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Schatten-Gitter

15.04.2018

Sentenzen und Aphorismen

Das Erinnerungsbild ist kein Foto. Diesem fehlt die Empfindung dessen, der den Auslöser gedrückt hat.

Eine allein stehende Erinnerung hat etwas Glotzendes und Verschlingendes wie das eine Auge des Zyklopen. Besser das Facettenauge verfugter Erinnerungen.

Die Worte des Gedichts sind unvermutet erwachte Rufe, Vogelstimmen gleich, die sich da und dort in den Zweigen unter weichem Gefieder regen, geht einer nachts leise knirschend durch den Wald.

Der im Garten der Musen Gesäugte, der fällt ihn das taedium vitae wie alle Sterblichen an sich der Betrachtung der Steine des Brunnens und der frischen Knospen widmet, Steinen, denn sie leben nicht und ihre Schönheit hat Dauer, Blumen, denn sie leben und ihre Schönheit ist vergänglich.

Traum: In der Bahn. Der Kontrolleur kommt und sagt angesichts der ihm brav entgegengestreckten Fahrkarte: „Die ist ja schon entwertet!“ (Nimm die Fahrkarte für einen Lebensberechtigungsnachweis, Menschenskind!)

Am Lebensende: eine Tür sein, der man das Schloß herausgebrochen hat; sie schwebt frei in den Angeln, doch ihr Sinn und Zweck ist dahin.

Epigonen: Alles wiederkäuen, was schon beim ersten Male fad schmeckte.

Die zum eigenen Schattenriß verflüchtigte Seele: Alles auf- und wegräumen, als sei man nie dagewesen. Als wäre, was man dazugetan hat, wie die von der Zigarette auf den Tisch gefallene Asche.

Das Abgelebte, Aufgesprungene, Abgeblätterte wie eine halb abgerissene Tapete im Zimmer der Kindheit zeigt die echten Spuren der Erinnerung.

Werbung ums Weib entpuppte sich zu einem poetischen Genre; Werbung ums Portemonnaie nicht.

Männer ohne Ehrgefühl heucheln Entsetzen vor den von ihnen eingeladenen Vagabunden, deren Ehre auf Messers Schneide blinkt.

Wer entscheidet: Tabletten, 8. Stock oder Strick? – In der Regel das Geschlecht.

Woran und an wen dachten, die in die Gewehrmündungen des Erschießungskommandos blickten?

Das Leben des Vaters wird vom Leben des mißratenen Sohnes widerlegt.

Sie suchen irregeleitet von einer Schonbezugs-Psychologie in Traumata der Kindheit Gründe für ihre Mißempfindungen und Devianzen. Der wahre Grund ist in vielen Fällen Kinderlosigkeit.

Erlöschen wie ein Bild, das lange nicht angeschaut worden ist – und sei es von Ignoranten oder Bösewichtern.

Abgegriffene Münzen, Erinnerungen.

Manchen schmeichelt es, wenn man vor ihnen ausspuckt.

Dem Mann von Ehre ist es peinlich, für eine gute Tat gelobt zu werden.

Wie Klein-Hänschen sich das Genie malt: ein Uhu mit Uhu-Brauen, die Blicke Blitze, den Kopf lautlos einmal im Kreis herumdrehend, durch Schatten schattenhaft gleitend, um sich auf die Maus eines genialen Einfalls zu stürzen.

Gegen dieses Zerrbild rennen die Tüftler und Ingenieure des Geistes an: Schaffen sei nur langes Gaffen auf fremde Bestände, Schöpfen sei Kröpfen aus kollektiven Töpfen.

Der erste Takt einer Sonate Mozarts widerlegt sie, auch wenn wir wissen, was die Form des Sonatensatzes an tradierten Mustern umrankt.

Der in der Leugnung von Natur und Herkunft am weitesten fortgeschrittene Soziologe verbreitete ein eigentümliches Odeur in seiner stammelnden, sich gleichsam erbrechenden Vortragsweise, das von dem Kuhfladen herrührte, in den er als Kind in seinem Heimatdorf getreten war.

Ruhig wie der Schatten des Gitters über den Sand wandert von Morgen zum Abend der Schatten des Gedichts über die Landschaft der Seele.

Die Tränen des Vaterlands sammelten sich in einem Gärtchen am Neckar in einer Mulde, in der sich der Vogel der Nacht badete.

Klein-Lieschen malt sich „Heimat“ mit pausbäckigen Wolken über einer Zwiebelturm-Kirche nebst Linde, scheckigen Kühen auf der Weide links und einem Schmetterlings- und Bienengärtchen rechts.

Gegen diese Schein-Idylle rennen die wurzel- und instinktlosen Stadt-Schreiber an, die zu stumpf sind, um zu begreifen, daß Hölderlins lesbische und arkadische Blüten sich von den Tränen des Vaterlands nährten.

Natürlich fehlt in den nostalgischen Heimat-Ansichtskarten-Kitschbildchen, was man nicht malen kann, der strenge Geruch aus den Schweinekoben und der betörende von Lindenblüten, das angsteinflößende Brüllen der Kühe, die das pralle Euter schmerzt, der Schmutz von faulen Blättern und faulen Lügen, der bei Tauwetter in der Gosse gleich neben der Kirche schwillt.

Zeilen, über denen wie über halb eingestürzten, halb überwucherten Zäunen alter Gärten oder Friedhofe die Müdigkeit lang gewanderter Wolken hängt.

Worte, die nachhallen wie das Glucksen eines Brunnens, der gerade erloschen ist.

Worte, die sich betend wie Kelchblätter über ihre knospenhafte Verschlossenheit wölben.

Schwalben im tiefen Flug, nicht einmal Schwalben, Schatten von Schwalben. Das Schluchzen kleiner Wasserwege über der Erde, nicht einmal Schluchzen, leises Rinnen über nächtliches Laub.

Worte, die wie Kinder wach werden in der Nacht und im Schein der Kerze seltsame, einander neckende, fangende und sich verfangende, haschende und sich fliehende Figuren der Finger und Hand an die Wand werfen, bis sie wieder müde sind und eines die Kerze ausbläst.

Andere Worte, die wie unglücklich Verliebte nicht schlafen können und den über die Decke wandernden Lichtstreifen vorbeifahrender Autos wie einen immer wieder verlöschenden Abschied widerspiegeln oder das ferne Quietschen einer Straßenbahn als immer wieder überfahrene Ankunft.

Worte, denen man wie gesprungenen Vasen die noch frischen Blumen entnimmt und sie in die Rumpelkammer abstellt.

Andere Worte, die wie jene Rosen von Jericho lange verkümmert und unscheinbar in der Schale liegen, aber stellt sie einer wie aus Versehen auf den Fenstersims, nach einem Regenschauer eine köstliche Blüte hervortreiben.

 

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