Philosophieren XVIII
Die geweihten Hostien werden in einem Ziborium genannten goldenen Gefäß aufbewahrt, das mit einem verzierten Deckel verschlossen wird, auf dessen Kuppel ein Kreuz ragt. Das Ziborium wird zum Zeichen seiner Heiligkeit mit einem edlen und kostbar bestickten Tuch, dem Ziboriumvelum, verhüllt. – Wenn du die Kirche betrittst, gehst du ans Weihwasserbecken, tauchst deine Finger hinein und bekreuzigst dich. – Vor dem Altar angekommen bist, beugst du das Knie und schlägst das Kreuzzeichen. – Jetzt müssen wir alle still sein, das Heilige Sakrament wird vorübergetragen. – Du darfst als getaufter Mann nach gewissenhafter Prüfung deiner Berufung und nach intensiven Studien und asketischen Übungen die Priesterweihe empfangen, die Weihe vornehmen darf nur der Bischof. – In diesem geweihten Kelch wird der Wein für die Einsegnung aufbewahrt, in jener Schale das Öl für die Letzte Ölung, in dieser Schale wiederum das Öl für die Priesterweihe.
Die Thorarollen werden in einem heiligen Schrein der Synagoge aufbewahrt, der die Mitte der Wand durchbricht, die gen Jerusalem zeigt, und von einem prachtvollen Vorhang verhüllt wird, auf dem heilige Zeichen und Bilder in Gold oder anderen kostbaren Stoffen prangen. – Die Thorarolle darfst du nicht mit bloßen Händen anfassen. – Die Gesetzesrolle dürft ihr nicht wie schlichten Müll entsorgen, sie gilt in gewissem Sinne als ein Lebewesen und muss rituell bestattet werden, wenn sie außer Gebrauch gekommen ist. – Bei nur einem Schreibfehler verliert die Rolle ihren Wert und muss vernichtet werden. – Am Sabbatabend muss das Kind den Vater, der die Zeremonie leitet, nach den Geschehnissen im Land der Ägypter fragen, als Moses die Juden aus der Gefangenschaft führte. – Beim Mahl zum Gedenken des Exodus dürfen nur ausgewählte Speisen und Getränke verzehrt werden, wie Matze genannte salzlose Brote und Bitterkräuter, die an die Umstände der Flucht erinnern. – Der Vorleser des Tagesabschnittes der Thora bindet sich, bevor er die Synagoge betritt, die Tefellin genannten Lederriemen mit Gebetskapseln für Stirn und Oberarm um, auf dass seine Aufmerksamkeit auf den heiligen Text befördert und gesteigert werde.
Wie werden die Vorschriften zum Umgang mit geweihten Gegenständen des religiösen Kults, wie die den Laien und einfachen Gläubigen vorgeschriebenen Gebete und zeremoniellen Bewegungen während der liturgischen Feier und wie die Regeln für die anderen rituellen Handlungen weitergereicht und ins Gedächtnis geprägt? Wer sagt und tut was wie an einem heiligen Ort zu einer heiligen Zeit? Wem, welchen Einzelnen, welcher Gemeinschaft, gelten welche Gegenstände, welche Handlungen, welche Orte und welche Zeiten als heilig? Wer ist befugt, Gegenstände, Orte und Zeiten durch welche rituellen Handlungen zu heiligen? Wie verhält sich die heilige Zeit an heiligem Ort zur profanen Zeit an säkularem Ort? Wie steht es um dich, wenn du die Schwelle zum heiligen Ort überschritten hast?
Die zum Umgang mit den heiligen Stoffen und Dingen sowie der Ausführung heiliger Handlungen amtlich-institutionell bestallten und beauftragten Personen wie Priester und Bischöfe, Rabbiner und Kantoren werden zu ihren frommen Diensten erst zugelassen, wenn sie etliche Schulbänke gedrückt haben, um das von der vorigen und vorvorigen Generation angesammelte und weitergereichte Wissen über die religiösen Angelegenheiten sich ihrerseits erfolgreich anzueignen. Und auch sie selbst werden ihr Wissen und Können an die folgenden Generationen weitergeben.
