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Einfache Sprachhandlungen

10.08.2018

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

„Vorsicht, Glatteis!“ – Das kann die Warnung des freundlichen Polizisten an den Radfahrer sein, und wir unterstellen, dass der warnende Ausruf eine behauptende Aussage impliziert, nämlich: Dort gibt es Glatteis.

Es kann aber auch die Warnung eines wohlmeinenden Zuhörers an seinen Freund sein, sich vor der Fangfrage seines Gesprächspartners zu hüten. In diesem Falle sitzt man im wohlgeheizten Zimmer und von Glatteis kann keine Rede sein.

Aufforderungen setzen wahre Überzeugungen voraus, wenn sie nicht metaphorisch gebraucht werden.

Die Piktogramme für Mann und Frau auf nebeneinanderliegenden Türen bedeuten nicht, dass sich in den dahinter befindlichen Räumen jeweils nur Männer oder Frauen aufhalten, sondern fordern dazu auf, dass jeweils nur Männer oder Frauen eintreten sollen.

Diese Art Piktogramme sind keine Etiketten, die für behauptende Aussagen stehen, wie das Bild eines Apfels auf einer verschlossenen Kiste mit Äpfeln oder das Kreuz auf einem Sarg, sondern stehen für Aufforderungen, wie sich zu verhalten sei.

Das Verkehrsschild, das einen über die Böschung in den Fluss stürzenden Pkw zeigt, ist nicht deskriptiv, sondern fordert den Autofahrer dazu auf, wegen des ungeschützten Ufers vorsichtig zu fahren.

Piktogramme, Zeichen, Bilder können einfache Sprachhandlungen wie Aufforderungen, Anweisungen oder Warnungen vertreten.

Aufforderungen dieser Art implizieren keine wahren oder falschen Überzeugungen.

Dies gilt auch für Gesten wie obszöne Gesten, die rohe Zeitgenossen begleitet von Flüchen oder Schimpfkanonaden benutzen, um eine äußerste Weise von Abscheu oder Verachtung auszudrücken.

Unter den Gesten nimmt in unseren Breiten das Handgeben oder Händeschütteln eine herausgehobene Stellung ein. Wir können dadurch Nähe bekunden, ohne intim zu werden, und eine entwaffnende Umgänglichkeit, ohne uns gemein zu machen.

Wir sind höflich, wenn wir grüßen, verbindlich, wenn wir die Hand reichen. Auch Küsse können gleichsam ihren intimen Hauch in der reinen Konvention einer Begrüßungs- oder Abschiedsgeste verlieren.

Wir können den Paranoiker nicht durch vernünftige Hinweise auf die Harmlosigkeit seiner Nachbarn von seinem Misstrauen kurieren. Aber wir können es lindern, wenn wir mit ihm üben, den verdächtigen Nachbarn gleichsam schauspielernd oder stereotyp zu grüßen.

Einer hochgestellten Persönlichkeit strecken wir nicht die Hand entgegen, zum Zeichen, dass wir ihr das Feld überlassen.

Wir können unseren Neid verbergen oder sogar verwinden, wenn wir dem Gewinner gratulierend die Hand geben, wir können unsere Teilnahmslosigkeit und innere Kälte verbergen oder sogar auftauen, indem wir dem Trauernden kondolierend die Hand reichen.

Einfache, gestisch untermauerte Sprachhandlungen dieser Art sind Einübungen in ein sittliches Verhalten.

Dazu gehört die einfache Sprachhandlung der Entschuldigung, die wir nicht nur anwenden, wenn wir dem anderen absichtlich, sondern auch wie beim Stolpern oder Auf-die-Füße-Treten unabsichtlich ins Gehege gekommen sind.

„Peter ist ein Student.“ – Das kann Teil eines Berichts einer Person sein, der wir unterstellen, sie wisse, wovon sie rede. Es kann aber auch die Anweisung eines Theaterregisseurs an den Schauspieler namens Peter sein, die Rolle des Studenten zu spielen. In diesem Falle ist es sinnlos zu unterstellen, der Regisseur wisse, dass Peter Student ist.

Freilich könnte Peter, der im Stück die Rolle des Studenten spielt, in Wahrheit selbst Student sein. Ihm würde die Rolle vielleicht aufgrund der Tatsache zugewiesen, dass er Student ist.

