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Sichtschneisen V

26.07.2018

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Ist die Welt wie ein Nebel, von dem nichts bleibt, wenn er sich aufgelöst hat?

Ähneln unsere Weltdeutungen nicht jenen phantastischen Figuren, die man in den Wolken erblicken kann? Lösen sie sich nicht wie diese auf, wenn der Wind die Wolken zerstreut, wenn das klare Licht durchdringt?

Der eine sieht ein Gesicht in Wolken, im Nebel, im Tapetenmuster, das ihn höhnisch angrinst, der andere ein holdes Lächeln.

Derselbe sieht heute darin ein Gesicht, das ihn höhnisch angrinst, und morgen ein holdes Lächeln.

Ist es eine letzte, sublime Form der Dummheit, das Rätsel der Existenz der Welt und unseres eigenen Daseins in einer Phantasmagorie, einer Formel, einer Idee bannen und auflösen zu wollen?

Besser das sacrificium intellectus als magische Begriffe wie die Gene, das Gehirn, das Unbewusste zu Markte zu tragen.

Sind alle Gelüste gestillt, fangen sie vor Langeweile Fliegen.

Der Erlöste hat sich fallen lassen, was immer geschieht, es versinkt nach einem kleinen Wellengang spurlos in ihm wie der Stein im Wasser.

Glücklich, wer aus großer Höhe stürzte und dabei vergäße, dass er tödlich aufprallen wird.

So stürzen wir ja und denken insgeheim immer an den Aufprall.

„Peter kam gestern wider mein Erwarten nicht zu unserer Verabredung in den Park.“ Das ist ein sinnvoller Satz. Er zeigt zugleich, dass wir Sätze nicht cum grano salis als Abbilder der Welt verstehen können.

Der Satz, alle Aussagen seien Bilder der Welt, ist kein Bild von irgendetwas und daher sinnlos, obwohl er gerade noch andeutet, was er meint.

Er fühlte sich von seinem Nachbarn verfolgt. Als er wegzog, mischte sich in seine Erleichterung ein Bedauern.

Einer versucht ein Leben lang, die Kombination des Zahlenschlosses eines Tresors zu knacken, der ihm einen großen Schatz zu bergen scheint. Am Ende seines Lebens sinkt er erschöpft nieder, da geht das Schloss von allein auf. Doch er ist nicht mehr im Stande, sich aufzuraffen, um sehen, was der Tresor enthält.

Der verzweifelte Skeptiker hüllt sich in Schweigen, nachdem er vor der Tatsache resigniert hat, dass alle Aussagen über die Welt sich gegenseitig aufheben. Der geheilte Skeptiker sagt, was alle sagen, so als hätte er nichts gesagt oder geschwiegen.

In der Meerestiefe, wo der Mystiker nach der Perle taucht, ist niemand, dem er sie schenken könnte.

Erkennen wir die Bedeutung einer Äußerung aus ihrer illokutionären Kraft und der Absicht, die der Sprecher damit verfolgt? Einer ruft: „Vorsicht, Stufe!“ Doch er warnt den Angerufenen nur scheinbar, in Wahrheit lenkt er seine Aufmerksamkeit ab, um ihm die Geldbörse aus der Tasche zu ziehen.

Wie Kierkegaard schrieb: Der Theaterdirektor tritt an die Rampe und schreit: „Das Theater brennt!“ Alle klatschen, denn sie meinen, das gehöre zum Stück.

Was Kierkegaard damit zu sagen beabsichtigte: Man liest seine Sachen, die so geistreich formuliert, so fabulös kostümiert daherkommen, zum ästhetischen Vergnügen.

Doch wohin sich retten im Weltenbrand?

Ein von sich eingenommener Großschriftsteller pflegte zu sagen, wenn er einen Gast an der Tür empfing: „Vorsicht, Stufe!“ Doch da war keine Stufe.

Meine alte Griechisch-Dozentin schlug das Suhrkamp-Bändchen mit Gedichten eines nicht unbekannten zeitgenössischen Lyrikers auf, las eine kurze Weile und gab es mir dann sanft lächelnd, wie es ihre Art war, mit den Worten zurück: „Das ist also moderne Lyrik!“ Sie hatte das Inhaltsverzeichnis gelesen, das die Anfangszeilen der im Band enthaltenen Gedichte enthielt, und fasste diese unzusammenhängende Abfolge von Zeilen als ein Gedicht auf.

