Philosophische Konzepte: Hand
Mit der Hand erfassen wir das Organ des Handelns im dreifachen Sinne des Herstellens oder Fertigens, des Tastens und Befühlens, des Bereitens und Tuns. Wir betrachten diese Gebiete menschlicher Lebensäußerung nicht im rein objektiven Sinne, wie es beispielsweise die Technik- und Kunstwissenschaft, die Psychologie und die Verhaltenslehre machen, sondern vom Ausgang dessen aus, der Hände hat und handelt, du und ich.
Gewöhnlich betrachte ich meine Hand nicht, es sei denn eine Mücke hat mich gestochen und ich suche nach der Stelle oder ich schneide mir die Nägel – doch auch dann betrachte ich nicht eigentlich meine Hand wie ich mir ein Hindernis näher anschaue, über das ich gestolpert bin, oder eine hübsche Auslage im Schaufenster, die mir aufgefallen ist.
Auch beobachte ich meine Hand nicht interessiert, neugierig oder erstaunt wie die Taube auf dem Dach oder die Schneeflocken, die unverhofft herabwehen. Wer sorgsam einen Faden ins Nadelöhr einfädelt, schaut nah und scharf auf die Nadel und den Faden, die Hand taucht gleichsam nur als Mitspieler oder Schatten aus dem Hintergrund auf.
Die Hände sind wie mein ganzer Körper in einem seltsamen, schwer zu fassenden Sinne immer für mich da oder mir immer nah, sie haben einen ontologisch eigentümlichen Status der Gegenwärtigkeit wie ansonsten kein Ding und Geschehen der Welt. Es klingt befremdlich zu sagen, man denke an seine Hand, es klingt abwegig, zu sagen, man erinnere sich an seine Hand. Daß wir an etwas denken und uns an etwas erinnern, sind indes wesentliche Haltungen zu den Inhalten der Welt, in der wir leben.
Meine Hand ist demnach im Nahefeld meines Daseins kein Objekt und Gegenstand der Welt, wie sie es für dich ist, wenn du sie drückst, oder für den Hautarzt, wenn er sie untersucht. Ich kann meine Hand nicht verlegt haben und nach ihr suchen, ich kann nicht davon überrascht sein, sie wider Erwarten zu erblicken, ich kann keine Pläne oder Absichten hegen, die sich auf meine Hand beziehen, wie etwa meine Absicht, das Zimmer auszuräumen, die sich auf den Tisch und den Schrank bezieht. Denn wenn ich die Absicht hege, meine Hand chirurgisch oder kosmetisch behandeln zu lassen, bezieht sich meine Absicht nur mittelbar auf meine Hand, unmittelbar aber auf den Vorgang der Behandlung.
Bei der Rede davon, daß ich mich nicht an meine Hand erinnern oder sie wie ein Buch verlegen kann, hat der Ausdruck „Nicht-Können“ keinen kausalen Sinn wie im Falle, wenn ich einen schweren Gegenstand nicht heben oder die hinter Wolken verborgene Sonne nicht sehen kann. Der Ausdruck des Nicht-Könnens hat in diesem Fall einen semantisch-grammatischen Sinn, den wir mit dem Ausdruck des Nicht-Könnens in folgender semantisch-grammatischen Regel vergleichen können: „Wir können Eigenschaftswörtern wie den Farbbegriffen keine Prädikate zuschreiben, die eine Handlung oder einen psychologischen Zustand ausdrücken“, wie wenn wir sagten: „Das Blau hat die Absicht spazieren zu gehen.“
Wenn ich von MEINER Hand spreche, hat dies eine andere semantisch-grammatische Bedeutung, als wenn ich sagte: „DEINE Hand scheint geschwollen zu sein“, doch hat es wiederum dieselbe Bedeutung, wie wenn du sagst: „MEINE Hand ist geschwollen.“
Die semantisch-grammatisch Bedeutung der Personalpronomen der ersten Person Singular (ich, mir, mich, mein), die sich auf meinen Körper und seine Organe (naturgemäß auch auf meine mentalen Zustände) beziehen, ist eine andere als die Bedeutung der anderen grammatischen Personen, auch eine andere, und darauf sei besonders hingewiesen, als die Bedeutung der ersten Person Plural. „Mein Handschuh“ ist semantisch gleichwertig mit dem Ausdruck „dein Handschuh“, während dies nicht für die Ausdrücke „meine Hand“ und „deine Hand“ gilt. Denn ich kann deinen Handschuh mit meinem Handschuh verwechseln und wenn wir etwa gleich große Hände haben, deinen Handschuh statt meinen überstülpen. Ich kann aber meine Hand nicht mit deiner Hand verwechseln und mir nicht mit deiner Hand durch die Haare fahren (von exotischen Situationen abgesehen).
