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Sprachliches Schema und grammatisches Muster

13.03.2018

Anmerkungen zur philosophischen Sprachlehre

Wenn wir im Schwarz-Weiß-Raum lebten und du sagtest mir:

S1: Diese Fläche ist nicht weiß.

So wüßte ich, daß die von dir gemeinte Fläche schwarz ist, und ich sagte dir auf den Kopf zu:

S2: Diese Fläche ist schwarz.

In der zweidimensionalen Schwarz-Weiß-Welt gilt demnach folgende Implikation:

S1 > S2

Oder:

Wenn eine Fläche nicht weiß ist, folgt daraus, daß sie schwarz ist.

Die Sätze S1 und S2 sind keine Tautologien, denn es nicht dasselbe, zu sagen, etwas sei nicht weiß, und zu sagen, etwas sei schwarz. Demnach folgt hier aus einem Satz ein anderer Satz und die vom Folgesatz mitgeteilte Tatsache ist gegenüber der vom Ausgangssatz mitgeteilten Tatsache nicht trivial.

Nun, gehen wir in unsere alltägliche Mehrfarben-Welt. Hier gilt evidentermaßen die oben genannte Implikation NICHT. Denn aus der Feststellung, daß diese Fläche nicht weiß ist, folgt hier keineswegs, daß sie schwarz ist, sie kann blau, grün oder rot und noch etwas anderes sein.

Formulieren wir in unserer Mehrfarben-Welt folgenden Satz:

S3: Diese Fläche ist rot.

Aus diesem Satz können wir konsistent andere Sätze ableiten wie:

S4: Diese Fläche ist NICHT grün.
S5: Diese Fläche ist NICHT blau.
S6: Diese Fläche ist NICHT grau.

Wir gelangen zu folgendem sprachlichem Schema einer gültigen Ableitung:

Wenn S3, dann gilt S4 UND S5 UND S6.

Formulieren wir in unserer Mehrfarben-Welt folgenden Satz:

S7: Diese Fläche ist NICHT rot.

Aus diesem Satz können wir anhand unseres sprachlichen Schemas konsistent andere Sätze gültig ableiten wie:

S8: Diese Fläche ist MÖGLICHERWEISE grün.
S9: Diese Fläche ist MÖGLICHERWEISE blau.
S10: Diese Fläche ist MÖGLICHERWEISE grau.

Wir gelangen zu folgendem sprachlichen Schema einer gültigen Ableitung:

Wenn S7, dann gilt: S8 ODER S9 ODER S10.

Aus der Feststellung, daß eine Tatsache besteht, folgt demnach die Feststellung, daß gewisse andere Tatsachen NICHT bestehen.

Wenn ich gestern im Park war, folgt daraus, daß ich NICHT gleichzeitig im Kino gewesen bin. Wenn du das Kind von Paula bist, folgt daraus, daß du NICHT das Kind von Erika bist. Wenn du 180 cm groß bist, folgt daraus eine unendliche Reihe von negativen Tatsachen wie, daß du NICHT 170 cm groß bist, NICHT 181 cm groß bist usw. Wenn ich ein gebürtiger Rheinländer bin, folgt daraus daß ich KEIN Bayer bin.

Aus der Feststellung, daß eine Tatsache NICHT besteht, folgt die Feststellung, daß gewisse andere Tatsachen MÖGLICHERWEISE bestehen. Dies ist die schlichte semantische Ableitung der logisch nichtausschließenden Aussagen aus unserem sprachlichen Schema.

Wir können eine sich hieraus ergebende weitere Implikation so formulieren:

Aus der Feststellung, daß eine Tatsache NICHT besteht, folgt NICHT die Feststellung, daß notwendigerweise eine andere Tatsache besteht.

Wenn ich gestern NICHT im Park war, folgt daraus NICHTS Weiteres über die Orte, an denen ich mich aufgehalten habe. Wenn du nicht in Petra verliebt bist, folgt daraus NICHTS weiter über deine erotischen Neigungen, weder daß du in Irene verliebt bist noch daß du überhaupt verliebt bist. Wenn die Erde keine Scheibe ist, folgt daraus nicht, daß sie eine Kugel ist. Wenn du nicht 180 cm groß bist, folgt daraus NICHTS weiter über deine tatsächliche Größe. Wenn du kein Bayer bist, folgt daraus NICHTS weiter über deine tatsächliche regionale Herkunft.