Wittgenstein soll wieder einmal ausgerastet sein, als er einen jungen Schnösel in einem Kolleg in Cambridge anfuhr, er solle sofort damit aufhören, Kant im Original zu zitieren. Er meinte hernach in einem Gespräch mit Drury, er hätte das bleiben lassen, wenn er sich ein wenig zusammengerissen hätte. Später stellte er allerdings in Frage, ob er wirklich in diesem Moment seinen Impuls hätte unterdrücken können.

Den arroganten Schnösel zurechtzuweisen war die Absicht des Sprechakts. Die Absicht erkennen wir nicht am Wortlaut der Verwarnung, in dem der Sprecher sie kundtut, denn Wittgenstein hätte alles Mögliche ausrufen können, was zu dieser oder einer anderen Gelegenheit hätte passen mögen wie: „Aufhören“ oder „Abscheulich!“ oder „Was für ein Schmock!“ Wir lösen den Sinn gleichsam wie Fusseln von der beobachteten und erlebten Situation. So konnte man vielleicht die Stoßrichtung der empörten Verlautbarung angesichts des angeberischen Gehabes des Studenten von der verzerrten Mimik oder dem erregten Gestikulieren des Philosophen ablesen.

Wir erkennen die Absicht des Sprechers nicht am Erfolg seiner sprachlichen Handlung. Der Student könnte in dem Moment, als Wittgenstein seiner Entrüstung Ausdruck gab, zu sprechen aufgehört haben, nicht weil er sich vom Zornesausbruch des Philosophen hätte beeindrucken lassen, sondern weil das Zitat, das er zum besten gab, an dieser Stelle abbrach.

Wenn wir ein Blatt in Händen halten, auf dem die Überschrift „Mein letzter Wille“ steht, wissen wir, worum es sich handelt, nämlich um die auktoriale Absicht der Schreibers, über seinen Besitzstand im Falle seines Ablebens letzthinnige Verfügungen zu treffen. Dieses Schreiben verwirklicht die illokutionäre Kraft seiner Intention, wenn es formal korrekt mit Datum und Unterschrift und womöglich mit einer notariellen Bestätigung versehen ist.

Dasselbe Testament könnte Inhalt eines Romans sein. Dann wäre es ein Fehlschluss zu meinen, sein Inhalt drücke unmittelbar die Absicht und den Willen des Autors aus.

Es könnte ebensowenig der echte oder authentische Ausdruck der Absicht einer fiktiven Figur des Romans sein, denn die Absichten, die der Autor seinen Protagonisten zuschreibt, sind fiktive oder nur scheinbare Absichten. Wirkliche Absichten wie unseren letzten Willen können wir revidieren, die fiktiven Figuren des Romans haben keinen freien Willen, sondern hängen gleichsam an einem vom Autor gesponnenen Schicksalsfaden.

Wenn wir einen Anruf von einem Unbekannten erhalten, fragen wir zuerst, bevor wir wissen wollen, was er zu sagen hat, wer er sei.

Der Unbekannte, der sich als Berater unserer Hausbank vorstellt, kann ein Betrüger sein, der die Absicht, uns bei unseren finanziellen Angelegenheiten auf die Sprünge zu helfen, vorschützt, um sein eigentliches Motiv, uns übers Ohr zu hauen, hinter der Maske des wohlmeinenden Ratgebers zu verbergen.

Um zu verstehen, was einer sagt, müssen wir demnach herausbekommen oder wissen, wer er ist, mit welcher Absicht er das Gesagte äußert, und gegebenenfalls welches Motiv seine Äußerung verbirgt.

Die Äußerung des Polizisten, der dem Fahrradfahrer zuruft „Vorsicht, Glatteis!“, versteht der Angerufene als Warnung aus dem Munde eines Mannes, der qua Funktion berufen ist, Warnungen dieser Art zu machen, und seine Absicht richtig als eben diese, ihn vor der drohenden Gefahr zu warnen, auf dem Glatteis auszurutschen. Dagegen hängt das Motiv des Beamten, was immer es sein mag, die Erfüllung seiner beruflichen Pflicht oder Freundlichkeit oder beides, nur indirekt mit der Intention seines Sprechakts zusammen. Denn er hätte die Warnung auch kundtun können, wäre er ein ganz unleidlicher Zeitgenosse, der nur widerwillig seiner Beamtenpflicht nachkommt. Andererseits hätte er die Warnung auch unterlassen können, obwohl er eigentlich ein netter Kerl ist, der ganz in seinem Beruf aufgeht.

Daraus ersehen wir, dass wir Äußerungen anhand der Identität des Sprechers und seiner Redeabsicht verstehen, auch wenn das Motiv seiner Äußerung im Dunklen bleiben kann.