Die Laien lernen den Umgang mit religiösen Stoffen und Dingen wie dem Weihwasser und dem Rosenkranz und die korrekte Ausführung zeremonieller Bewegungen wie Kniebeugen oder Kreuzzeichen sowie die liturgisch gebrauchten Gebete und Lieder als Kinder durch Nachahmung des elterlichen Vorbilds und mittels der Befolgung der Anweisungen der Eltern. Religion ist das Ergebnis kulturellen Lernens und kultureller Überlieferung. Das Kind hört vor den gemeinsamen Mahlzeiten die Großen das Tischgebet sprechen und allmählich spricht es die Worte mit, auch wenn es sie nicht oder nicht zur Gänze versteht – dies ist auch nicht vonnöten, es dringt auch so in die Atmosphäre und die Aura des Religiösen vor. Es spürt, anders als bei Märchen und Puppenspielen weht um das Religiöse ein heiliger Ernst, hinter dem sich eine fordernd-prüfende, aber auch liebend-vergebende Macht verbirgt. Das Kind wird spielend in den Kreis der Feiern des Heiligen Jahres mit einbezogen: Es freut sich an der Gestaltung und den Gestalten der Krippe, singt zum ersten Mal ein Weihnachtslied, hält zum ersten Mal aufgeregt die Osterkerze. Später wird es im Religionsunterricht und in der Katechese gründlicher in die Inhalte und Formen des Glaubens eingeführt. Das Kind sollte nicht zu argwöhnischem Befragen und Bekritteln der dargebotenen Glaubensinhalte verleitet und verführt werden. Und wenn es fragt, können ihm Geschichten und Legenden, Lieder und Andachtsbilder die entstandene Lücke leicht füllen. Im Umgang mit dem Unverständnis, dem Spott und der Häme atheistisch-bösartiger Zeitgenossen wird es später genügend Eigensinn, Mut und Tapferkeit zur Selbstbehauptung aufbringen müssen.
Dinge wie Kerzen und Räuchergefäße, Kelche und Schalen, Tücher und Vorhänge, Gewänder und Stolen, Stoffe wie Öl und Narde, Weihrauch und Wasser werden am heiligen Ort zur heiligen Zeit von dazu durch eigene Weihe berufenen Personen wie Priestern und Bischöfen geweiht. Um ihres Dienstes am Heiligen willen sind die Dinge und Stoffe kostbar, edel, exquisit: Schon ihr Anblick, ihr Duft, ihr Schimmer und Glanz vermögen dich über die Schwelle alltäglicher Laxheit und Lauheit in die Schärfe und Wachheit außeralltäglicher Wahrnehmung und Wachheit zu heben. Der Umgang und das Hantieren der berufenen Personen mit solchen Dingen und Stoffen im Vollzug heiliger Handlungen wie der Segnung der Gemeinde oder der Weihe eines Priesters durch den Bischof verlangen ein Höchstmaß an Sorgfalt und den skrupulösen Sinn des Jongleurs auf dem Hochseil für die außerordentliche Gefahr der Grenzverletzung.
Die geweihten Dinge und Stoffe dienen dem Vollzug ritueller Handlungen, deren Ablauf und Gestaltung durch den Festkalender des Heiligen Jahres und ihren Bezug auf den jeweiligen rituellen Inhalt wie die Eucharistie, die Marienandacht, die Taufe, die Firmung oder die Letzte Ölung festgeschrieben sind. Der Sinn der Ausrichtung des eigenen Lebens am Rhythmus des Heiligen Jahres und der religiösen Rites de Passage ist die Durchkreuzung und Überwindung der profanen Zeit durch die Zeit des Heiligen. Die Geburt wird durch die Taufe durchkreuzt und überwunden, die Tischgemeinschaft der Familie durch die Gemeinschaft der Eucharistie, der Eintritt in die Gemeinschaft von Volk und Nation durch die Bekräftigung der Zugehörigkeit zur universalen Gemeinschaft der Kirche bei der Firmung, die rechtliche Verpflichtung im weltlichen Ehegelöbnis durch das sakramentale Ehegelöbnis, der Tod durch die Macht der Letzten Ölung als Wegzehrung für den Weg zu einem anderen Ort.
Der Vollzug der Weihehandlung, der Ritus, verlangt den langen, den langsamen Atem, das wache, staunende Herz, das kühne Stehen wie im Mittelpunkt der Welt, das weiche Knien wie auf dem Gipfel der Zeit. Verhüllten Angesichts, verhalten und bedachtsam führt der Priester den Kelch in die Höhe und psalmodiert die Wandlungsworte. Der Ministrant schwingt das Weihrauchbecken im Hochamt mit lässiger, groß ausladender Geste aus dem Handgelenk. Es genügt, über einen einzigen Vers der Psalmen, des Hohelieds, des Korintherbriefes zu sinnen und zu meditieren, um das leidende Gemüt zu kühlen und den Geist zu befeuern.
