Begriffsnetz und Egologie
Anmerkungen zur Philosophie der Subjektivität
Durch ein großmaschiges Netz entwischen die kleineren Fische, ein feingewebtes beschert uns auch diese.
Wir wollen dieses Bild auf unsere sprachlichen und grammatischen Muster oder unsere sprachlich gebildete Erfahrung münzen.
Den roten Fleck im Gesichtsraum können wir sehen, gleichgültig ob wir wach sind oder träumen, ob es sich um einen natürlichen oder künstlichen Gegenstand handelt.
Aber erst wenn wir sagen: Dies ist eine rote Rose, sagen wir etwas, das auch falsch sein könnte, wenn es sich in Wahrheit nicht um eine Blume, sondern um eine rote Koralle handelte.
Begriffe wie Blume und Pflanze, Koralle und Tier sind Ordnungsbegriffe zweiter Stufe, während wir Farbbegriffe als elementar oder als Begriffe erster Stufe ansehen wollen. Denn wir können etwas ohne weiteres als rot, grün oder grau bezeichnen, ohne uns aufgefordert zu fühlen, das Benannte näher zu spezifizieren. Während wir mit der bloßen Bezeichnung eines Phänomens als rote Blume ziemlich weit hinter unseren Möglichkeiten der Konkretion hinterherhinken, die zumindest eine Auskunft darüber erheischen, ob es sich um eine Tulpe, ein Veilchen oder eine Rose handelt.
Das erweist sich in Folgendem: Wenn wir einen roten Fleck im Gesichtsraum erkennen und jemand weist uns darauf hin, daß es sich nicht um eine Pflanze oder Blume handelt, ziehen wir die Vermutung, daß es sich um eine rote Koralle handeln könnte, in die engere Wahl.
Der Hinweis darauf, daß wir das Phänomen NICHT einem spezifischen Ordnungsbegriff zweiter Stufe wie dem der Pflanze zuordnen können, impliziert die Möglichkeit, daß wir es einem anderen Ordnungsbegriff wie dem der Tiere zuordnen können.
Wenn wir in unserem sprachlichem Schema nur den Unterschied zwischen den Ordnungen pflanzlicher und tierischer Lebewesen berücksichtigen und die Existenz von Mineralien und Gesteinen vernachlässigen, folgt aus dem Satz:
S1 Dies rötliche Etwas ist kein tierisches Lebewesen
trivialerweise der Satz:
S2 Dies rötliche Etwas ist ein pflanzliches Lebewesen oder eine Blume.
Wenn wir einen roten Fleck im Gesichtsraum korrekt als Blume erkennen, aber meinen, es sei eine Tulpe, während es in Wahrheit eine Rose ist, irren wir uns offensichtlich nicht in der Zuordnung zu dem relevanten Ordnungsbegriff, sondern in der Identifikation eines seiner Elemente.
Wenn wir die alternativen Elemente auf Tulpe, Veilchen und Rose begrenzen, folgt aus dem Satz:
S3 Dies ist eine Blume
trivialerweise der Satz:
S4 Dies ist eine Tulpe ODER ein Veilchen ODER eine Rose.
Wenn wir die Blume richtig als Rose identifizieren und wenn wir Wildrosen wie Sumpfrosen, Alpenrosen, Gebirgs- oder Dünenrosen von gezüchteten oder Kulturrosen unterscheiden, folgt aus dem falschen Satz:
S5 Dies ist eine Wildrose
der wahre Satz:
S6 Dies ist eine gezüchtete Rose.
Wenn wir uns bei den gezüchteten Rosensorten auf folgende Reihe einschränken: Alba-Rosen, China-Rosen, Damaszener Rosen, Gallica-Rosen, Moosrosen und Zentifolien,
folgen aus dem korrekten Satz:
S7 Die ist eine rote Rose
die beiden wahren Sätze:
S8.1 Diese Rose ist eine China-Rose ODER eine Damaszener Rose ODER eine Gallica-Rose ODER eine Moosrose ODER eine Zentifolie.