Die Identität des Sprechers zu bestimmen gelingt uns meist, wenn wir ihn in den Rahmen des Umfelds seiner Äußerung rücken. Im Falle des Polizisten spielt es keine Rolle, ob er Peter oder Franz heißt, seine Identität verdichtet sich auf die Rolle, die er im öffentlichen Verkehrswesen spielt.

Der Polizist hat mit der Äußerung einer Warnung auch einen Einblick in den Hintergrund seiner Überzeugungen von der Welt gegeben, in der wir leben. So weiß er um die Gefahr von Glatteis oder dass Wasser bei einer bestimmten Temperatur gefriert, dass träge Dinge, wenn sie in ihrem Lauf oder Impuls abgelenkt werden, aufgrund der Schwerkraft nach unten zu fallen pflegen oder dass lebende Organismen verletzlich und sterblich sind.

Wenn wir noch nicht wissen, dass der Protagonist des Kriminalromans der Mörder aus Eifersucht ist, verstehen wir doch, mit welcher Absicht er den Nachbarn der Frau, die ihn verlassen hat, nach ihrem Leben ausfragt.

Gewiss sind die Äußerungen der fiktiven Personen Faust und Mephistopheles nicht Äußerungen des Autors Goethe, doch sie offenbaren uns so manches darüber, was für eine Person der Dichter gewesen sein muss, dass er solche Figuren auf diese Art hat sprechen lassen.

Wenn wir hören oder lesen: „Im dunkeln Efeu saß ich, an der Pforte des Waldes“, beginnen wir erst zu verstehen, worum es hier geht, wenn wir wissen, dass die Identität des Ich, das hier spricht, nicht dieselbe ist wie die der natürlichen Person, die den Satz aufgezeichnet hat, nämlich Friedrich Hölderlin (in der Hymne „Der Rhein“). Sonst könnten wir auf die falsche Fährte geraten, als handele es sich hier um die poetische Ausschmückung eines autobiographischen Berichts.

Dichterische Aussagen sind demnach kein unmittelbarer Ausdruck der Absichten des Autors, sondern Ausdruck der Absichten und Überzeugungen einer vom Autor fingierten Maske oder Rolle, die wie eine natürliche Person von sich sagt „Im dunklen Efeu saß ich“. Die Maske und Rolle des Sprechers aber müssen wir aus dem Gesagten und dem Modus seiner Sage- oder Sangweise entnehmen, in diesem Falle dem poetischen Modus einer hymnischen Sangweise.

Im Rhein-Hymnus Hölderlins finden wir neben der dionysischen Maske des Sprechers die Fiktionalisierung des Wesens, das er hymnisch besingt: Denn der Fluss selbst, der Rhein, tritt als Quasi-Person auf, als heroischer Jüngling, der weil er schwärmerisch veranlagt ist seinen Klagen, aber auch seinen hochfliegenden Ahnungen und Hoffnungen Ausdruck gibt. Wie Pindar in seinen Siegesliedern Heroen besingt, die in den olympischen, nemeischen, pythischen und isthmischen Wettkämpfen den Lorbeer errangen, besingt der Sprecher der hölderlinischen Hymne den Rhein als Heros.

Doch waren Pindars Helden Männer aus Fleisch und Blut, während Hölderlins poetische Masken Naturkräfte wie den Fluss, das Licht, Tag und Nacht oder halbgöttliche und göttliche Wesen wie Herakles, Dionysos oder Apollon heraufbeschwören. Auch historischen Figuren wie Sokrates, auf den in der vorletzten Strophe der Rhein-Hymne angespielt wird, sind in ein heroisch-verklärtes oder numinoses Licht getaucht.

Dagegen förderte es unser Verständnis keineswegs, wenn wir wüssten, mit welcher Absicht oder aus welchem Motiv der Autor, Friedrich Hölderlin, die Rhein-Hymne geschrieben hat. Vielleicht hatte er die Absicht, seine Umgebung damit zu beeindrucken, der deutsche Pindar zu werden, oder ihn trieb der Ehrgeiz, sich bleibenden Ruhm zu erwerben, ähnlich wie Pindar der Wunsch beflügelt haben mochte, dass der Glanz der von ihm besungenen Siege auf sein Werk übergehe.

Daran erkennen wir, dass biographisch informierte Lektüren unser Verständnis nicht sonderlich fördern. Sodann, dass uns die Kenntnis der Absichten und Motive des Autors dichterischer Texte nicht weiterhelfen.

