Philosophische Konzepte: Weg
Viele Wege sind uns gebahnt und gespurt, der Weg zum Supermarkt, der Weg zur Arbeit, Wege zu Freunden. Auf gebahnten Wegen, die von vielen täglich begangen werden, kennen wir uns aus. Wir achten nicht auf Baum und Strauch, die am Rande stehen, es sei denn im Frühjahr vielleicht auf die ersten zarten Sprossen oder das satte Gelb der Forsythien, im Herbst sehen wir unter uns Klumpen brauner Blätter. Nur wenn es regnet, sind wir aufgeweckter und vermeiden es, in Pfützen zu treten, ebenso im Winter, auf gefrorenem Boden auszugleiten. Auf bekannten Wegen fühlen wir uns auch im Dunkeln, wenn Laternen genügend Licht spenden, einigermaßen sicher oder nicht allzu unsicher, denn wir wissen, wo es langgeht, daß dort die Abbiegung oder Kreuzung kommt, daß es jetzt nur mehr ein paar Schritte gilt, und wir sind zu Hause.
Anders bei unbekannten Wegen oder Wegen, die durch fremde Viertel, Orte, Gegenden führen. In diesen Fällen machen wir uns vorab kundig, wie wir zu gehen haben, wir befragen den Ortskundigen oder studieren den Stadtplan oder die Wanderkarte. Dabei vertrauen wir auf die Hinweise, die uns der Fremde oder der Plan gibt, auch dann, wenn wir schon einmal durch falsche Hinweise oder veraltete Stadtpläne in die Irre geführt worden sein sollten. Gibt uns der Fremde verläßliche Auskunft, machen wir uns ein Bild von der zurückzulegenden Strecke, indem wir uns die Hinweise „geradeaus, dann links bis zur übernächsten Kreuzung, dann rechts und etwa 200 Meter wieder geradeaus“ einprägen. Wir erreichen unser Ziel, wenn wir die Hinweise wie Vorschriften der Reihe nach abarbeiten oder gedanklich abhaken.
Wir sagen, der Weg führe uns vom Ausgangspunkt zu dem Ziel, das wir erreichen wollen. Der Ausgangspunkt ist bestimmt durch den Ort, an dem wir uns gerade eben aufhalten, der Zielpunkt durch den Ort, wo wir hinwollen. Hier stoßen wir auf die eigentümliche semantische Rolle der Indikatoren „ich, hier, jetzt“, die wir als unmittelbare Funktionen des subjektiven Lebens erkennen: Dort, wo es kein subjektives Lebens gibt, kann es keinen Ausgangspunkt eines Weges geben. Oder: Der Sinn der Rede von Wegen ist eine Markierung am Horizont des subjektiven Lebens. Noch anders gesagt: Es kann keine objektiven oder Wege an sich geben. Wir dürfen demnach Wege nicht mit Strecken verwechseln, die man beispielsweise in einem kartesischen Koordinatensystem zwischen Punkten abtragen kann, die durch ihre jeweiligen Achsen-Koordinaten definiert sind.
Die Semantik unserer Rede von Wegen ist eine andere als die Semantik unserer Rede von Strecken.
Der Ausgangspunkt unseres Weges ist also dadurch gegeben, daß wir uns dort aufhalten, und sein Zielpunkt dadurch, daß wir dort hinwollen. Es existieren offenkundig keine objektiven Ausgangspunkte und Zielpunkte in der Welt, in der wir leben. Wir können zwar Ausgangs- und Zielpunkt unseres Weges auf dem Stadtplan oder der Wanderkarte mit einem Kreuz versehen und mit einer farbigen Linie verbinden. Wir können also unseren Weg wie eine Strecke auffassen und sogar als Strecke definieren, indem wir beispielsweise ihre geographischen Koordinaten mittels GPS angeben. Aber diese Strecke erweist sich nur dadurch als Weg, wenn wir einen der angekreuzten Punkte als einen Ort auffassen, an dem wir uns gerade aufhalten, und den anderen Punkt als einen Ort, an den wir gelangen wollen.
Wir kommen auf diese Weise auch zur Einsicht, daß unsere Rede von Orten zweideutig ist. Sie erfüllt gänzlich verschiedene semantische Rollen, je nachdem, ob es sich um Orte entlang einer Strecke oder um Orte, an dem von uns gewählten Weg handelt. Wir bringen Klarheit in unsere Rede, wenn wir den Ort an einer Strecke Position, den Ort an einem Weg eben Ort nennen, wie wir auch von unserem Standort oder Wohnort sprechen.