Diesen semantischen Unterschied erhellt auch der Umstand, daß ich im Gegensatz zu Äußerungen wie „Das ist mein Handschuh!“ den Satz „Das ist meine Hand“ normalerweise NICHT äußere oder nur in außergewöhnlichen Situationen äußere, wie wenn wir als Kinder oder wie Kinder unsere Hände abwechselnd aufeinanderlegen und immer die untere wieder wegziehen, um sie oben auf den Haufen aufzulegen (ein Kind könnte ausrufen, wenn ein anderes es auffordert, seine Hand oben aufzulegen, und sie liegt schon da: „Das IST meine Hand!“).
Wir können nicht so von meiner oder deiner Hand reden, wie wir von meinem Buch oder meinem Wohnort oder meiner Arbeit reden. Wir sagen etwa, der Unterschied liege darin, daß ich mein Buch verleihen oder verlegen kann, nicht aber meine Hand, daß ich an einen anderen Ort ziehen kann, nicht aber in einen anderen Körper mit anderen Händen, daß ich eine andere Arbeit annehmen und ausführen kann, nicht aber eine fremde Hand so gebrauchen kann wie meine eigene.
Einem wird eine Hand amputiert und eine künstliche roboterähnliche Hand mit an die Nervenenden angeschlossener Sensorik chirurgisch angefügt. Hier erkennen wir den Unterschied zwischen der Rede von meiner und deiner Hand oder von meiner Hand und meinem Buch anhand folgender Tatsachen: Ich kann auch beim Verlust der Hand meine Hand weiterhin spüren wie beim Phantomschmerz, ich kann die künstliche Hand nur angemessen benutzen, wenn ich sie so in mein Leibschema einpasse, als wäre sie MEINE Hand. Vergleichen wir diesen Fall mit dem Stock eines Blinden: Der Blinde tastet mit der Stockspitze über die Unebenheiten des Weges und SIEHT gleichsam mit der Stockspitze durch die Länge des Stocks hindurch mittels der feinnervigen Reaktionen seiner Hand etwaige Hindernisse.
Um die semantisch-grammatische Sonderrolle des Personalpronomens der ersten Person Singular zu verdeutlichen, erkunden wir weitere Spuren der Ontologie des Daseins der ersten Person Singular oder der Subjektivität im Gespür MEINER Hand: Wir können UNS die Hand geben, aber wir können uns nicht die Hände geben, wie wir etwa UNSERE Bücher tauschen oder UNSERE Meinungen einander mitteilen und austauschen können. Daraus erhellt, daß die semantisch-grammatische Rolle der ersten Person Plural eine wesentlich andere als die Rolle der ersten Person Singular ist.
Am Rande gesagt: Die Subjektivität oder mein und dein Dasein ist keine Ableitung und keine Funktion eines Gruppen-Daseins, eines Gruppen-Wir, ebensowenig wie die Absichten des individuellen subjektiven Daseins eine Ableitung und Funktion einer kollektiven Intentionalität sind. Die Gruppe – unser Verein, unsere Familie, unsere Firma, unser Volk, unser Staat – sind nur per analogiam, aber nicht per essentiam ein gleichsam „großes Ich“. Oder: Die Subjektivität meines und deines Daseins oder die Tatsache, daß ich meine Hand spüre, ist kein soziologisches Datum. Oder anders und pointiert gesagt: Die Subjektivität kann nicht soziologisch abgeleitet werden, es gibt keine Soziologie des subjektiven Daseins. Und wenn es keine Soziologie der Subjektivität gibt, dann a fortiori auch keine Soziologie der Intersubjektivität, denn letztere ist in der Tat eine Ableitung und Funktion der Subjektivität.