Anders steht es um Briefe, Autobiographien oder historische Berichte, bei denen das, was der Autor zu sagen beabsichtigte, ein erhellendes Licht auf das wirft, was er gesagt oder geschrieben hat. So werden viele Passagen der Briefe Hölderlins an seine Mutter nur verständlich auf dem Hintergrund seiner Flucht vor dem Pfarrberuf oder sind die Arztberichte von Johann Autenrieth, der Hölderlin nach dem Ausbruch seiner Psychose im Tübinger Klinikum behandelt hat, nur angemessen zu würdigen auf dem Hintergrund der damaligen psychiatrischen Kenntnisse und Kuren.

Die im Rhein-Hymnus erwähnten historischen Namen, Rousseau und Sinclair, spielen zwar in der Biographie des Dichters keine geringe Rolle. Doch sie erscheinen im Gedicht wiederum in Masken gehüllt, die sie von ihrem realen Leben und ihren historisch bezeugten Äußerungen in eine numinose Sphäre entrücken.

Wir können uns nicht in die Hermeneutik der Empathie oder des Gedankenlesens flüchten, denn der Polizist mag im Moment, als er seinen Warnruf ausstieß, an sein kühles Abendbier gedacht haben, und an was alles Hölderlin bei der Niederschrift seines Gedichts gedacht haben mag, wissen die Götter.

Wir sind aufgrund dieser Situation aber auch nicht auf das sogenannte textimmanente Verstehen verwiesen. Denn wir müssen beispielsweise wissen, um welche Gedichtgattung es sich beim Hymnus handelt oder die unterschwelligen Bezüge und Anspielungen des Gedichts auf antike Mythen ausfindig machen und entziffern, beispielsweise den Mythos von Herakles, ja wir sollten uns geographisch und topographisch über das Quellgebiet von Rhein, Tessin und Rhône in Kenntnis gesetzt haben, um den verschlungenen Versen des Gedichts folgen zu können.

Im Nebel ideologischer Weltdeutungen blicken einen seltsame Fratzen an, die sich bei klarem Licht in den faden Niederschlag leerer Glaubensbekenntnisse auflösen. So wurden Hölderlins Texte von zwei dicken Nebelbänken verstellt, die eine hieß Politik, die andere Wahnsinn, ja die eine sollte sich gar in die andere geschoben haben. So wird aus dem Rhein ein kecker, schwärmerischer Jüngling mit Jakobinermütze, der sich einer dionysisch-trunkenen Geheimsprache bedient. Doch das hieße, das Gedicht als mehr oder weniger verklausulierte Kundgabe der unmittelbaren Absichten und Überzeugungen des Autors misszuverstehen.

Der hohe Bogen der Rhein-Hymne führt von der Morgenfrühe der Alpenregion, in der wie „ein reinentsprungenes Rätsel“ der besungene Halbgott auftaucht, bis in die uralte Verwirrung der Nacht. Dazwischen breitet sich in umfriedeten Ufern das kulturelle Dasein der Menschen aus. Wir verstehen daher genauer, wenn wir das Gesagte wörtlich nehmen: Das menschliche Dasein hat seinen Ursprung nicht aus sich selbst, sondern wird von höheren Mächten inspiriert, ja es gipfelt in der Begegnung zwischen Göttern und Menschen in der kultischen Feier, und es sinkt mit dem Tag des Heils oder im großen Zyklus des Jahrs der Seele ins Dunkel zurück.

Der Hymnus Hölderlins ist also wie die antiken Hymnen Pindars oder die Christus- und Marienhymnen des Mittelalters religiöse Dichtung. Der Unterschied liegt nicht darin, dass uns dank religiöser Bildung und Tradition die christlichen Hymnen unmittelbarer ansprächen, sondern darin, dass sie einen Ort im Kultus haben, der uns den nächsten Kontext zum Verständnis der in ihnen verwendeten Sprechakte darbietet, während die Hymnen Hölderlins gleichsam ihren kultischen Rahmen und Ort in einer zukünftigen oder utopischen religiösen Lebensform nur umrisshaft mitdichten. Doch auch der kultische Zusammenhang, in dem die Hymnen Pindars feierlich vorgetragen wurden, ist im Nebel der Geschichte untergegangen, ohne dass uns der Sinn des Gesagten gänzlich verschlossen bliebe.

 

Siehe:
http://www.zeno.org/Literatur/M/H%C3%B6lderlin,+Friedrich/Gedichte/Gedichte+1800-1804/%5BHymnen%5D/Der+Rhein

 

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