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Philosophische Konzepte: Zweideutigkeit

20.12.2017

Dein Freund Walter hat dir, wie er es versprochen hat, das Buch, das du ihm ausgeliehen hast, zur verabredeten Zeit unbeschädigt zurückgegeben. Du magst sein Verhalten korrekt oder anständig nennen, dein Vertrauen in den Menschen wird vielleicht wachsen, sodaß du bereit bist, ihm auch zukünftig den einen oder anderen Gefallen zu tun.

Sollen wir aufgrund dieses Beispiels annehmen, Walter habe anständig gehandelt, weil er einen anständigen Charakter habe, weshalb er die Neigung zeige, in ähnlichen Fällen sich ähnlich korrekt zu verhalten, also annehmen, er werde dir auch eine Summe Geld, die du ihm ausleihst, wieder pünktlich zurückbezahlen?

Doch könnte es geschehen, daß Walter, solltest du ihm aufgrund des ihm zugebilligten Vertrauensvorschusses tatsächlich Geld geliehen haben, es dir nicht zum verabredeten Zeitpunkt zurückzahlt. Wirst du denken, er könnte in noch größere finanzielle Not geraten sein, ob selbstverschuldet oder unfreiwillig? Er schäme sich vielleicht seines Versagens und habe den peinlichen Rückzahlungstermin stillschweigend verstreichen lassen? Würdest zu seinen Gunsten annehmen, er habe gewiß die Absicht, sich bald zu melden oder dir zu schreiben und sich schriftlich zu erklären? Beschleicht dich gar die Ahnung, Walter könnte in ernsthaften Schwierigkeiten oder erkrankt sein? Oder wärst du in dieser Situation eher versucht, das positive Bild, das du dir über Walters Charakter gemacht hast, in Frage zu stellen und vielleicht zu revidieren – und der Gedanke an Anstand käme dir zunächst nicht mehr ohne weiteres in den Sinn, wenn du an deinen Freund Walter dächtest?

Nehmen wir an, Walter habe sich bald bei dir gemeldet, sich für sein Versäumnis entschuldigt und dir am nächsten Tag das Geld ausgehändigt. Jetzt scheinen alle Zweifel ausgeräumt und der Charakter deines Freundes in seiner Geradheit und Anständigkeit wieder offen zutage zu liegen. Doch wenn du eines Tages erfahren solltest, daß er die Geldsumme, die er dir ganz korrekt ausbezahlt hat, heimlich der schwarzen Kasse des Ladens, in dem er angestellt war, entnommen, also gestohlen hat?

Wir finden andere Beispiele, die uns vor Augen führen, daß unsere Erwartungen nicht nur hinsichtlich des Verhaltens anderer im allgemeinen, sondern hinsichtlich ihrer moralischen Einstellungen im besonderen bisweilen bestätigt, manchmal indes enttäuscht und wir eines besseren belehrt werden. So erfahren wir von einem, den wir wegen seiner Trägheit und Nonchalance nicht gerade zu den heroischen Charakteren zählten, er habe sich überaus tapfer verhalten, als er in ein brennendes Haus vorgedrungen sei und ein kleines Kind aus dem Inferno gerettet habe.

Gilt nicht, was wir von bestätigten und widerlegten Annahmen über das Verhalten anderer sagten, a fortiori von uns selbst? Sind wir nicht bisweilen in mißlichen Situationen der Gefahr oder Unsicherheit gleichsam von uns selbst überrascht, weil wir tapfer oder gelassen reagierten, obwohl wir uns selbst eher als hasenfüßig oder unbeherrscht einschätzen? Müssen wir demnach, wie wir das Bild, das wir uns von anderen machen, je nach der Bestätigung oder Widerlegung unserer Erwartungen, gleichsam abrunden oder übermalen, auch unser Selbstbildnis im Verlauf unserer Lebenserfahrung erweitern oder übermalen?

Wenn wir jemandem eine moralische oder psychologische Eigenschaft mittels Eigenschaftswörtern wie anständig und korrekt, tapfer und mutig, gelassen und beherrscht oder ihrer Gegenteile wie gerissen und tückisch, feige und hasenfüßig, jähzornig und unbeherrscht zuschreiben, sprechen wir über unsere Erwartung, daß jemand sich in bestimmten Situationen so oder anders verhält. Die Liste solcher Eigenschaften, die unsere Erwartungen hinsichtlich der Zuschreibung moralischer oder psychologischer Eigenschaften von Personen betreffen, ist lang und enthält neben Eigenschaften wie pfiffig und verschlagen, ehrlich und verläßlich, fürsorgend und selbstsüchtig, verantwortungsbewußt und rücksichtslos auch die sogenannten Kardinaltugenden Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit.