Ich kann darüber im Unklaren sein, mein Buch an Walter oder Petra verliehen zu haben, nicht aber darüber, den Druck, die Kälte, die Wärme oder den Schmerz in meiner Hand gespürt oder nicht gespürt zu haben. Doch ist die eigentümliche Gewißheit, meine Hand oder etwas an, auf oder in meiner Hand zu spüren, nicht vergleichbar mit der epistemischen Gewißheit, es als evident zu erachten, daß 2 + 2 = 4, oder mit dem Gewißheitsgefühl, mir soeben die Hände gewaschen zu haben. Ich könnte mich darin irren, mir eben die Hände gewaschen zu haben, weil ich sie mir ständig wasche, da ich unter einem Waschzwang leide. Aber wir würden nicht sagen, jemand irre oder täusche sich darin, einen heftigen Schmerz in der Hand gespürt zu haben oder zu spüren.
Wenn wir sagen: „Du kannst nichts mit meiner Hand spüren“, drücken wir damit nur die Folge der prinzipiellen oder ontologischen Differenz des eigenen vom fremden, des subjektiven vom objektiven Dasein aus oder in der nüchternen semantischen Redeweise: die grundlegende Asymmetrie der Semantik und logischen Grammatik der Äußerungen der ersten Person Singular vom ganzen Rest. Ich kann deine Hand spüren, wenn wir uns die Hand geben, aber nur weil ich den Druck und die Wärme deiner Hand an der meinen spüre; aber ich kann nicht spüren, wie du an deiner Hand den Druck und die Wärme meiner Hand empfindest.
Wir sagen nicht: „Meine Hand spürt die Kühle des Wassers“, sondern: „Ich spüre die Kühle des Wassers in meiner Hand.“ Wir sagen nicht: „Meine Hand spürt, daß der Wasserstrahl kühler wird“, sondern: „Ich spüre die Kühle des Wassers in meiner Hand zunehmen.“ Wir stoßen hier auf dieselbe semantische Problematik wie hinsichtlich der offenkundig unsinnigen Aussage „Mein Gehirn erwartet, daß mein Freund Walter bald kommen wird“ und der sinnvollen Aussage „Ich erwarte, daß mein Freund Walter bald kommen wird.“ Denn nicht mein Gehirn steht in der Relation der Freundschaft mit Walter, sondern ich. In der semantisch aberwitzigen Welt gewisser Neurophilosophen, die das punctum saliens der Jemeinigkeit des subjektiven Daseins verkennen, müßte die Aussage eigentlich lauten: „Mein Gehirn erwartet, daß sein Freund Walter bald kommt.“ Meine Hand kann nicht etwas ertasten, greifen, aufheben oder fallen lassen, nur ich kann dies jeweils mit meiner Hand tun. Wenn ich also sage: „Meine Hand schmerzt“, ist dies schon eine metaphorische Ausdrucksweise für die wörtliche Aussage: „Ich empfinde einen Schmerz in der Hand“ oder „Mir tut die Hand weh.“
Doch ist meine Hand nicht ein Instrument, mit dem ich die Temperatur des Wassers erfühle, wie das Thermometer ein Instrument zur Temperaturmessung ist. Die Organe meines Körpers sind keine Instrumente, zum Beispiel Instrumente der Empfindung und sinnlichen Wahrnehmung, mit denen ich erfasse und registriere, was in der Außenwelt passiert. Der Ausdruck Organ ist ein ontologisch mißverständlicher Begriff, wenn er sich beispielsweise auf die Organe meines Körpers wie meine Hand bezieht. Es ist das fatale Erbe des Rationalismus und des Empirismus aus der metaphysischen Trennung von Innenwelt und Außenwelt, die Organe des Körpers als äußerliche Instrumente aufzufassen, die von einer mental dominanten Instanz „da drinnen“, sei es die Seele, sei es das Gehirn, gesteuert und manipuliert werden.
