Philosophieren XXI
„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer und es war finster auf der Tiefe und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.“ – „Vater unser, der du bist im Himmel, dein Name werde geheiligt.“ -„Veni, vidi, vici.“ „Roma locuta, causa finita.“ – „Gesagt, getan.“ –„Gut Ding will Weile haben.“ – „Noch ist nicht aller Tage Abend.“ – „Von nichts kommt nichts.“ – „Morgenstund hat Gold im Mund.“ – „Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.“ – „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.“ – „Es war einmal ein altes Weiblein, das hauste in einer Hütte mitten im Wald … und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.“
Wie wir etwas sagen und tun, wie wir etwas mit Farben, Formen, Tönen, Mienen und Gesten darstellen, daran haben wir die Arten unseres ästhetischen Ausdrucks und die Inhalte unserer ästhetischen Bewertungen. Wie sagt es der Dichter, das Sprichwort, der Merk- und Sinnspruch, die Gnome und die Sentenz, mit welchen Techniken der Sprachformen und Stilformen? Wortreich oder lapidar, kurz und bündig oder mit episch langem Atem, sentenziös zugespitzt oder in Kanzleideutsch, merk- und denkwürdig wie ein Sinn- und Merkspruch oder verwaschen und phrasenhaft wie Zeitungsschreibe?
Unsere Sprache verfügt über eine Fülle von Wendungen und Etiketten für ästhetische Darstellungsweisen, die davon zeugen, dass die Leute schon immer von ihren spontanen Äußerungen zurückgetreten sind und ihr eigenes Sprachverhalten und vor allem natürlich das ihrer Unterredner näher in Augenschein genommen haben. Hätte ich das nicht klarer, einfacher, verständlicher ausdrücken können? Warum redet der so umständlich daher, wenn es doch einfach ginge? Muss er sich mal wieder in Szene setzen mit seinem fremdwortgespickten Sermon, seinen exquisit-snobistischen Vergleichen, seinen Eindruck schinden wollenden Satzgirlanden? Stimmt das Bild denn, hinkt der Vergleich nicht? Habe ich mich da nicht in der Wortwahl vergriffen? Spricht man so vulgär und schlampig mit einer Amtsperson, einem Honoratior, einem Priester? Muss man bei der Bedienung im Supermarkt einen so hohen Ton anschlagen und anstatt von schlichten Brötchen hochtrabend von Frühstückszerealien faseln?
Zu festlichen Anlässen pflegen sich die Teilnehmer herauszuputzen, sie erscheinen im Sonntagsstaat, sind gestriegelt und geschmückt. Der Festredner spart nicht mit schmeichelhaften Vergleichen und windet dem gefeierten Jubilar einen duftenden Kranz rhetorischer Blätter und blühender Sentenzen um den Hals. Und dann vergreift er sich im Ton, der alte Dampfplauderer bricht wieder durch und krönt seine Lob- und Preisrede mit einer ins Obszöne absinkenden Anekdote.
Unser Reden und Schreiben sollte sich in der Wahl von Stil und Sprachniveau, im Satzbau und beim Wortschmuck dem gestellten oder vorliegenden Thema sowie der Rede- und Textgattung wie Plauderei, Argumentation, Festrede und Polemik oder privater, geschäftlicher und amtlicher Brief, Lebenslauf und Hausarbeit anpassen. Dazu gehört auch die Auswahl des Wortschmucks, des verbalen Dekorums, das am falschen Ort ausgestreut wie im amtlichen Brief lächerlich, am rechten Ort aber ausgespart wie im Liebesbrief Unmut und Kopfschütteln provozieren wird. Eine Liebeserklärung mit dürren Phrasen und holprigen Sätzen verfehlt ihren Zweck.
Der lapidare Stil, wie er sich in vielen Büchern des AT und im NT findet, besticht durch Prägnanz des Ausdrucks und die Einfachheit der Satzgliederung: Oft wird ein einheitlicher Gedanke in zwei Varianten aufgeteilt und es entsteht die typische Zweischenkligkeit des Satzbilds. In der Apostrophe „Vater unser“ liegt keimhaft das im Folgesatz Ausgesagte: dass Gott nicht irdischer Götze, sondern rein im Transzendenten wohnt, dass der einzig echte Bezug des Menschen sich in der Heiligung des Namens auftut, welche wie im Folgenden dargetan die Heiligung des menschlichen Lebens auf Erden einschließt. Wir haben den bündigen Ausdruck in den meisten Sinn- und Merksprüchen, die den Gedanken immer am farbigen Ding und lebendigen Vorgang, nicht in der Wüste der Abstraktion vorführen. Memorabel mittels feiner Würze und bekömmlich machen sich die Sinn- und anderen Sprüche mittels einfacher Techniken wie Alliteration, Assonanz, Anaphora oder Reim. Dabei sättigen sie wie je mit ihrer frugalen Kost von Lebensklugheit und Lebensweisheit.
