wir deshalb sagen, Zahlen sind idealere Objekte als geometrische Figuren oder Arithmetik verkörpert das logische Ideal besser als die Geometrie?

Wir können unter erdnahen Bedingungen nicht annehmen, das Bild hänge an der Wand, ohne dort befestigt zu sein. Wir lassen einen Zweifel an dieser Tatsache offenkundig nicht zu. Es handelt sich demnach nicht eigentlich um eine Tatsache, denn Tatsachen kennzeichnen wir dadurch, dass wir ihr Gegenteil für denkbar oder vorstellbar halten. Aber wir halten das Gegenteil der Tatsache, dass das Bild an der Wand befestigt ist, im Rahmen der Struktur unserer Erfahrung für nicht vorstellbar.

Feststellungen von Tatsachen, deren Gegenteil wir uns nicht oder nur unter der Verletzung der Bedingung unserer Erfahrung (wie der Schwerkraft) vorstellen können, berühren, können wir sagen, die Grenze des Sinns, dessen, was wir sinnvoll sagen und denken können.

Würde unser Freund Peter plötzlich wie durch Zauberhand auf dem Sessel neben uns sitzen, sich angeregt mit uns unterhalten und ebenso unvermutet wieder sich in Luft auflösen und verschwinden, würden wir zögern, ihn bei unserer nächsten Verabredung auf dieses ungewöhnliche Erlebnis anzusprechen. Würden wir Peter auf sein wundersames Auftauchen und Verschwinden wie auf ein sich von selbst verstehendes Vorkommnis ansprechen, müssten wir befürchten, für verrückt gehalten zu werden.

In der Traumerzählung und im Märchen verwandeln sich Personen und Dinge in andere Personen und Dinge oder sie verschwinden und tauchen überraschenderweise an anderer Stelle wieder auf. Der Frosch verwandelt sich durch einen Kuss eines unerschrockenen Mädchens in einen Prinzen und das unscheinbare Bauernmädchen in eine Prinzessin. Wir wüssten nicht einmal zu sagen, ob das Mädchen im selben Sinne dieselbe Person ist wie die Prinzessin, in die sie sich verwandelt hat, in dem die Schauspielerin, die in Shakespeares Hamlet die Figur der Ophelia spielt, dieselbe Person ist.

Daraus ersehen wir, dass die Kontinuität unserer Erfahrung und insbesondere die Konstanz und Identität der Personen und Dinge unserer alltäglichen Rede Grenzen des Sinns setzen, die wir nur in der außeralltäglichen Rede der Traumerzählung, des Märchens oder der Legende ohne Strafe der Unverständlichkeit verletzen können.

Wir erkennen auch, dass die Dichtung und jede Art fiktionaler Darstellung wie die Kunst anderen Sinnkriterien unterliegt als unsere alltägliche Rede.

Wenn es geschähe, dass ich mit einer Märchenprinzessin ausginge, um ein paar Schoppen Burgunder zu trinken, und nach Begleichung der Rechnung für eine Flasche Wein von 20 Euro sich hernach in meinem Portemonnaie nicht 20 Euro weniger, sondern 20 Euro mehr fänden, wäre ich gewiss nicht traurig gestimmt, wüsste aber, dass es dabei nicht mit rechten Dinge zugehen kann. Denn hätte ich 100 Euro mitgenommen, ginge ich gemäß der Wunder- oder Märchen-Rechnung 100–20 = 120 statt mit 80 Euro mit 120 Euro nach Hause.

In einer Welt, in der eine Zahl minus einer Zahl eine Summe ergibt, die größer ist als die ursprüngliche Zahl, können wir das Gleichheitszeichen nicht mehr sinnvoll verwenden. Das Gleichheitszeichen ist aber das Zeichen für die Identität, denn 100–20 = 80 ist nur ein anderer Ausdruck für 80 = 80 oder a = a.

Das Gleichheitszeichen zeigt uns aber auch an, dass wir gedanklich richtig gerechnet oder den korrekten Schluss gezogen haben, wenn wir von den Prämissen, dass alles, was F ist auch G ist, und einiges, was G ist, auch H ist, schließen, dass dies dasselbe ist wie zu sagen: Einiges, was F ist, ist auch H.

Wenn Peter vor unseren Augen plötzlich unsichtbar würde und nach kurzer Zeit in einiger Entfernung wieder aus dem Nichts auftauchte, wüssten wir nicht, ob es sich um dieselbe Person handelt. Dies unterstellen wir nur, wenn wir prinzipiell in der Lage sind, eine kontinuierliche oder ununterbrochene Ereignislinie vom ersten Ort seines Erscheinens zum zweiten Ort seines Wiederauftauchens zu ziehen, gleichgültig in welche Art von Koordinatensystem wir diese Linie eintragen, in ein euklidisches oder ein nichteuklidisches.

Demnach enthalten auch Sätze wie „Ich habe Peter gestern wiedergetroffen“ oder „Peter schien mir charakterlich sehr verändert“ die logische Grenze sinnvoller Rede, insofern sie die Identität des mit dem Eigennamen Bezeichneten unterstellen.

Wenn wir nicht wüssten, dass Regentropfen, Schnee, Eisbrocken und Wasserdampf verschiedene Erscheinungsformen desselben Stoffes, nämlich H2O, sind, und wenn wir die Übergänge von Wasser unter bestimmten Temperaturbedingungen nicht für Übergänge desselben Stoffes in jene spezifischen Aggregatzustände hielten, hätte das Wasser in der Vase, das über Nacht gefroren ist, für uns denselben ontologischen Status wie der Frosch des Märchens, der sich durch den Kuss des Mädchens in einen Prinzen verwandelt hat.

Lebten wir zwar der Sprache mächtig doch wie gewisse primitive Organismen in einer lichtlosen, nur durch den Tastsinn erfassbaren Welt, gehörten zu unseren Grundannahmen Begriffe für tastbare Flächen, deren Oberflächenqualität (wie rauh, pelzig, glatt, kalt, warm) und deren Ränder und Anordnung (wie Kugel, Quader, Pyramide, Zylinder) uns vielleicht genügend darüber belehrten, um welche Klasse von Objekten es sich handelt, aber nicht genügend darüber, ob es sich um denselben Stein oder dieselbe Pflanze oder dasselbe Tier handelt.

In dieser Welt könnten wir zwar Sätze bilden wie „Alles, was pelzig ist, ist warm“ oder „Alles, was quaderförmig und glatt ist, ist kalt“, aber nicht Sätze wie „Was ich jetzt als pelzig fühle, ist das Fell desselben Tiers, dessen Wärme ich gestern gefühlt habe“ oder „Gib mir den Stein zurück, den ich dir gestern ausgeliehen habe.“

Als reine Tastwesen könnten wir zwar allgemeine Begriffe bilden, aber keine individuellen Eigennamen wie Peter verwenden. Könnten wir keine Eigennamen verwenden, könnten wir nicht von derselben Person sprechen.

Wir können von Peter als derselben Person, mit der wir uns vor einer Woche verabredet und heute im Park getroffen haben, nur sprechen, wenn wir von uns selbst als derselben Person sprechen können, die sich vor einer Woche mit Peter verabredet und ihn heute im Park getroffen hat.

 

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