Was du an einem heiligen Ort zu einer heiligen Zeit sagst und tust, unterscheidet sich von dem, was du zu Hause, auf der Straße, in der Schule, auf der Universität, im Büro oder bei der Fußpflege zu sagen und zu tun pflegst. Zu Hause oder bei deiner Freundin redest du frei von der Leber weg, wie dir der Schnabel gewachsen ist, du fläzt dich auf der Chaiselongue, ziehst wegen der Hitze dein T-Shirt aus und gähnst gedankenlos vor dich hin oder klopfst dir angesichts einer gelungenen Pointe in deiner Lieblingsfernsehserie lauthals lachend auf die Schenkel. Wenn dein Bekannter dich auf der Straße grüßt, würzt du ihm seinen kurzen Aufenthalt augenzwinkernd und wild gestikulierend mit einer Klatschgeschichte. In der Schule stürmen die Kinder brüllend und johlend aus den Klassenräumen, sobald es heißt: „Hitze frei!“ Während der Vorlesung tuschelt dir dein ewiger Nachbar kichernd eine Story über das angeblich sexuell abweichende Verhalten des Referenten ins Ohr. Im Büro wettert deine Kollegin wieder unflätig gegen die Arroganz des Chefs. Bei der Fußpflege rätselt man über den Namen des neugeborenen englischen Thronfolgers.
Das Meiste von dem, was und wie wir alltäglich daherreden, das Meiste von dem, wie wir uns alltäglich verhalten und gebaren, was wir mit Gesten und Grimassen darstellen, ist dir zu heiligen Zeiten an heiligen Orten untersagt, ausdrücklich oder unausdrücklich verboten. Du darfst dich nicht spontan äußern, nicht reden, was du denkst oder was dir gerade in den Sinn kommt. Was du zu sagen hast, deine Meinung, deine Ansicht über dies und das, über Hinz und Kunz, über Gott und die Welt zählen hier nicht, sie sind gleichgültig und belanglos, sie sind nicht gefragt. Du kannst deine Ansichten und Meinungen, deine Redegewohnheiten und Redewendungen, deine billigen Witze und deine sublimen Geistesblitze getrost zu Hause lassen und dich ihrer für die heilige Zeit am heiligen Ort entledigen, dich von ihnen entlasten. Was zur heiligen Zeit am heiligen Ort gesagt und getan wird, sind nicht deine Worte, nicht deine Handlungen, sondern Worte und Handlungen alter Überlieferung, weitergegeben als kostbarstes Erbe vom Vater auf das Kind und Kindeskind – du hast ihnen nur dein Ohr ganz zu leihen, dein Auge ganz zu öffnen, um dich ihrer würdig und wert zu erweisen. Das, was am heiligen Ort gesagt werden darf und gesagt zu werden pflegt, Wort heiliger Überlieferung, sind Gebete, Auszüge aus heiligen Schriften und Worte ihrer Ausdeutung aus berufenem Munde. Du brauchst dir des vollen Sinns der Sätze, die dir im Gebet von den Heiligen, Erwählten und Propheten aus der Tiefe der Geschichte auf die Lippen gehoben werden, nicht zur Gänze, nicht in allen Stücken bewusst zu sein. Es ist dir genug an Gnade aufgespart, auf dass du dich von ihnen wie auf Flügeln des Engels eine Zeit lang, die heilige Zeit am heiligen Ort, tragen und über die Spitzen und Ritzen und Zähne deines Wollens und Wünschens und Träumens hinwegheben lassen darfst.
Eben deine Wünsche und dein ganzes Wollen, das deinen Alltag rechtens mit Absichten und Gedanken füllt, bedrängt oder versüßt, verblassen und entwirklichen sich am heiligen Ort zur heiligen Zeit wie überschneite Gegenstände im Mondlicht. Der Gedanke, dass du krank oder alt oder hässlich bist, oder dass du jung und gutaussehend und attraktiv bist, die Absicht, deinen Berufsabschluss voranzutreiben, deinen Partner zu überraschen, zu den Stätten der alten Griechen zu reisen – Gedanken und Absichten des Alltags verlieren ihr Gewicht, werden angesichts dessen, was am heiligen Ort zur heiligen Zeit gesagt und getan wird, unscheinbar, durchsichtig, geringfügig wie die Gedanken und Absichten eines Fremden. Aber die widersprüchlichen, einander jagenden und auslöschenden Gedanken und die feindseligen, dir und anderen Schaden bringen wollenden Absichten würden dein Ohr ganz verstopfen, dein Auge ganz blenden, dein Herz ganz verstocken für das, was am heiligen Ort zur heiligen Zeit gesagt und getan wird. Deshalb musst du die unreinen Gedanken und die unreinen Absichten durch Akte und Übungen der Reue und Buße von dir abgetan haben und mit dir ins Reine gekommen sein, bevor du den heiligen Ort zur heiligen Zeit aufsuchst.