Erinnern wir uns an die Beobachtung, die man öfters in Parkanlagen machen kann: Da ist ein schmaler Pfad oder Streifen Fußwegs als Abkürzung zwischen zwei schon bestehenden Wegen kürzlich oder vor nicht langer Zeit neu gebahnt worden. Sind die ersten Spuren gelegt, folgen die Leute nach und nach und mehr und mehr dieser Einladung und gehen auf dem neuen Pfad, sodaß er sich wie wir sagen breittritt oder befestigt. Irgendwann sieht er so aus, wie die „offiziellen“ Wege und wird als solcher akzeptiert.
Erinnern wir uns an eine andere Beobachtung, die man öfters auf dem platten Land machen kann, wenn Wiesen und Felder von einer dicken Schicht Neuschnee bedeckt sind: Wir gehen einen Spazierweg, auf dem der Schnee von eifrigen Spaziergängern und Wanderern bereits in einer Gangschneise fest zusammengepreßt ist, und bemerken, daß vor uns Fußstapfen vom eingetretenen Pfad abweichen und sich im Wald verlieren. Da es wieder heftig zu schneien angefangen hat, gewahren wir auf dem Rückweg an derselben Stelle, daß die Spuren des einsamen Wanderers vom frischen Schnee aufgefüllt und verschwunden sind.
Sagen wir es so: Neue Wege werden gebahnt, und alle Welt folgt den gebahnten und bequemen Spuren. Diese neuen Wege haben sich bald bewährt und finden allgemeinen Zuspruch, sie unterscheiden sich nach einer Weile nicht mehr von den alten Wegen. Dann sehen wir solitäre und singuläre Wegbahnungen, einsame Spuren, denen keiner folgt, die sich gleichsam nicht trivialisieren und konventionalisieren. Die Alltagswege der gebahnten Pfade werden von Alltagsmenschen begangen, weil sie glatt, sauber und sicher sind, weil man auf diesen Wegen ein Stück gemeinsam zurücklegt oder sich immer wieder trifft und grüßt oder auch voreinander verlegen wegschaut.
Die einsamen Pfade indes bahnen vielleicht Zeitgenossen, die nicht oder nicht gern gesehen werden wollen, aus welchen Gründen auch immer, weil sie ein Stigma tragen oder weil sie etwas auf dem Kerbholz haben, weil sie Ruhe suchen oder von Schrecken gequält oder von Verzückungen heimgesucht werden, die man ungern mitteilt oder die auf taube Ohren stoßen würden, oder weil sie in die Wildnis ungedachter Gedanken vordringen. Manchmal verlieren sich ihre Spuren und die einsamen, kühnen oder tollkühnen Pfadfinder selbst verschwinden bei der Bahnung eines neuen Weges oder kommen im Weglosen und Unwegsamen um. Die zurückkehren, haben vielleicht die erste Bahnung eines neuen Denkwegs oder einer neuen Ausdrucksweise dichterischer oder bildnerischer oder musikalischer Natur gewagt, die nun auch mutige andere betreten können.
Wären uns alle Wege des Lebens im Buch des Schicksals oder im Weltenplan des göttlichen Demiurgen vorgezeichnet, gäbe es nach unserer Definition überhaupt keine Wege, sondern nur Strecken, gäbe es nur definierte Positionen auf diesen Strecken, aber keinen Standort, an dem wir uns als subjektiv Lebende aufhielten, keine Ausgangs- und Zielpunkte unserer Wege.
Wir können allerdings den einmal eingeschlagenen Weg abbrechen oder verlasen, auf einen Seitenweg ausweichen oder bei einer Kreuzung anders als geplant abbiegen. Und wenn wir aus dem Haus gegangen sind, wollen wir bisweilen gleich wieder umkehren, doch unser anfänglicher Schritt läßt sich nicht verwischen und tilgen, wenn er gewisse Folgen nach sich zieht – und er zieht immer irgendwelche Folgen nach sich, und sei es einen Fußabdruck im Schnee oder die Tatsache, daß uns der Nachbar an der Haustür freundlich gegrüßt hat.
Insbesondere können anfängliche Schritte und Wegbahnungen aufgrund singulärer historischer Entscheidungen zwar unterbrochen, aber nicht rückgängig gemacht werden. Der Weg Cäsars über den Rubikon ist dafür exemplarisch. Die Entscheidung, seine militärischen Schritte gegen Rom und den Senat zu wenden, hat alsbald dessen Reaktion und damit den Beginn des Bürgerkriegs und des Kampfes um die Zentralmacht in die Wege geleitet, der schließlich im Umbau der römischen Republik zur monarchischen Staatsform mündet. Eine Verkettung und Überkreuzung von Wegrichtungen, die kaum noch zu entknoten und zu entflechten gewesen wären.