S8.2 Diese Rose ist KEINE Alba-Rose.
Denn die Alba-Rosen sind, wie schon ihr Name sagt, weiß (oder leicht rosafarben).
Wenn wir uns bei den gezüchteten Rosen auf Gallica-Rosen (also Rosen französischer Provenienz) beschränken und bei den Gallica-Rosen auf folgende Sorten: Aimable Rouge, Belle de Crécy, Duc de Guiche und Tricolore de Flandre, dann folgt aus der korrekten Feststellung:
S9 Dies ist eine Aimable Rouge
der wahre Satz:
S10 Es ist falsch zu behaupten, dies sei eine Belle de Crécy oder eine Duc de Guiche oder eine Tricolore de Flandre.
An dieser Stelle haben wir unser Begriffsnetz in einer Weise verwebt, daß wir keine engeren Maschen und Zwischenfäden mehr darin einfädeln und einfügen können.
Die Reihe oder Stufung unseres mehr und mehr verdichteten und feinmaschiger verwebten Begriffsnetzes sieht demnach in dem von uns gewählten exemplarischen Fall folgendermaßen aus:
I Lebewesen > Pflanze ODER Tier
II Pflanze > Tulpe ODER Veilchen ODER Rose
III Rose > Wildrose ODER Kulturrose
IV Kulturrose> Alba-Rose ODER China-Rose ODER Damaszener Rose ODER Gallica-Rose ODER Moosrose ODER Zentifolie
V Gallica-Rose > Aimable Rouge ODER Belle de Crécy ODER Duc de Guiche ODER Tricolore de Flandre
VI Aimable Rouge
Innerhalb des von uns gewählten sprachlichen Schemas gelangen wir von einem weitmaschigen Begriffsnetz, das aus Ordnungs- und Artbegriffen wie Lebewesen, Pflanzen, Blumen, Tulpen, Rosen, Wildrosen und Kulturrosen (I–III) geknüpft ist, zu einem engmaschigen Begriffsnetz, das aus Namen von Sorten wie Alba-Rose, China-Rose, Damaszener Rose, Gallica-Rose, Moosrose und Zentifolie (IV) geknüpft ist.
Zuletzt gelangen wie zu dem innerhalb unseres sprachlichen Schemas am dichtesten verwebten Begriffsnetz, das ausschließlich aus Eigennamen wie Aimable Rouge, Belle de Crécy, Duc de Guiche und Tricolore de Flandre (V) geknüpft ist.
Der Endpunkt unserer begrifflichen Bestimmungen ist der Name für eine spezifische Rosenart, Aimable Rouge (VI), den wir mittels des Verfahrens des systematischen Aufwickelns oder der Negation all jener Begriffsfäden gewinnen, die von ihm wegführen, angefangen von tierischen Lebewesen, Tulpen und Veilchen, Wildrosen und jenen Sorten von Kulturrosen, die nicht zur der Sorte der Gallica-Rose gehören.
Natürlich wird der Rosenkenner, dem wir eine Aimable Rouge zeigen, ihren Namen und den ihrer speziellen Sorte, Gallica, ohne weiteres auf den Lippen haben, ohne umständlich die von uns auseinandergefädelte und detaillierte begriffliche Vernetzung sich vor Augen führen zu müssen.
Allerdings haben wir mittels unseres Begriffsnetzes nicht alles gesagt, was zu sagen ist. Denn die wahrgenommene Rose namens Aimable Rouge ist mit dieser Benennung nicht vollständig gemeint. Was wir meinen, wenn wir sagen, dies sei eine Aimable Rouge, ist ja das singuläre Vorkommnis der Rose dieses Namens, die uns vor Augen steht oder auf die wir zeigen.
Wir müssen zu guter Letzt unser feingewebtes Begriffsnetz hinter uns lassen und etwa sagen:
S11 ICH sehe JETZT HIER eine Aimable Rouge.