Thema, Absicht und Zweck sowie die soziale Situation geben der Art und Weise unseres Redens und Schreibens den Rahmen vor, den wir mit mehr oder weniger Geschick mittels rhetorischer Techniken ausfüllen. Dabei halten wir uns bei amtlichen und geschäftlichen Diskursen und Anschreiben geflissentlich auf dem Boden der Tatsachen auf, denn wir wissen um die Nachteile und den Schaden, der uns droht, sollte ans Licht kommen, dass wir die Tatsachen verbogen und Unwahres behauptet haben. Weniger ernst ist die Lage, wenn wir in privaten Briefen oder gar im Tagebuch uns prahlerisch ein wenig größer machen, als wir sind, oder ironisch-augenzwinkernd uns ein wenig kleiner machen, als wir sind.
Weniger ernst und manchmal sogar heiter wird die Lage, wenn wir die sozialen Räume, in denen der rauhe Wind des Lebens weht, hinter uns lassen und freien Sinns zum Felsenquell der Musen schlendern. Ein Gedicht zu schreiben, ein Drama zu verfassen, ein Lied zu komponieren, künstlerisches Tun dieser Art verfolgt keine Absicht und keinen Zweck, die unmittelbar aus der Art und Weise, der poetischen Form oder den verwendeten rhetorischen Techniken ableitbar wären, wie das bei amtlichen Briefen oder Laborprotokollen der Fall ist. Sie dienen im weitesten Sinn der Unterhaltung, der mehr oder weniger geistvollen, mehr oder weniger mit Gefühl und Leidenschaft befrachteten Weise mentaler Stimulation, die von den durch die Schnulze hervorgerufenen falschen Tränen bis zur meditativen Beruhigung durch ein Haiku reichen kann.
All die genannten Formen ästhetischen Ausdrucks und ästhetischer Bewertung, die in den Mitteilungen des Alltagslebens eingebettet sind, kehren als künstlerische Ausdrucksmittel und künstlerische Bewertungen wieder – mit dem Unterschied, dass ihnen der funktionale Sinn und Zusammenhang, die handgreifliche Wahrheit unserer alltäglichen Lebensbemeisterung benommen sind. Schriftsteller des lapidaren, bündigen, konzisen Stils wie Sallust und Tacitus haben diesen zur Sentenz und Gnome neigenden Schreibstil kultiviert, weil ihre Persönlichkeit in dieses Buchstabenkostüm am leichtesten hineinschlüpfen mochte. Andere Schriftsteller wie Cicero und Augustinus befleißigten sich eine kaskadenhaft rieselnden, langatmigen und komplexen Stils, der, aus vielen Quellen der Lebenserfahrung und Inspiration gespeist, gleißende Nebengedanken und verführerische Nuancen wie Treibgut mit sich führt. Andere wiederum wie Petronius locken den Leser mittels einer bunten, verschiedene Sprachniveaus und Stilebenen durcheinanderwirbelnden Schreibweise von den schmuddeligen Ecken der Gassen und Bordelle in die prunkvollen Säle neureicher Prahler. Hier gilt die Regel: Mach es, wie du es kannst.
Bei den sozial eingebundenen Formen funktionalen Redens und Schreibens wie der Fest- oder Trauerrede, der TV- und Radiomoderation, des Zeitungsberichts und der Glosse, des privaten, geschäftlichen und amtlichen Anschreibens können wir stets fragen: Hast du nur Informationen verwendet, die Hand und Fuß haben, die hieb- und stichfest oder zumindest angemessen und plausibel sind? Und weiter: Hast du mit der Art deines verbalen Auftretens bei dem Bewerbungsgespräch den Zweck der Sache, die Anstellung oder die Beförderung, erreicht? Ist es dir gelungen, mit passend gewähltem Wortschmuck und lieblich raschelnden Satzgirlanden die Erkorene zu einem Rendezvous zu überreden? Die ästhetische Ornamentierung unserer funktionalen Formen alltäglichen Redens und Schreibens darf den Tatsachen nicht widersprechen und sollte der Verwirklichung der Rede- und Handlungsabsicht nicht im Wege stehen, ja sie im besten Falle fördern.