Ich sehe wohl mit meinen Augen, daß und wenn es schneit, aber nicht in dem Sinne, wie ich mit dem Fernglas dort hinten die Kinder am Flußufer spielen sehe. Wenn ich das Fernglas absetze, sehe ich immerhin die Kinder in der Ferne vielleicht noch undeutlich, nur wenn ich die Augen schließe, sehe ich nichts mehr. Um aber etwas mit dem Fernglas zu sehen, muß ICH es mit MEINEN Augen sehen. Ich hebe wohl mit meiner Hand die Papierschnitzel vom Boden auf, aber nicht in dem Sinne, wie ich sie mit einem Handfeger auffege. Ist das Fernglas ein Vergrößerungsmittel meiner Augen und der Handfeger eine Art Verlängerung meines Arms? Erfüllt sich die Bedeutung der Instrumente in ihrer Funktion als Organersatz? Ist das Foto ein künstlicher Ersatz für das visuelle Bild, das ich sah, als ich durch die Kamera blickte und den Auslöser gedrückt habe? Das Bild des Fotos existiert nicht in der Außenwelt, sondern wird nur zum Bild, wenn ich oder du es betrachtest. Die Idee, der Schaber und das Messer, der Faustkeil und die Waffe seien eine künstliche Verlängerung oder ein technisches Surrogat des Organs der Hand hat die moderne Anthropologie fasziniert und theoretisch orientiert, doch wie wir vermuten irregeführt.
Wir können ein optisches Aufnahmegerät so programmieren, daß es in einem Satelliten in bestimmten Zeitabständen kontinuierlich Aufnahmen von der Marsoberfläche macht. Doch das Gerät, das uns die Bilder zur Beobachtungsstation auf der Erde sendet, sieht nichts, sondern die Ingenieure und Astronomen oder Physiker sind es, die sich anhand der gelieferten Daten ein Bild machen. Wir reden nur metaphorisch davon, daß Raumsonden mit ihren Aufnahmegeräten die Umgebung beobachten und sehen.
Das Kind, das mit seinen Händen und Fingern Kugeln oder Figürchen aus Knete formt, ertastet, während es die Gestalt aus der Knetmasse herausdrückt, die Umrisse und das Volumen der Form und ist erst zufrieden, wenn sie sich so anfühlen und so aussehen, wie es ihm vorschwebt. Das Gefühl der tastenden Hand sagt gleichsam dem Kind (neben dem Abtasten der Gestalt mit Blicken), wie das, worum es ihm geht, beschaffen ist.
Aufgrund der Tatsache, daß das Kind die Gestalten und Formen aus der Knetmasse eigenhändig gebildet hat, erhebt es den Anspruch, daß es seine Dinge seien oder die Dinge ihm gehören. Der Begriff des Eigentums kann demnach von der Tatsache abgeleitet werden, daß wir Dinge – Objekte, Geräte oder Kunstwerke – mit eigener Hand, nach eigenem Gusto und Willen, verfertigt haben. Das Material, aus dem wir sie bilden, muß naturgemäß von uns rechtmäßig erworben oder allgemein und frei zugänglich sein, wie der Sand am Meer, aus dem Kinder Burgen bauen, oder die Wiesenblumen und Gräser, aus denen sie Kränze flechten, oder wie ehedem die Allmende, auf der die Bauern der Gemeinde mit eigener Hände Arbeit Getreide anbauten und als ihr Eigentum beanspruchten und feilzubieten berechtigt waren.
Der Begriff des Eigentums, so will es uns bedünken, ist ein Spezifikum unserer Welt, das heißt der Welt des subjektiven Daseins. Die Kultur des Eigentums beruht demzufolge auf der Natur der Subjektivität. So paradox es klingen mag, der Begriff des Eigenen und der aus ihm sich ergebende Begriff des Eigentums können nicht rein soziologisch erklärt und aus der Soziologie der Arbeit und des Marktes abgeleitet werden. Letztere setzt den Gedanken des Subjektiv-Eigenen schon voraus. Das Eigentum hat demgemäß eine wirkliche Analogie zur Jemeinigkeit unseres Körpers und seiner Organe wie meiner und deiner Hand. Das Geld, mit dem wir heutzutage Eigentum erwerben, ist ein ferner Reflex der ursprünglichen eigenhändigen Aneignung der Dinge. Die ursprünglich eigenhändige Aneignung der Welt erkennen wir noch an der Art, wie der frühe Mensch an den Wänden seiner steinzeitlichen Behausungen und Kultstätten den Abdruck seiner Hand hinterlassen hat: gleichsam als Signatur, in dem Sinne, wie wir einen Brief oder der Künstler ein Bild namentlich unterzeichnet.