Es könnte auch heißen: „Hab Nachsicht mit dem Burschen, er redet ins Blaue hinein, den Ernst des Lebens hat er noch nicht bei den Hörnern gepackt!“

Wenn es um ein berufliches Engagement geht, könnte der Satz heißen: „Wir können ihn nur unter eingeschränkten Bedingungen anstellen.“

Der Satz könnte auch eine Schlussfolgerung aus den Prämissen sein, dass jeder ein Student ist, der sich ordnungsgemäß immatrikuliert hat und dass Peter sich kürzlich an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen eingeschrieben hat. Doch damit ist nicht ausgemacht, dass Peter, der uns gestern erzählte, er habe sich in Tübingen immatrikuliert, tatsächlich dort studiert. Er könnte nur vorgeben, Student zu sein, während sich in Wahrheit sein Namensvetter kürzlich an der Universität eingeschrieben hat.

Die Frage „Ist Peter ein Student?“ impliziert die Ungewissheit des Fragenden, ob Peter ein Student oder kein Student ist, aber nicht die Überzeugung, dass er entweder studiert oder nicht studiert. Denn die wahre Überzeugung, dass Peter studiert oder nicht studiert, ist eine Tautologie, denn für alle a gilt: S (a) = p oder nicht S (a) = nicht p.

„Ist Peter derjenige, der …?“, und es folgt eine Beschreibung, die wir als Konjunktion beliebiger Aussagen auffassen können: „der in Tübingen studiert, gleich neben der Burse wohnt, eine Freundin in Stuttgart hat, dann und dann da und dort geboren wurde …“ Diese Frage bezieht sich nicht auf das, was Peter ist („Student, braunhaarig, schüchtern“) oder tut beziehungsweise zu tun pflegt („Fahrrad fahren, Tennis spielen“), sondern wer Peter ist.

Wenn wir nach der Identität dessen fragen, was wir mit einem Namen bezeichnen („Peter“, „Koblenz“), pflegen wir eine treffende Beschreibung anzugeben wie: „Peter ist der Student aus Tübingen, den ich dir kürzlich vorgestellt habe.“ Oder: „Koblenz ist die Stadt am Zusammenfluss von Rhein und Mosel.“

Für unseren alltäglichen Umgang genügt dieses Vorgehen, auch wenn wir keine hinreichende Gewissheit darüber haben, dass der uns kürzlich als Student vorgestellte Peter wirklich ein Student ist.

Wenn dein Freund Hans dir verspricht, dich in zwei Wochen im Park zu treffen, erfüllt er sein Versprechen, wenn er am betreffenden Tag sich zur verabredeten Stunde im Park eingefunden hat.

Aber auch darüber haben wir keine letzte Gewissheit, denn Hans könnte sein Versprechen vergessen haben und zufällig zur verabredeten Zeit im Park auf dich gestoßen sein, wobei er geschickt den Unschuldigen mimt, wenn er nach einer kaum merkbaren Verblüffung deine ihm freudig gereichte Hand ergreift.

Wir wenden einfache Sprachhandlungen auch unter den Bedingungen von Ungewissheit und der Zweideutigkeit des Kontextes an.

Wir honorieren das Einhalten eines Versprechens, weil es einen Aufwand gleichsam gegen den Strom der Zeit (das Vergessen, Hindernisse und Unbequemlichkeit) dessen bezeugt, der es erfüllt.

Weil wir die Erfüllung eines Versprechens nicht voraussehen können, honorieren wir sie, denn könnten wir es, wäre das Versprechen ohne Wert.

Wir pflegen den Charakter eines Menschen daran zu messen, ob er seine Versprechen erfüllt. Der Charakter ist demnach nichts Innerliches und Verborgenes, sondern er zeigt sich und liegt offen zutage.

Aus der Tatsache, dass einer laufend zu spät kommt oder Verabredungen nicht einhält, schließen wir auf eine Charakterschwäche.

Verabredungen einzuhalten gehört zum guten Ton und ist der Kitt sozialer Beziehungen, sei es einer geschäftlichen, sei es einer freundschaftlichen.

Versprechen wiederholt nicht einzuhalten sanktionieren wir, im Härtefall beispielsweise mit dem Abbruch der Freundschaft.

Gewisse einfache Sprachhandlungen wie das Grüßen zu verweigern kann eine Geringschätzung zum Ausdruck bringen, die ihrerseits durch entsprechende Reaktionen der Betroffenen erwidert oder geahndet zu werden pflegt. Die Verweigerung erwarteter Sprachhandlungen ruft oft eine Spirale unfreundlicher Gegenmaßnahmen hervor, die in der sozialen Isolierung und legitimen Ausgrenzung des Verweigerers gipfeln kann.

Den Nachbarn zu grüßen ist kein Ausdruck des seelischen Zustands oder der Befindlichkeit des Grüßenden, sondern die Erfüllung einer sozialen Erwartung. Denn auch von jemandem, der schlechter Laune, verdrießlich, schwermütig oder paranoid gestimmt ist, wird im Normalfall erwartet, dass er den Nachbarn grüßt.