Wir schließen nicht aus der Tatsache, daß wir im Gegensatz zu Eigenschaften wie Größe, Farbe oder Gewicht eines Gegenstands, die sinnlich wahrnehmbar sind, Eigenschaften wie Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit als intelligible oder geistige Eigenschaften auffassen müßten, weil sie uns als solche nicht unmittelbar sinnenfällig vor Augen treten. Vielmehr gehen wir davon aus, daß diese Eigenschaften nichts weiter bezeichnen als unsere Beobachtungen, wie und in welchem Ausmaß Personen in relevanten Situationen weise, tapfer, besonnen oder gerecht handeln. Und weil wir bisweilen oder des öfteren beobachtet haben, daß sich jemand beispielsweise in angespannter Lage zurückhaltend, gelassen und abwägend verhalten hat, erwarten wir, daß er sich bei nächster Gelegenheit nicht anders, sondern ebenfalls besonnen verhalten wird. Doch unsere Erwartung hat keine stabilere und festere Basis als eine Annahme über ein beliebiges zukünftiges Verhalten einer Person und ist demgemäß eine mehr oder weniger begründete, aber keineswegs gewisse Hypothese.

Moralische Eigenschaften sind ein spezieller Typus psychologischer Eigenschaften, die denselben semantischen und epistemischen Kriterien der Beschreibung und Identifizierung unterliegen. Wir beschreiben beide als Neigungen und Verhaltenstendenzen, wir erkennen beide an typischen Formen der Äußerung, des Gebarens und Handelns.

Vergleichen wir in diesem Lichte die beiden Aussagen:

Schon bei geringen Frustrationen neigt er zur Zornausbrüchen.
Auch in ausgelassener Runde neigt er zur Mäßigkeit.

Den Unterschied von moralischen und psychologischen Eigenschaften können wir kurz so skizzieren: Schwerfälligkeit oder Flinkheit, rasche Auffassungsgabe oder Stumpfsinn, Jähzorn oder Sanftheit, Ängstlichkeit oder Forschheit, Melancholie oder Heiterkeit sind charakterliche Prägungen, deren genetische Grundlage tiefergreifenden Erziehungs- und Umerziehungsmaßnahmen widersteht. Zwar haben auch moralische Eigenschaften wie Tapferkeit, Mäßigkeit und Besonnenheit eine charakterliche Verankerung, denn das jähzornige oder ausschweifende Naturell wird kaum die Neigung zur Gelassenheit und Mäßigung an den Tag legen. Doch können moralische Eigenschaften bei guter Veranlagung durch Übung und Erziehung an Prägnanz und Stabilität gewinnen. Dennoch gereichen dem noch so Intelligenten noch so ausgetüftelte intellektuelle Übungen nicht zu jenem Maß an Weisheit im Urteil und Handeln, das den weniger Intelligenten befähigt, das Bessere vom Guten zu unterscheiden oder statt den bequemen Weg ins Verderben den steinigen Weg zum seltenen Glück der Selbstüberwindung zu wählen.

Urteile über moralische Eigenschaften sind demnach Hypothesen über das zukünftige Verhalten von Personen unter Anwendung genereller Prämissen über die Wahrscheinlichkeit der Stabilität und Konstanz eines solchen Verhaltens. Die generellen Prämissen sind Erfahrungsregeln. So unterstellen wir beispielsweise Personen, die sich in herausragenden Gefahrensituationen besonnen oder tapfer verhielten, daß sie in weniger herausragenden, doch immer noch angespannten Situationen in gleicher Weise reagieren werden.

Betrachten wir folgende induktive Schlußfolgerung:

Wenn jemand sich unter Lebensgefahr als tapfer erwiesen hat (weil er beispielsweise ein Kind aus einem brennenden Haus gerettet hat), dann wird er sich auch in weniger gefährlichen Lagen tapfer zeigen.

Doch nichts schließt aus, daß unser Held bei nächster Gelegenheit das Weite suchen wird. Und sollte er sich demnächst bei einer geringeren Herausforderung hasenfüßig verhalten und die Beine unter die Arme nehmen, werden wir auch hinsichtlich seiner früheren Heldentat bedenklich: Könnte es sein, daß er als Mitglied der freiwilligen Feuerwehr die Gefahr durch die Flammen, aus denen er das Kind gerettet hat, anders als das erschrockene und bewundernde Publikum, nämlich sachverständig und nüchtern als geringer einschätzte, als es den Anschein hatte? Könnte er damals den Helden markiert haben, weil sich eine von ihm umworbene Dame unter den Zuschauern des Unglücks befand, die er beindrucken wollte, sodaß sein Motiv zumindest ein gemischtes war, Tapferkeit und Geltungssucht?

Wir schließen aus diesen Überlegungen, daß wir von moralischen Eigenschaften nur im Horizont unserer Erwartungen hinsichtlich des Verhaltens im Kontext unsicherer, mehr oder weniger wahrscheinlicher induktiver Folgerungen sprechen können. Moralische Eigenschaften sollten nicht mit physischen Dispositionen verwechselt werden, denn diese sind mittels einer kausalen Erklärung eindeutig beschreibbar und identifizierbar wie die Disposition des Fensterglases zu zerspringen, wenn es von einem Stein getroffen wird, während wir uns einen zweiten Sokrates vorstellen können, der wie der Lehrer Platons seine Tapferkeit bei etlichen Gelegenheiten seines Lebens wie in den Feldschlachten des Peleponnesischen Krieges bei Potidaia und Delion unter Beweis gestellt hat, aber am Ende seines Lebens mithilfe seiner Schüler die feige Flucht aus dem Gefängnis wählte.