Die Zeichnung und das Gemälde sind nicht vorstellbar ohne die Fähigkeit des Künstlers, mit seiner Hand (und nicht nur mit den Augen) fühlend und rhythmisch tastend zu sehen. Er führt, wie wir sagen, den Blei- und Kohlestift oder den Pinsel, doch gleichzeitig sieht und fühlt er mit seinem Malinstrument, was er tut und vollbringt. Die Hand ist nicht bloß die dienstbare Magd des künstlerischen Willens, sondern ein Fühler und Resonanzkörper, der die feineren Nuancen, Schwingungen und versteckten Potentiale einem sinnenden Wanderer gleich in der unentdeckten Landschaft des weißen Blattes auslotet und aufspürt. Vergleichen wir das weiße Blatt mit dem ganz von Neuschnee bedeckten Feld, so zieht die Hand gleichsam ihre Spuren, zart geriffelte oder grausam einschneidende Linien und Furchen, die den Künstler manchmal überraschen oder inspirieren, manchmal erschrecken, so daß er sie lieber wieder verdeckt und verschließt.
Der Blinde muß sich hörend und tastend die Welt erschließen. Ihm entblößen die Dinge nach und nach ihr individuelles Gesicht, das er mit seiner tastenden Hand in seinen Konturen und Unebenheiten nachzieht. Die Dinge zeigen ihm ein deutlicheres, plastischeres Gesicht als dem Sehenden, denn seine Farben und Formen sind gleichsam die haptischen Eindrücke des Sanften und Rauhen, der Kühle und Wärme, des Runden und Eckigen, des Flachen und Voluminösen.
Aufgrund unseres leiblichen Daseins sind wir ursprünglich mit dem Begriff der Raumtiefe vertraut, denn wir erfüllen selbst einen vage umrissenen Raum und erleben die Raumtiefe, wenn wir aufstehen und gehen, die Arme heben und senken, wenn wir schwimmen oder tauchen. Alles, was uns unmittelbar angeht und berührt, erachten wir in einem ontologisch singulären Sinne für nah oder uns nah, zuvörderst die eigenen leiblichen Regungen wie das Gefühl, müde oder erregt, hungrig oder satt zu sein, sodann die Elemente der Umwelt, wie die Luft, die wir atmen und die wir uns zufächeln, der Wind, der uns zaust, die drückende Atmosphäre des heraufziehenden Gewitters, die Sonnenwärme und der schneidende Frost, Regen und Schneegestöber, das Licht des Tages und die Dunkelheit der Nacht, das Schniefen unserer Nase oder die Kantate von Bach, der wir lauschen, schließlich die einzelne Dinge, die uns streifen oder die wir berühren, nach denen wir greifen oder die wir vor uns sehen.
Der hier begegnende Begriff der Nähe ist dimensionslos, denn er führt definitorisch keine Abmessungen der Länge, Breite und Tiefe mit sich: Hunger ist uns nicht näher als Durst, die lastende Atmosphäre vor einem Gewitter ist uns nicht weniger nah als die transparente Luft nach einem Sommerregen, der dampfende Dunst der Sauna ist uns nicht ferner als das Wasser, in dem wir baden, und die heikle oder bedrohliche Nähe, die wir meinen, wenn uns das Gewimmel der Fußgänger in der Einkaufspassage bedrängt, ist nicht in Metern und Zentimetern abzumessen.
Ähnlich dimensionslos ist das Nahefeld unserer Hand, das uns einen Blick in die räumliche Intimität des subjektiven Daseins eröffnet. Die Dinge, die uns zur Hand sind, wie das Besteck und Geschirr, das Bild, das wir an die Wand gehängt haben, die Blumen, die wir in der Vase auf dem Tisch harmonisch angeordnet, oder die Kissen, Bücher, Kerzen, die schönen Halbedelsteine, die wir als Dekor um uns gebreitet haben, sie geben uns eben jenen Begriff der subjektiven Nähe, der mit dem meßbaren Abstand von Sessel und Sofa keine semantische Verwandtschaft hat.