In einer monochromen Welt wüßten wir uns weder zu orientieren noch könnten wir Feststellungen über den Farbwert einer gesehenen Fläche machen. Wir benötigen demnach zumindest EINEN Farbwert wie Weiß oder Schwarz UND seine Negation, um aus der Feststellung, daß diese Fläche NICHT weiß ist, zu folgern, daß sie schwarz ist.

In einer polychromen Welt wie der Welt unseres Alltags können wir uns leicht orientieren, weil wir von der Feststellung eines vorliegenden Farbwerts auf das Nichtvorhandensein aller anderen Farbwerte schließen können und von der Feststellung eines nicht vorliegenden Farbwerts auf das Vorhandensein eines der anderen möglichen Farbwerte schließen können.

Wir nennen das, was uns Orientierung und die Möglichkeit zu beliebigen Aussagen über visuelle Farbphänomene in unserer Welt verschafft, das sprachliche Schema oder das grammatische Muster, mit dem wir unsere Aussagen über die genannten Phänomene ordnen.

Dabei spielt es keine Rolle, wie unser Seh- und Farbsinn physiologisch ausgestattet oder unsere Farbwahrnehmungen kulturell determiniert sind. Sollten die alten Griechen oder Ägypter oder heutzutage irgendwelche exotischen Insulaner mit einem anderen Seh- und Farbsinn ausgestattet (gewesen) sein und ihre Farbwahrnehmungen kulturell anders determiniert (gewesen) sein, so verfügten und verfügen sie doch über ein sprachliches Schema oder ein grammatisches Muster, das wir an unser Schema und Muster wie einen Maßstab an den anderen (wie Zoll und Meter) anlegen und ineinander übersetzen können. Insofern gibt es keine prinzipielle Hürde zwischen ihnen und uns, die uns das Verständnis ihrer Aufzeichnungen oder Äußerungen über visuelle Phänomene unmöglich machen würde.

Wir setzen bei der Übersetzung von Äußerungen über visuelle Phänomene im Farbraum zwei fundamentale semantisch-logische Merkmale und Kriterien voraus, die wir insofern als universell oder allgemeingültig ansehen können, als sie zur semantischen Grundausstattung von Sprache und Grammatik überhaupt gehören: Identität und Negation.

Identität meint die Feststellung, daß etwas dieses Etwas ist, als das wir es benennen: Wir nennen etwas rot, weil wir gelernt haben, DIESES Phänomen im Farbraum so zu benennen.

Negation meint die Feststellung, daß etwas, was wir als rot zu benennen gelernt haben, NICHT zugleich grün sein kann.

Der hier ausgedrückte Sinn von Nicht-Können oder Notwendigkeit ist also gleichsam eine tragende Säule unseres sprachlichen Gebäudes, keine objektive Eigenschaft der Farben Grün und Rot. Denn WIR können nicht eine Fläche im Farbraum als grün und gleichzeitig rot ansehen, gleichgültig, was dies physikalisch bedeuten mag.

Wir unterstellen mit jeder Benennung von etwas als etwas seine Identität und das heißt die Gültigkeit seiner Benennung im Rahmen unseres sprachlichen Schemas.

Wir unterstellen mit jeder Benennung von etwas als etwas die Gültigkeit des Ausschlusses aller anderen gleichsinnigen Benennungen im Rahmen unseres sprachlichen Schemas.

Wenn wir etwas als rotes Quadrat benennen, wissen wir, daß es sich weder um ein rotes Rechteck noch um einen roten Kreis, aber auch nicht um ein blaues oder grünes Quadrat handelt.

Wir gehen allerdings auch selbstverständlich davon aus, daß es sich bei dem genannten Etwas nicht um einen roten Würfel handelt. Sagte uns jemand, eigentlich sei dies ein roter Würfel, dann korrigieren wir ihn dahingehend, daß wir sagen, er spreche wohl von einer Seite des Würfels – denn welche Farben die anderen Seiten aufweisen, falls es sich in der Tat um einen Würfel handelte, wissen wir nicht.

Wenn wir etwas korrekt als rote Rose benennen, wissen wir, daß es sich weder um ein rotes Veilchen noch um eine rote Tulpe, aber auch nicht um eine weiße oder gelbe Rose handelt.

Wir gehen allerdings auch selbstverständlich davon aus, daß es sich bei dem genannten Etwas nicht um eine rote Koralle handelt, denn wir unterscheiden innerhalb unseres sprachlichen Schemas nicht nur Rosen und Korallen, sondern Pflanzen und Tiere.