Einfache Sprachhandlungen wie das Grüßen drücken demnach keinen seelischen Zustand oder eine innere Disposition aus, sondern sind konventionelle und normierte Formen des Sprachverhaltens. Der Grüßende muss keine freundlichen oder sympathetischen Gefühle für den Nachbarn empfinden, um ihn zu grüßen oder grüßen zu können.

Wer seinen Bekannten zum ersten Mal jemanden als seinen Freund oder seine Freundin vorstellt, beschreibt damit keine Eigenschaft des Gemeinten, sondern deklariert oder dekretiert einen neuen sozialen Tatbestand, nämlich, dass diese Person nunmehr als Freund oder Freundin dessen zu gelten hat, der sie öffentlich und gleichsam vor Zeugen so bezeichnet.

Derjenige, der als Freund bezeichnet wird, erwirbt damit unausgesprochen Ansprüche, als Freund wahrgenommen und behandelt zu werden, und ihm werden umgekehrt gewisse Verbindlichkeiten und Verpflichtungen zugemutet, die sich beispielsweise in der Erwartung ausdrücken, Verabredungen einzuhalten und gegebene Versprechen zu erfüllen.

Freund zu sein ist keine Eigenschaft wie blond, sportlich oder von heiterem Gemüt zu sein. Jemand kann sich die Haare dunkel tönen lassen, aufgrund einer Behinderung seine sportliche Betätigung aufgeben müssen oder durch einen tragischen Verlust oder eine psychiatrische Erkrankung schwermütig werden, ohne seinen Status als Freund einzubüßen.

Dagegen verliert er diesen Status, wenn ihn der andere nicht mehr als seinen Freund bezeichnet.

Doch sagen wir nicht, Freundschaft setze gewisse mentalen Zustände oder charakterlichen Eigenschaften voraus, wie Zuverlässigkeit, Hilfsbereitschaft und Treue? Indes, Zuverlässigkeit, Hilfsbereitschaft und Treue sind keine mentalen Zustände, sondern abkürzende Bezeichnungen für bestimmte Erfüllungsbedingungen des Verhaltens, das wir freundschaftlich nennen. Wenn jemand Verabredungen und Zusagen einhält, erweist er sich als zuverlässig, wenn jemand dem Freund in schwierigen Situationen oder auf vorgebrachte Bitten hin zur Seite steht, erweist er sich als hilfsbereit, wenn er gegebene Versprechen trotz widriger Umstände einhält, erweist er sich als treu.

Wir müssen demnach keine tiefschürende Psychologie treiben, um hinter den Sinn von einfachen Sprachhandlungen wie das Grüßen zu kommen oder die Gründe ausfindig zu machen, weshalb wir jemanden unseren Freund nennen oder ihm diesen Ehrentitel entziehen.

Das Mitglied eines Vereins verfügt nicht über bestimmte natürliche Eigenschaften, aufgrund deren es der Vereinsmitgliedschaft gewürdigt wird. Jemand wird Mitglied eines Schachclubs, weil er einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt hat, der nach dem Nachweis seiner vielleicht ausgezeichneten Fähigkeit, Schach zu spielen, mit der Überreichung eines Mitgliedsausweises angenommen worden ist.

Der Vorsitzende stellt den Neuankömmling in einer kleinen feierlichen Runde als neues Vereinsmitglied vor. Aufgrund dieser einfachen Sprachhandlung einer Deklaration oder Erklärung darf sich der Neue zur Schar der Alteingesessenen zählen. Im Unterschied zur Freundschaft sind die Ansprüche und Verbindlichkeiten der Vereinsmitglieder ausgesprochen oder explizit, das heißt formal in Regeln und Statuten festgeschrieben oder institutionalisiert.

Die Bezeichnungen „lento“, „piano“ oder „morendo“ sind keine Beschreibungen der Klänge und Akkordfolgen einer Partitur, sondern gehören als Spielanleitungen zu den einfachen Sprachhandlungen der Aufforderung, nämlich in welchem Tempo, mit welcher Lautstärke und welchem Ausdruckswert der Pianist die Tasten anzuschlagen oder der Geiger den Bogen zu führen hat.

Doch was für den einen sich wie eine langsame Gangart, ein leiser Klang, eine allmählich verklingende oder ersterbende Akkordfolge ausnimmt, scheint dem empfindlicheren Ohr des anderen nur schleppend, dumpf oder hohl und ausdruckslos zu klingen. Wir finden bei der ästhetischen Anwendung von Sprachhandlungen kein letztes und objektives Kriterium der Beurteilung und können beispielsweise nur auf den vagen Begriff der Atmosphäre oder des Geistes des jeweiligen Musikstücks oder des Gesamtwerks eines Komponisten zurückgreifen.