Gewiß wären die Nähe und Intimität des Eros und des liebend-vertrauten Umgangs ohne das Getast und Gefühl, die uns die Hand vermittelt, nur ein leerer Wahn. Den Geliebten berühren und seine Haut mit der Hand fühlen bedeutet nicht, seine körperliche Anwesenheit mittels des informierenden Instruments der Hand registrieren oder die Beschaffenheit seiner leiblichen Oberfläche taxieren. Die zärtliche Berührung ist vielmehr ein Modus subjektiven Lebens, in dem uns die Berührung des anderen uns selbst näherbringt und Weisen des Selbstgefühls erschließt, die anders ungeahnt und unerfühlt blieben.
Ähnlich dimensionslos wie das intime Raumtiefe eröffnende Nahefeld des subjektiven Daseins ist der Augenblick oder die Gegenwart, in der es sich unmittelbar vorfindet. Wenn ich erwache und noch bevor ich aus dem Dämmerzustand durch die plötzliche, ebenso schmerzliche wie erleichternde Klarheit über den Ort meines Aufenthalts und die ungefähre Tageszeit herausgerissen werde oder in meiner Erfahrung raumzeitlich vereindeutigt und sachlich dimensioniert werde, bin ich gleichsam in die ringsum ausgefranste und wogende Atmosphäre eines vorzeitlichen Augenblicks getaucht, in dem ich noch nicht weiß, wer ich bin, wie ich heiße, in welchem Erdteil und Land, in welcher Stadt und welcher Wohnung ich mich aufhalte, ob ich jung oder alt, kerngesund oder todkrank bin, welche Sprache ich spreche oder gar wieviel Geld ich auf dem Konto habe oder ob ich verheiratet oder verwitwet bin. An diesem intimen Quellpunkt der unmittelbaren Gegenwart bin ich meiner diffus und ohne die Ränder eines klar konturierten Körpers inne. Mein Leib ragt wie eine gerade aus der ozeanischen Tiefe aufgestiegene Insel ins diffuse Licht einer unbestimmten Tages-, Jahres- und Lebenszeit. Mein Bewußtsein hat sich noch nicht in den klaren Umrissen meiner Gliedmaßen situiert. So schwebt auch meine Hand wie eine schwerelose Namenlosigkeit an meinem Irgend- und Nirgendwo-Arm, noch weit entfernt davon, daß sie der erste Impuls durchzuckte, dies und das zu ergreifen – was ich natürlich gleich tue, wenn ich nach der Uhr taste, um mich zu vergewissern, ob ich nicht verschlafen habe.
Wir können uns der vorpersönlichen, unstrukturierten und schwachen Selbst-Gegenwart begrifflich nähern, wenn wir sie zwischen einer unbestimmten Mannigfaltigkeit und einer individuellen Einzelheit als Grenzbegriffen einordnen. Am einen Ende haben wir den Fall, daß da irgendetwas ist, doch was es ist, bleibt unerfindlich, denn es wechselt unaufhörlich oder auf chaotische Weise seine Bestimmungen, am anderen Ende identifizieren wir anhand eindeutiger Kriterien wie Augenfarbe, Größe, Alter, Geschlecht, Geburtsdatum und -ort, Bildungsweg, beruflichen Werdegangs, daß es sich augenscheinlich um mich oder dich handelt. Die Zwischen-Existenz, die wir suchen, die diffuse Selbst-Gegenwart eines reflexionsfähigen, aber geistig abwesenden, eines sprachfähigen, aber schweigenden, eines willensfähigen, aber ohnmächtigen, eines handlungsfähigen, aber passiven Bewußtseins können wir weiterhin begrifflich mittels Negationen eingrenzen: Es ist nicht niemand und kein bestimmter Jemand, demnach ist es ein Nicht-Keiner oder Irgendeiner. Dieser unvereinzelte Irgendwer findet sich in einer umrißlosen leiblichen Gegenwart vor, doch ist solch ein namenloser Jemand sich keines konkreten Körpers bewußt, mit dessen Gliedmaßen wie der Hand er zielgerichtete Gesten und Handlungen auszuführen beabsichtigen könnte. In semantischer Redeweise ausgedrückt: Im Zustand des herabgestuften Wachbewußtseins oder der schwachen Selbst-Gegenwart sind wir nicht in der Lage, Äußerungen mittels der Verwendung der Personalpronomen der ersten Person Singular zu bilden wie: „Ich spüre einen Druck auf meiner Hand!“, geschweige denn Äußerungen unter Verwendung anderer grammatischer Personen wie: „Deine Hand ist geschwollen“ oder „Seine Hand ist geschwollen.“