Bei der Anwendung unseres sprachlichen Schemas spielt es zunächst keine wesentliche Rolle, ob es sich bei der roten Rose um ein Exemplar im Rosenbeet unseres Gartens oder auf dem Genrebild eines flämischen Meisters handelt. Und dennoch ist dies erstaunlich, weil wir hier auf eine weitere grundlegende Unterscheidung innerhalb unseres sprachlichen Schemas treffen: den Unterschied zwischen lebendig und nichtlebendig.

Wir dringen leicht zur Bedeutung dieses grundlegenden Unterschiedes vor, wenn wir ihn anhand der unterschiedlichen grammatischen Muster erläutern, die unsere Begriffe von Natur und Kunst beherrschen. Kurz: Das Lebendige rechnen wir zur Natur, das Fiktive und Artifizielle zur Kunst.

Wir sagen, die gemalte Rosenknospe duftet nicht, ihre Blütenblätter erregt kein Wind, sie wächst und entfaltet sich nicht in einem natürlich-spontanen Vorgang, sie wird nicht von Insekten bestäubt und vermehrt sich solcherart nicht, sie welkt nicht und ihre welken Blätter fallen nicht vom Stiel herab. Oder einfach ausgedrückt: Die gemalte Rose ist weil nicht lebendig, sondern künstlich und fiktional den natürlichen Abläufen im Kreislauf der Jahreszeiten entzogen. Doch je kunstvoller und meisterlicher die fiktive Rose gestaltet ist, umso eher läßt sie uns an all die genannten natürlichen Vorkommnisse und Vorgänge denken – so wie uns andererseits die natürliche Rosenknospe an jene gemalten Rosen auf den Bildern niederländischer Meister denken läßt, in denen ihre vollkommene Naturgestalt kunstvoll und meisterlich getroffen und wiedergegeben worden ist.

Wir können auf der Ebene der reinen Erscheinung oder der rein phänomenalen Ebene schwerlich einen Unterschied zwischen dem roten Farbwert der natürlichen und dem der gemalten Rose ausmachen, insbesondere wenn diese auf geistvolle Weise wie bei den Niederländern mit Naturfarben dargestellt und in das illusionistische Spiel von Licht und Schatten getaucht ist.

Daraus ersehen wir, daß wir streng zwischen dem Phänomenalen (die natürliche UND die gemalte Rose) und dem Fiktionalen (die gemalte Rose) unterscheiden sollten.

Wenn wir uns auf die Tiefenstruktur unseres sprachlichen Schemas verlassen, erschließt sich uns die klassische Auffassung in einem deutlichen Licht, nämlich daß die Kunst uns die Erinnerung oder artifizielle Verdichtung der Natur in ihren künstlich zur Vollkommenheit und Einzigartigkeit gesteigerten Formen und Gestalten gewährt und vor Augen führt.

Wir bringen das uns Verständliche und Sagbare oder Darstellbare zur Sprache und in die Kunst, denn mehr als daß dieses etwas eine natürlich oder gemalte Blume (und kein natürliches oder gemaltes Tier wie eine Koralle) ist, und diese Blume eine Rose und diese Rose eine rote Rose, läßt sich nicht sagen.

Gehen wir einen Schritt weiter, einen Schritt gleichsam über die Sprache hinaus, und fragen nach der Berechtigung unseres sprachlichen Schemas und unserer grammatischen Muster, geraten wir ins Unverständliche und nicht Sagbare oder nicht Darstellbare. Denn mit den Bestimmungen, die uns die Sprache an die Hand gibt und die uns im Leben orientieren, haben wir den Raum des Verständlichen gleichsam ausgeschöpft.

Wir können unser sprachliches Schema auf das Ganze der Welt, das Ganze unseres Lebens und Daseins NICHT in dem Sinne anwenden, wie wir mittels seiner etwas als etwas wie dieses Phänomen als rote Rose bestimmen und benennen. Und das impliziert auch, daß wir NICHT in der Lage sind, unser sprachliches Schema auf sich selbst anzuwenden.

Denn könnten wir die Welt und unser Dasein im Ganzen als ein Etwas oder eine identische Entität bestimmen und benennen, als eine Tatsache unter all den Tatsachen, die wir in der Tat bestimmen und benennen können, müßten aus dieser Feststellung, wie wir gesehen haben, andere Feststellungen folgen, denen zufolge wir wüßten, was die Welt oder wir selbst NICHT sind – wie aus der Feststellung, dies sei eine rote Rose folgt, daß es sich dabei NICHT um eine weiße Rose, geschweige denn um eine rote Koralle handelt.

Aber was folgt aus der Feststellung, daß es die Welt und uns gibt?