Auch das Schweigen gehört zu den einfachen Sprachhandlungen. Sein Sinn kann trivial sein wie das verlegene oder peinliche Schweigen dessen, der vor den berechtigen Vorwürfen des Freundes verstummt, da er ihn der Untreue zeiht und den Freundschaftsbund kündigt. Sein Sinn kann erhaben sein wie das Schweigen Jesu vor Pilatus.

Der Mann, der überraschend früh von einer Geschäftsreise heimgekehrt seine Freundin in flagranti mit einem anderen ertappt und sich für den überaus herzlichen Empfang bedankt, meint naturgemäß das Gegenteil, gebraucht die konventionelle Sprachhandlung der Begrüßung also ironisch.

Die Schülerin Wittgensteins Elizabeth Anscombe, der wir die englische Übersetzung der Philosophischen Untersuchungen verdanken, pflegte als Dozentin vor dem Kreis ihrer Zuhörer zu stricken, während sie ihre Vorlesung abhielt. Man könnte diese Marotte auch als ironische Geste lesen, wenn wir uns bemüßigt fühlen, sie im Licht der im Lehnstuhl hockenden Großmutter zu sehen, die strickend den Kindern Märchen erzählt – war doch, was Anscombe zu erzählen hatte, alles andere als märchenhaft, sondern zeugte von einem geradezu mannhaft ernüchterten Verstand (Wittgenstein nannte Elizabeth Anscombe scherzhaft „the old man“).

Von der Rhetorik des Cicero und Quintilian und der ausdrucksstarken Mimik und Gestik der romanischen Völker gewinnen wir Einblicke in die Wirksamkeit von gestischen Sprachhandlungen, die Worte begleiten, aber auch ohne Worte auskommen können.

Viele wortlose, aber beredte Gesten verstehen wir intuitiv, wenn wir ihren Sinn umschreiben, so sprechen wir von einer wegwerfenden Handbewegung, einer hochfahrenden oder ausladenden, wir sehen Wut und Entschlossenheit in der geballten Faust, visionären Fernblick in der weit ausgestreckten Hand, Zweifel und Verzagtheit in der verkrampften, Hochmut oder Verwegenheit in der eitlen oder herrischen Manier, die Haare aus der Stirn über den Kopf zu streichen.

Müssen wir nicht die Mimik, das feine ironische Lächeln, den hasserfüllt verzerrten Mund, die fragend gerunzelte Stirn, die ein imaginäres Gegenüber um Hilfe anflehenden oder zur Zeugenschaft anrufenden Augen, zu den mimischen Sprachhandlungen zählen, die der Rede Nachdruck und ein Relief unausgesprochener Gefühlsregungen verleihen?

Wenn der sterbende Sokrates einem seiner treuen Schüler auftrug, nach seinem Tod dem Gott der Heilkunde Asklepios noch ein schuldiges Opfer zu entrichten, spricht aus der Tatsache, dass er dem Gott nicht für die Heilung eines Gebrechens, sondern für die Heilung von der Krankheit namens Leben zu danken beabsichtigte, nicht eine gewagte, eine bittere Form der Ironie?

Fragen sind oft eine Form der Aufforderung oder Bitte. Die Frage nach der Uhrzeit ist die Aufforderung, sie anzugeben, die Frage nach dem Weg zu einem Ziel, die Bitte, ihn zu zeigen.

Rhetorische Fragen, die nicht beantwortet, sondern gewürdigt werden wollen, können Mittel des Ausdrucks der Gefühle oder der Selbststilisierung des Fragenden sein („Sind meine Rosen nicht prächtig aufgeblüht?“) oder Appelle an die Aufrichtigkeit oder Seriosität des Angesprochenen („Meinst du das im Ernst?“ – „Bist du noch bei Trost?“).

Metaphern verwenden wir, um einen komplexen Sachverhalt in einem einprägsamen Bild zu verdichten. Statt zu sagen: „Eine abfällige Äußerung dieser frechen Göre wird doch wohl dein Selbstgefühl nicht schmälern!“, sagen wir: „Das sollte dir keinen Zacken aus der Krone brechen!“

Wir können Metaphern auch verwenden, um einer ironischen Bemerkung Nachdruck zu verleihen. So sagt einer angesichts des blamablen Auftrittes eines aufgeblasenen Künstler-Gurus: „Er hat heute seinen Heiligenschein zu Hause liegen lassen.“

Metaphern sind keine eingleisige Übertragung eines Begriffs aus einem bestimmten Anwendungsbereich, oft dem der Natur, auf Eigenschaften und Zustände des Menschen. So verstehen wir die schon verblasste Metapher vom Gedankenblitz, wenn wir nicht nur das Plötzliche eines Einfalls, sondern auch das jähe Hellwerden über einer düsteren Landschaft, ja bisweilen sogar die Gefahr des Einschlags hinzudenken.