Der Quellpunkt des subjektiven Lebens ist demnach die ausdehnungslose, zeitlich undimensionierte schwache Selbst-Gegenwart. Mit vollem und starkem Wachbewußtsein schwindet sie zu einem vagen Nebelfleck ähnlich dem stets vorhandenen, aber unsichtbar bleibenden blinden Fleck auf der Retina dahin. Am zeitlichen Nullpunkt des subjektiven Daseins führen wir gleichsam eine anonyme Existenz, absichtslos, erwartungslos, jenseits oder besser vor der Schwelle, auf der die traute Schar oder das Empfangskomitee der Gefühle, Einstellungen und Handlungsintentionen unserer harrt. Wir erleben diese flache, weil bodenlose Selbst-Gegenwart aber immer wieder in Intermittenzen des Wachbewußtseins, im Zustand der Träumerei, der Verliebtheit, der Inspiration oder Ergriffenheit, und sie scheint wie oft bemerkt unserer künstlerischen Kraft eine durch nichts ersetzbare ambrosische Nährlösung darzubieten.
Es existiert ein unsichtbares Kontinuum zwischen jenem Noch-nicht-Cäsar, der vielleicht am Morgen des 10. Januar 49 vor Christus im Halbschlaf sich von den Wellen eines Flusses umronnen fühlte, und dem hellwachen historischen Subjekt Cäsar, der am selben Tag den Rubikon überschritt, und ihn möglicherweise nicht überschritten hätte, wäre ihm im Zustand schwacher Traum-Gegenwart jenes imaginäre Erlebnis oder ein vergleichbares nicht widerfahren.
Es mutet geradezu paradox an, daß der Träger und Aktor der historischen Zeit eben jener Subjektivität des menschlichen Lebens entspringt, die in ihrem vorpersonalen und anonymen Stadium unbekümmert einer zeitlich unausgedehnten Gegenwart frönt. Das subjektive Leben ist demnach janusköpfig: Im Dämmerzustand des unpersönlichen Daseins ist es sich selbst ohne den klaren Horizont des intentionalen Lebens mit all seinen Absichten und Handlungsoptionen in reiner Selbst-Gegenwart gegeben. Im gleichsam aufgeweckten und aufgerichteten Zustand nimmt es sein Dasein in die Hand und spannt den Horizont des Weiter-so, des Weiter-Sagens und Wieder-Tuns um sich auf.
Zuletzt sind wir aufgrund der Ausführung unserer Handlungen mit eigenen Händen die Vollzieher und Vollbringer des eigenen Lebens, und dies in dem Maße, daß wir das eigenhändig Getane nie anonym, sondern stets im eigenen Namen vollzogen haben werden. Nur als freie und freiwillige Täter mit eigener Hand sind wir für unser Tun verantwortlich. Sind uns dagegen die Hände gebunden und erliegen wir einer Nötigung oder unaufhebbaren Einschränkung unserer Handlungsfreiheit, kann die Folge unserer Unterlassung oder unseres wahnhaften Agierens uns gegebenenfalls nicht angerechnet werden.
Gewiß können wir manchmal sagen: „Meine Hand hat mir nicht gehorcht“, wenn uns die Ausführung einer absichtsvollen Handlung wie des Zeichnens einer möglichst geraden oder gleichmäßig geschwungenen Linie oder des Bildens einer Schlaufe oder eines Knotens wegen großer Nervosität oder Unaufmerksamkeit mißlang. Doch kann der Mörder, der sein Opfer bei vollem Bewußtsein, mit offenkundigem Vorsatz und aus niedrigen Beweggründen mit einer Pistole erschossen oder eigenhändig erwürgt hat, sich nicht aus der Verantwortung stehlen, indem er vorgibt, seine Hand sei ihm ausgerutscht oder seine Hände wären einem Krampf erlegen gewesen.
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