Wenn wir die Negation innerhalb unseres sprachlichen Schemas und im Rahmen eines spezifischen grammatischen Musters anwenden, können wir aus negierten Sachverhalten, wie im Falle, daß diese Rose nicht rot ist, auf mögliche positive Sachverhalte oder mögliche Tatsachen schließen, wie daß die Rose weiß oder gelb oder lila sein könnte.

Doch wir können die Negation nicht auf unser sprachliches Schema überhaupt anwenden, denn nichts zu sagen, heißt nichts weniger als irgendetwas zu sagen oder heißt schlicht zu schweigen.

Wir können die Negation zwar im Rahmen bestimmter grammtisch-semantischer Muster auf Tatsachen und Tatsachenkomplexe anwenden und so vielleicht eine Welt imaginieren, in der es keine Rosen gäbe. Aber schon uns eine Welt zu imaginieren, in der es keine Pflanzen gäbe, übersteigt unser Vorstellungsvermögen, denn in unserer Welt ist die Existenz der Tiere zum größten Teil abhängig von der Existenz von Pflanzen, insofern sie sich von diesen ernähren, wenn aber die Existenz von Tieren so auch die Existenz von Menschen. Der begriffliche Unsinn steigt zwar gern zu Kopf, stinkt aber gen Himmel, wenn er aus der Anwendung der Negation auf Tatsachenkomplexe hervorgeht, die wiederum andere Tatsachenkomplexe bedingen oder implizieren. So steht es um die meisten Begriffe sogenannter möglicher Welten.

Was wäre demnach vom Begriff einer Welt ohne Menschen zu sagen? Nun, es ist eben ein sinnloser Begriff. Denn eine Welt jenseits des Menschen wäre eine Welt ohne Sprache, die Welt ist aber für uns das mittels der Sprache Denkmögliche. Folglich ist eine Welt ohne Sprache für uns nicht einmal zu denken möglich.

Denn wie wir sahen impliziert ein negativer Sachverhalt, wie daß diese Rose nicht rot ist, die Möglichkeit von Tatsachen, die der Rahmen unseres sprachlichen Schemas eröffnet, wie daß die Rose weiß oder gelb oder lila ist.

Was wäre demnach vom Begriff eines totalen Negation oder der Negation aller wirklichen und möglichen Tatsachen zu halten? Der Gedanke des Nichts ist aber kein Gedanke, denn er impliziert nicht die mindeste Denkbarkeit einer möglichen anderen Tatsache.

Und dennoch sind wir in inspirierten Augenblick getrieben, uns das Dasein der Rose gleichsam außerhalb unseres sprachlichen Schemas als Phänomen sui generis zu imaginieren. Diese Art der Inspiration ähnelt dem Gefühl der nackten Existenz, wenn wir seltsam erregt fühlen, DASS es die Welt gibt, DASS wir existieren und als sprachliche Wesen existieren, deren sprachliche Fühler gleichsam alles innerhalb der sprachlich zugänglichen Welt abtasten, was für sie Dasein und Bedeutung besitzt.

Wir kommen hier an die Grenze dessen, was wir sagen und meinen können.

Rilke hat diese Grenzerfahrung in einem seiner französischen Gedichte aus dem Zyklus Exercises et Évidences auszudrücken gesucht:

 

Rainer Maria Rilke, Cimetière

Y en a-t-il d’arrière-goût de la vie dans ces
tombes? Et les abeilles, trouvent-elles dans
la bouche des fleurs un presque-mot qui se
tait? Ô fleurs, prisonnières de nos instincts
de bonheur, revenez-vous vers nous avec
nos morts dans les veines? Comment
échapper à notre emprise, fleurs? Comment
ne pas être nos fleurs? Est-ce de tous ses
pétales que la rose s’eloigne de nous? Veut-
elle être rose-seule, rien-que rose? Sommeil
de personne sous tant de paupières?

 

Friedhof

Gibt es einen Nachgeschmack des Lebens in diesen
Gräbern? Und die Bienen, finden sie im
Mund der Blumen ein Beinahe-Wort, das sich
verschweigt? O Blumen, Gefangene unserer Gier
nach Glück, kehrt ihr nach unserem Tod zu uns
zurück in unsere Venen? Wie wollt, Blumen,
ihr unserem Zugriff entrinnen? Wie
nicht unsere Blumen sein? Fliegt auf all ihren
Blütenblättern uns die Rose davon? Will
sie Rose sein allein, nichts als Rose? Niemandes
Schlaf unter so viel Lidern?

 

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