Wir können das mit ICH und JETZT und HIER Gemeinte, die Inhalte der sogenannten Indikatoren, nicht als zusätzliche Fäden oder Gewebe unseres Begriffsnetzes auffassen. Sie sind vielmehr um im Bild zu bleiben Knotenpunkte oder Befestigungsösen, an denen unser Netz als Ganzes hängt und festgezurrt ist.
Wir müssen so weit gehen zu sagen, das was ICH JETZT HIER sehe, diese Rose namens Aimable Rouge, wäre NICHT DA, wenn ICH nicht DA wäre und sie nicht JETZT und HIER sähe.
Das heißt nicht, daß die wahrgenommene Rose ein bloß subjektives Phänomen oder eine Art Illusion oder Traumbild wäre, genauso wenig wie ICH ein bloß subjektives Phänomen oder eine Illusion oder ein Trauminhalt bin. Denn ich kann von einer Rose dieses Namens nur träumen, wenn ich auch erwachen und dann wissen kann, daß es sich um einen Trauminhalt gehandelt hat.
Wir können auch nicht das mit ICH und JETZT und HIER Gemeinte dadurch objektivieren, daß wir an ihrer Stelle im Satz Beschreibungen oder deskriptive Ausdrücke wie meinen Eigennamen, ein bestimmtes Datum und einen bestimmten Ort eintragen.
Denn wir können keinen letztlich schlüssigen Beweis dafür antreten, daß der mit jenem Eigennamen Bezeichnete ICH bin. Der mit JETZT bezeichnete Zeitpunkt und der mit HIER bezeichneten Ort existieren nur als Funktionen im subjektiven oder egologischen Feld dessen, der HIER und JETZT von sich ICH sagt.
Der auf der Uhr festgestellte Zeitpunkt ist nicht DERSELBE AUGENBLICK, an dem ich die Rose sehe. Der auf der topographischen Karte verzeichnete Ort, wo sich jene Rose befindet, ist nicht DIESELBE ORTSCHAFT, an der ich die Rose sehe.
Wenn mein Freund mir erzählt, er habe vor kurzem im Botanischen Garten von Frankfurt oder Leipzig eine Rose der Sorte Aimable Rouge gesehen, gehe ich freilich davon aus, daß er weder lügt noch mir einen Traum erzählt, sondern daß es die genannte Blume an jenem Ort tatsächlich gibt.
Was aber heißt das? Nichts weiter, als daß ich den von meinem Freund geäußerten Satz:
Ich habe kürzlich im Botanischen Garten eine Aimable Rouge gesehen
unter der Bedingung, daß ich mich zu dem besagten Botanischen Garten aufmache und die genannte Rose selbst in Augenschein nehme, bei nächster Gelegenheit meinem Freund gegenüber äußern könnte:
Ich habe kürzlich im Botanischen Garten eine Aimable Rouge gesehen.
Damit ist offensichtlich, daß die Instanz des mit ICH Gemeinten sowohl singulär als auch universell ist. Sie ist die Bedingung dafür, daß wir unsere Begriffsnetze mehr oder weniger engmaschig knüpfen und mehr oder weniger weit in den Fluß unserer Erfahrung auswerfen können. Was immer wir mit diesen Netzen einfangen, wäre als bestimmbares Phänomen nicht vorhanden, wenn ich oder du oder wer immer es nicht als Element einer sprachlich zugänglichen Erfahrung auffassen und benennen könnte.
Die von uns gewebten und angewandten Begriffsnetze wie das klassifikatorische von Aristoteles oder das botanische von Linné sind demnach nur scheinbar oder an der Peripherie ontologisch autonom. In letzter Instanz hängen sie von jener lebendigen und begrifflich nicht faßbaren oder ableitbaren Instanz ab, die uns unmittelbar zugänglich ist, wenn wir einen Satz äußern wie: Ich sehe eine rote Rose.
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