Metaphern können der Keim zur Entfaltung in Gleichnissen, Fabeln oder allegorischen Erzählungen sein, wie die Bilder Homers, in denen er die Ansammlung oder die ungeordnete Flucht des Heers der Griechen und Trojaner mit einem Vogelschwarm vergleicht, der sich auf dem Acker sammelt oder aufgeschreckt auseinanderflattert. Oder wenn in den Gleichnisreden Jesu das Wort Gottes oder das Himmelreich mit dem Saatkorn verglichen wird, das auf kargen Grund gefallen nicht aufgeht, unter Disteln verdorrt, in fruchtbarer Erde aber vielfache Frucht hervorbringt.

Wittgenstein beschrieb die Wirkung der Gespräche mit dem italienischen Ökonomen Piero Sraffa, dessen geistreiche Einfälle ihn von der allgemeinen Gültigkeit der Ansicht des Tractatus Logico-Philosophicus, alle Sätze seien Bilder von Sachverhalten, kurierte, mit den Worten, er fühle sich wie ein Baum, dessen Zweige arg zurückgestutzt worden sind.

Sraffa erschütterte Wittgensteins Auffassung, Sätze seien deswegen Bilder von Sachverhalten, weil sie mit ihnen dieselbe logische Form teilen, indem er vor ihm eine typisch neapolitanische Geste der Geringschätzung vollführte. Er streifte mit den Fingerkuppen der rechten Hand unter dem Kinn entlang und fragte den Philosophen: „Und welche logische Form hat DAS?“

Die einfache gestische Sprachhandlung Sraffas ist dort, wo man ihre Sprache spricht, als Geste der Geringschätzung und Verachtung unmissverständlich. Und doch würden wir sie missverstehen, wenn wir dahinter eine Beschreibung einer seelischen oder anderen Tatsächlichkeit suchen wollten, deren Abbild sie wäre. Sie ähnelt darin jenen verächtlichen Gesten, die oft mit Flüchen oder einer Kaskade von unflätigen Schimpfwörtern einhergehen.

Das gilt auch für die einfachen Sprachhandlungen und Gesten, die gleichsam auf dem entgegengesetzten Pol menschlichen Erlebens zu Hause sind. „Heilig, dreimal heilig!“ ist keine Beschreibung oder Bezeichnung einer übernatürlichen Tatsächlichkeit, sondern die rituelle Aufforderung, in Andacht still vor dem Altar zu verharren oder demütig die Knie zu beugen.

Das Anzünden einer Kerze in der Nische vor dem Bild des Heiligen oder auf dem Grab ist eine einfache gestische Sprachhandlung, mit der wir unsere Verehrung des Dargestellten oder das Totengedenken zum Ausdruck bringen.

Frömmigkeit besteht nicht in metaphysischen Spekulationen, sondern in der Ausführung einfacher sprachlicher und gestischer Handlungen, die sich eines zeremoniellen Rahmens und eines rituellen Vokabulars bedienen.

Bei metaphysischen Spekulationen könnte man unterstellen, sie seien Ausdruck wahrer oder falscher Überzeugungen. Doch eine Kerze zu entzünden oder ein Gebet zu sprechen ist nicht Ausdruck einer wahren oder falschen Überzeugung.

Die Warnung des Polizisten „Vorsicht, Glatteis!“ verliert nicht ihren Sinn, wenn sie erfolglos blieb, weil sie nicht beherzigt oder überhört wurde und der Fahrradfahrer ausrutschte und sich ein Bein brach.

Der Gruß wird nicht in irgendeinem plausiblen Sinne falsifiziert, wenn der sture Nachbar ihn nicht erwidert.

Das Gebet wird nicht sinnlos, wenn es nicht erhört wird.

Das Versprechen, dem Freund am ausbedungenen Tag das Buch zurückzugeben, wird nicht ungültig, wenn seine Erfüllung wegen eines fatalen Zwischenfalls durchkreuzt wird, das Buch beispielsweise gestohlen wurde.

Einfache Sprachhandlungen büßen ihren Sinn nicht ein, wenn der mit ihnen beabsichtigte Zweck nicht erreicht wird.

 

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