Wir haben uns freilich den Ausgangspunkt unseres Lebensweges nicht ausgesucht, er ist uns durch Geburt und Herkunft, aufgrund unserer Stellung in der Familie, unserer genetischen Ausstattung mit Dispositionen für Krankheiten und Begabungen, Neigungen und Abneigungen sowie der kulturellen Herkunftsgruppe mit ihrer sprachlichen und rituellen Überlieferung auf den Leib geschneidert. Doch ähnlich wie der Wanderer unterwegs von einem Gewitter überrascht wird und sich in eine Hütte flüchtet, wo er einen Fremden trifft, mit dem er sich gut versteht und sie gehen bald ein Stück des Weges gemeinsam, begegnet auch uns das Schicksal in Gestalt von Glücks- und Unglücksfällen und der eine oder die andere kreuzt unseren Lebensweg und wir ändern unser Vorhaben oder streben einem gemeinsamen Ziel zu.
Auch wenn uns, wenn wir nicht vorher sterben, gewisse Wegmarken wie die Entwicklungsschwellen und Lebensstufen von der Kindheit über die Pubertät, die Jahre der Reife und des hohen Alters zu passieren nicht freisteht, können wir eigentlich nur im Rückblick von unserem Lebensweg oder besser dem Geflecht und Gespinst unserer verwobenen und sich kreuzenden Lebenswege sprechen. Denn meist erfaßt uns ein mit mehr oder weniger großem Schrecken gemischtes Staunen, wenn wir auf dieses Geflecht und Gespinst zurückschauen, daß wir es waren, die daran maßgeblich mit gewoben und gesponnen haben.
Daher sollten wir vielleicht den Begriff des Lebensweges besser vermeiden, um nicht in die Fallstricke biographischer Typologien zu geraten, wie sie uns klassische Allegorien vom Lebensweg vorzeichnen wie der Mythos von Herakles am Scheideweg zwischen den Pfaden der Tugend und des Lasters oder der Mythos von Paris und seiner fatalen Entscheidung, Aphrodite als der schönsten Göttin den goldenen Apfel zu reichen. Aristophanes hat es mit seinem galligen Humor vielleicht besser getroffen, wenn er in seiner Komödie Die Vögel den Fettwanst Herakles beinahe die in seine Nase dampfende üppige Mahlzeit der Wahl der Königsherrschaft vorziehen läßt. In Paris wiederum hat der epische Geist der Griechen einen Typus Mann gemalt, dessen Paarung mit der schönen Helena gleichsam konstitutionell vorbestimmt war.
Doch die metaphorische Rede von den sich kreuzenden Lebenswegen ist philosophischer Betrachtung wert. Ihre Bedeutung erschließt sich leicht, denken wir an entscheidende Begegnungen der Freundschaft und der Liebe, aber auch der Feindschaft und des Hasses, oder um dieser Wahrheit die Ehre zu erweisen: der in Feindschaft umschlagenden Freundschaft und der in Haß umschlagenden Liebe (während das Umgekehrte der bei weitem seltenere, aber interessantere Fall ist). In solchen Begegnungen kommen wesentliche Affekte und Haltungen wie Freude und Anteilnahme, Neid und Bewunderung, Eifersucht und Nachahmungseifer in Anschlag und zum Austrag. Liebe und Haß können den Liebenden völlig vom eingeschlagenen Lebensweg abbringen, die Entscheidung für ein Kind kann ihn zu beruflichen Spitzenleistungen beflügeln, der Verrat der Geliebten ihn die Karriere kosten.
Doch verleitet die Metapher von den sich kreuzenden Wegen auch zu Mißverständnissen, als würden sich Lebenswege wie zwei Strecken in einem Positionspunkt kreuzen oder sich überlagern. Wir können indes nur so viel sagen, daß sich zwei Menschen begegnen und mehr oder weniger aneinander festhalten. Sie gehen einen gemeinsamen Weg heißt, sie synchronisieren und koordinieren ihr Reden und Tun, ohne daß jeder einzelne nicht weiter seinen eigenen Weg verfolgte. Keiner kann die Perspektive eines anderen einnehmen, aber seinen Blick an dem des anderen messen, seinen Standort mit dem des anderen vergleichen, das Verhalten des anderen als angemessene oder überschießende, absonderliche oder verständliche Antwort auf sein Verhalten interpretieren und bewerten.