Und ebenso sind dein Tun und Leiden, dein Handeln und Unterlassen, die in deinen Alltag unentwegt die Muster deines Lebens sticken, dir leiser und unwirklicher entronnen als fernes Brandungsrauschen um den hohen Fels des heiligen Orts. Was du tust, steht nicht in deiner Absicht, du schuldest es dem vorgeschriebenen Zeremoniell, du dankst es dem von Kindesbeinen an eingeübten Ritual. Die alten Gebete kommen dir gemeinsam mit den anderen Gemeindegliedern über die Lippen, gemeinsam mit den anderen beugst du das Knie und gemeinsam schlägst du das Kreuz. Du hast nicht Besonderes, Eigenes, Eitles zu sagen und zu tun, dein Besonderes, Einziges, Eitles zergeht in der vollkommenen Schlichtheit und schlichten Vollkommenheit heiliger Worte und ritueller Gesten. Das Rohe, Laute, Animalische, das in Lachen und Johlen, Spotten und Spucken, Schlingen und Saugen aus dem Grund- und Brackwasser unserer Primärwünsche aufspringt und aufspritzt, wird in der heiligen Feier außer Kraft gesetzt, muss gleich einem kläffenden Köter draußen angebunden warten. Also wirst du dich am heiligen Ort gesittet und züchtig betragen und deine Blöße nicht enthüllen. Deine Haltung wird nicht erschlaffen, sie ist gestrafft und in das Geschehen gereckt und geweckt, deine Gesten willfahren und schmiegen sich den Verfügungen und Fugungen des Zeremoniells an.
So ist die heilige Feier am heiligen Ort zur heiligen Zeit weder Arbeit noch Muße. Arbeit ist die absichtsvolle Aufwendung von Kraft und Ressourcen, um gemeinsam mit den Arbeitskollegen des Teams ein vorgestecktes Ziel zu erreichen. Der Zweck der Arbeit und der einzelnen kooperativ abgestimmten Arbeitsschritte liegt außerhalb des Kreises der Arbeit und Herstellung: Das Auto fährt vom Band, die es hergestellt haben, werden es in der Regel nicht besitzen und fahren. In den Mußestunden suchst du in Spaziergängen oder sportlichen Aktivitäten Erholung und Regeneration der durch Arbeit verbrauchten Kräfte. So liegt auch der Zweck der Muße, dem Anschein entgegen, da du gerne spazieren gehst (aber du kannst auch gerne deiner Arbeit nachgehen), außerhalb des Kreises der müßiggängerischen Beschäftigungen.
Die heilige Feier, das, was am heiligen Ort zur heiligen Zeit gesagt und getan wird, hat keinen Zweck außerhalb des Kreises dessen, was hier und heute, dort und dann gesagt und getan wird – gemessen an den Maßstäben von Arbeit und Muße ist sie reine Zeitverschwendung. Dein Alltag wird ohne Unterlass und ohne Gnade von der Allmacht des Schicksals in Richtung Zukunft gezogen: Morgen hast du dies und das zu erledigen, übermorgen fährst du in die Ferien, nächstes Semester machst du Examen, im kommenden Jahr blickst du deiner Pensionierung entgegen, und dann wirst du früher oder später für immer Abschied nehmen müssen. Die animalisch-spirituelle Sorge und die Angst in und vor der Welt bleiben mahnende, aber stumme Schatten, das letzte Wort wird ihnen entzogen, sobald du die Schwelle zum heiligen Ort überschreitest: Die Zeit steht still, eine andere Zeit hebt an, in der das Einzigartige, das Außerordentliche wiederholt wird und es die Ordnung deines Lebens sich anverwandelt. Das Geschrei und das grelle Tageslicht versinken hinter dir, die Dinge des Alltags verlieren das Zudringliche, Schattenlose, Wimpernlose ihres Daseins, ihres nackten Anspruchs auf deine Lust und deine Vergänglichkeit.
Im bunten Dämmer des heiligen Orts sind die Dinge des Alltags unter dem Licht stiller Kerzen der Schärfe ihrer Umrisse benommen und gleichsam ausgehöhlt und entleert von der schweren Substanz ihres Anspruchs auf deine Aufmerksamkeit, deinen Gebrauch und deine Unterwerfung. In der Betrachtung heiliger Gegenstände und heiliger Handlungen betrachtest du dich selbst wie einen Wanderer, den Schatten eines Wanderers, der in hoher Mondnacht leichte, leicht verwehte Spuren im Schnee hinterlässt. So wirst du angesichts der ewigen Heiligkeit des Heiligen gleichmütig gegen die Wirklichkeit deiner Existenz, wie du gleichmütig wirst gegen die Möglichkeit deiner Nicht-Existenz.