Doch würden wir angesichts dieser weniger idealen Version von Sokrates unterstellen, sein tapferes Verhalten im Krieg gerate unter der Retrospektive seiner Flucht aus dem Gefängnis in ein verdächtiges Zwielicht? So wie Judas, der zeitlebens ein guter Apostel seines Herrn gewesen sein mag, dessen ganzes Dasein aber aufgrund seines Verrats in ein unauflösliches Zwielicht getaucht wurde?

Betrachten wir negativ konnotierte Eigenschaften wie Verachtung und Haß. Kommen wir hier, was die Beschreibung und Identifizierung betrifft, nicht auf sicheren Grund? Doch können wir beispielsweise den Haß eindeutig entweder als psychologische oder moralische Eigenschaft ausweisen? Wir werden dem empfindsamen oder neurasthenischen Menschen, der gegen Lärm allergisch ist und es haßt, wenn er in seiner stillebedürftigen geistigen Arbeit durch den Radau der Nachbarn oder das Schrillen der Kreissäge gestört wird, diese starke Abneigung als psychologische Eigenschaft zuschreiben. Was aber sagen wir, wenn er jahrelang unter dem Krakeelen der im Hof spielenden Nachbarskinder zu leiden hatte und sich am Ende seine Aversion gegen diesen Lärm auf seine Quelle, die Kinder, überträgt? Haßt er nun diese Kinder oder haßt er gar Kinder überhaupt, wie er selber auf Befragen zugesteht, und würden wir annehmen, seine psychologische Eigenschaft der Aversion gegen Lärm sei in die moralische Eigenschaft des Hasses auf Kinder umgeschlagen? Doch im Sommer sahen wir ihn im Park, ein kleines Mädchen an der Seite, mit dem er in einem Bilderbuch blätterte und die abgebildeten Tiergeschichten liebevoll ausfabulierte.

Was ist aber der Haß, was die Verachtung? Nichts mehr und nichts weniger als die Neigung, bei Gelegenheit und in bestimmten Situationen sich aversiv oder aggressiv zu verhalten. Der Feingeist, der die Vulgarität verachtet und die Dummheit haßt, flüchtet aus dem Trubel und lauten Gewimmel des Jahrmarkts oder läßt sich gar, wie Wittgenstein als Volksschullehrer, dazu hinreißen, den dummen Buben, der verstockt ist und nichts begreifen will, zu ohrfeigen. Werden wir sagen, hier sei eindeutig die psychologische Abneigung dem moralischen Fehlverhalten beigesprungen oder in das moralisch verwerfliche Handeln übergesprungen? Doch können wir nicht sagen, Wittgenstein habe den dummen Schüler gehaßt, denn er hat auch für ihn sein Wörterbuch für Volksschüler in den mühsam seiner Erholungszeit abgerungenen Abendstunden verfertigt.

In manchen oder vielen Fällen ist der Haß der Ausdruck der verletzten, gekränkten, vergifteten Liebe, und die vergiftete Liebe vergiftet auch den Liebenden oder bohrt sich wie ein Messer in sein Herz. Denn so wie Woyzeck das Messer gegen seine Geliebte richtet, bohrt er es zugleich in sich selbst, er hat sein Leben mit der schrecklichen Tat verwirkt.

Dürfen und sollen wir ausnahmslos die Unzweideutigkeit oder Eindeutigkeit des Hasses behaupten, da wir wissen, daß er der Schatten der Liebe ist? Und ist nicht Liebe, menschlich gesprochen, die Bevorzugung, die Erhebung und gleichsam die Krönung des einen geliebten Wesens vor allen anderen, die dagegen in die graue Masse der Gleichgültigkeit oder des herabgeminderten Mitfühlens herabsinken? Und wird nicht der Liebende einen jeden hassen, der ihm die Geliebte streitig oder abspenstig macht, sei es ihre mißgünstige Mutter, sei es einen Rivalen oder gar den Tod, der ihm das geliebte Wesen zu rauben droht? So daß wir also zu dem Schluß kommen, Liebe impliziere die Bereitschaft zu hassen? Das uns als lichtzugewandte Seite des Lebens erscheinende Fühlen, Sinnen und Wollen impliziere die moralisch verwerfliche dunkle Seite des Lebens?

Wir geraten, wie es scheint, in unserer Beurteilung und Zuschreibung moralischer Eigenschaften von Personen immer wieder auf schwanken Grund und in einen manchmal nicht auflösbaren Nebel der Zweideutigkeit.

 

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