Wenn wir die Metapher des Lebensweges vermeiden wollen, in welchem Sinne können wir dann, wenn überhaupt, von der Verfehlung eines Lebensweges, von unnötigen Umwegen oder fatalen Abwegen sprechen? Einer verfehlt einen Weg noch nicht, wenn er gerne trödelt und saumselig da und dort verweilt, neugierig da und dort seine Nase hineinsteckt. Vom ärztlichen und therapeutischen Gesichtspunkt aus kann man indes beobachten, wie fruchtbare Begabungen und Talente aufgrund neurotischer Stockungen oder psychotischer Auflösungen an ihrer Entfaltung gehindert werden oder ganz auf der Strecke bleiben. Dabei ist das werthaltige Kriterium kein starres Lebensziel, sondern das Potential möglicher Ausdruckssteigerung und kommunikativer Ausweitung der Person. Auch dieser Möglichkeitshorizont kann nicht exakt vermessen werden, denn ob einer im stillen Stübchen gerne bastelt und zeichnet oder lieber als Mime hundert Leute in Wallung bringt, ob einer zehn Freunde hat oder nur einen, Intensität geht vor Quantität. Wer aber aller Ausdrucksmöglichkeiten ermangelt und gänzlich ins einsame Abseits gerät, hat den Weg verfehlt oder ist auf dem Holzweg.
Wie steht es um den Sinn und die Aussagekraft der Metapher vom Denkweg? Wenn wir wissen, daß unsere Vorfahren auf dem Friedhof liegen und leider zur Kenntnis nehmen müssen, daß ringsum mehr und mehr Freunde und Bekannte das Zeitliche segnen, schreiten wie tapfer zur Folgerung, daß auch wir selbst früher oder später dran glauben müssen. Wir können uns natürlich auch zur logischen Deduktion erheben oder herablassen (denn der generelle Satz, daß alle Menschen sterblich sind, ist eigentlich keine generelle Wahrheit, sondern trotz der keine Ausnahme duldenden trostlosen Lage eine empirische Verallgemeinerung), dann ist der Weg von der Allaussage zu unserer Wenigkeit noch kürzer. Ist also die Logik der gut gebahnte, sichere Weg des Denkens? Keineswegs! Die formale Logik gleicht eher der Taschenlampe, die ich im Dunklen benutze, um mich auf unübersichtlichem Gelände zurechtzufinden. Sie kann mir naturgemäß nicht sagen, ob ich bei dieser Lage den Fuß vor die Schwelle setzen soll. Die Logik gleicht dem Stock, den ich benutze, um den sonst unerreichbaren Apfel aus dem Baum zu schütteln. Sie kann mir nicht weismachen, daß der Apfel reif ist und meinen Geschmack trifft, nur daß ich ihn pflücken sollte, wenn er reif ist und mir danach ist. Die Logik ist ein hocheffizientes, biegsames und bewährtes Instrument, um mir auf meinen Wegen weiterzuhelfen, aber sie kann keine Orientierung darüber geben, welchen Ort ich besser verlassen und welchen ich eher anzielen soll.
Ist der Denkweg besser mit dem Weg vergleichbar, den wir in einem offenen, wechselseitig angeregten Gespräch auf ein zunächst verschwommenes, im Laufe der Unterredung allmählich klarer hervortretendes Ziel hin zurücklegen? Das setzt freilich entweder voraus, daß die Metapher des inneren Gespräches Hand und Fuß hat oder wenn dem nicht so ist wir das einsame Mit-uns-selber-Reden aufgeben und Denkwege nur noch im Dialog beschreiten sollten. Können wir mit uns selbst ein angeregtes und einigermaßen vorbehaltloses oder offenes Gespräch führen? Uns selbst wie einen guten Freund betrachten, der uns bisweilen mit merkwürdigen Fragen und hochgestochenen Theorien behelligt, die wir ihm nach und nach plausibel oder sogar zufriedenstellend beantworten oder wie schillernde Seifenblasen an kleinen kritischen Spitzen zerplatzen lassen? Ich denke, wir können diese Annahme gelten lassen und zum Beleg und Zeugnis eines wenn nicht ganz vorurteilslosen, so doch angeregten und stellenweise vielleicht sogar anregenden Selbstgespräches die hier niedergeschriebenen Zeilen nehmen.
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