Anders bei den ästhetischen Ornamentierungen der künstlerischen Formen des Redens und Schreibens. Soll dein Liebesbrief an die Auserwählte durchaus deine Absicht verwirklichen, wirst du Wortblüten mit zarter Hand zwischen die Zeilen streuen. Der Dichter, der uns mit demselben Stilmittel in einem Briefroman mit den Herzensabenteuern zweier fingierter Personen entzückt, verfolgt einen solchen Zweck gerade nicht – es sei denn er ist ganz ausgebufft und verschlagen und beabsichtigt, mit einem Werk der Fiktion ein echtes Liebesabenteuer ins Werk zu setzen, indem er in die fiktiven Briefe seines Romans Anspielungen und zarte Hinweise hineinflicht, die nur die eine versteht.
Das Gedicht, und hier wieder Ode und Elegie, Hymne und Sonett, Ballade und Volkslied, das Epos, der Roman, das Drama, Märchen und Legende, Fabel und Anekdote, Novelle und Kurzgeschichte, sie und viele andere Formen und Gattungen haben ihre eigenen Gepflogenheiten und Konventionen der Wortwahl und des Sprachniveaus, des Aufbaus, der Raffung und der Steigerung sowie des Ausgangs wie der Pointe, der Klimax oder Antiklimax, und tausend Kniffe und Techniken des Ausdrucks entwickelt. Dazu gehören die Verwendung des narrativen Präteritums in Märchen, Epos und Roman oder des historischen Präsens in Novelle, Fabel und Anekdote.
Mit der Sprachkunst befinden wir uns in vertrautem Gelände und auf tragendem Boden, wie die Besichtigung von Bibliotheken und Archiven und grammatisch-stilkritische Analysen uns zeigen. Wenn wir Absicht und Funktion, Sinn und Zweck des Ganzen ins Auge fassen, steigen gleich Nebel aus anthropologischen Abgründen auf und wir schwanken auf der hohen See der Ungewissheit. Mit der Ablösung von den sozialen Funktionen des Alltags, der Verschleierung und Unterbelichtung der Absichten, wenn sich nicht gerade hartleibige Schreiber- und Finsterlinge ins Joch politischer Verführer spannen lassen, mit der Geisterwelt seltsamer Figuren und der Intrigenwelt dunkler, unheimlich spannender Geschichten, Fiktionen, Illusionen und Phantasmen führt uns die Kunst über die Grenze von Realität und Traum, in ein Zwischenreich des Wunderbaren in diffusem oder überwirklich klarem Licht, das uns von den Nöten und Bedrängnissen des Alltags entlastet und unseren Geist schmackhafte und erfrischende Schlucke aus der Weisheitsquelle des Fiktiven und Irrealen tun lässt.
Manche Kunstwerke scheinen solche simplen Weisheiten unwillkürlich auszuplaudern. Oder ist nicht das Goldene Vlies aus dem Epos des Apollonios Rhodios über die Meerfahrt der Argonauten ein Urbild für den Drang des Menschen zu chimärischen Orten und golden-außeralltäglichen Dingen, in denen sich seine Sehnsucht nach dem Absoluten ausdrückt, Sehnsucht nach einer Erfüllung, der im Alltag die Nerven und die Muskeln, die Sorge und die Angst, die Arbeit und die Liebe ihre Streiche spielen, die sich aber in der Kunst scheinbar gefahrlos vom wiedererblühten Baum des Paradieses pflücken lässt? Indes zeigt das Epos vom Goldenen Vlies auch die Schattenseite des chimärischen Wunsches nach Erfüllung im luftleeren Raum der Kunst, nämlich dass diese Erfüllung selbst Chimäre ist, der Drang ins Phantastische Schuld anhäuft und die alltägliche Besonnenheit und Tapferkeit des Lebens ihr unabgeltbares Recht einklagen. Iason gelingt es nur durch Verbrechen das Objekt der Begierde zu rauben und am Ende des Abenteuers sinkt das Vlies gleichsam zu einem schmutzigen Lappen herab: Die Helden waten im Blut.