Philosophische Konzepte: Äußerung
Wir unterscheiden Äußerungen der ersten Person im Indikativ Präsenz von Aussagen der dritten Person (in beliebigen Zeitstufen). Wir geben ein paar Beispiele von Äußerungen:
1.1 „Ach!“
1.2 „Aua!“
1.3 „Mir ist übel!“
1.4 „Verflixt und zugenäht!“
1.4 „Wie schön diese Aussicht ist!“
1.5 „Ich fürchte, sie wird nicht kommen!“
Die aufgeführten Äußerungen der ersten Person haben den Charakter von Ausrufen, deshalb sind sie orthographisch mit einem Ausrufezeichen gekennzeichnet. Wir können Ausrufe dieser Art auch an der Intonation erkennen, wenn die Stimmführung beispielsweise lauter oder exaltierter als in gewöhnlichen Sätzen beschreibender Art ist.
Wir könnten sagen, diese Äußerungen sind jeweils der Ausdruck eines bestimmten seelischen Erlebens: „Ach!“ drückt vielleicht Erstaunen aus, „Aua!“ Schmerz, „Mir ist übel!“ physisches Unbehagen, „Wie schön ist diese Aussicht!“ die Freude am Anblick einer Landschaft.
Die Äußerung 1.5 scheint eine Besonderheit insofern aufzuweisen, als sie eine komplexe oder zusammengesetzte Aussage darstellt, die wir in eine einfache Form analysieren oder zerlegen können:
1.5.1 „Ich (fürchte), daß p“
Das Prädikat des übergeordneten Satzes referiert hier auf den Inhalt des Nebensatzes, der kein Einzelding, sondern einen Sachverhalt meint (die Tatsache, daß sie nicht kommt).
Wir haben das Prädikat eingeklammert, um anzuzeigen, daß wir den Ausdruck in der Klammer durch ein passendes psychologisches Prädikat wie „erwarten, hoffen, bedauern, wünschen, sich freuen“ ersetzen können, ohne daß sich die grammatische Struktur des Satzes ändert.
Es hat den Anschein, als würde der in den anderen Beispielsätzen vorausgesetzte, aber nicht ausgesprochene seelische Erlebnisinhalt in dem Satz 1.5 aus dem verborgenen Hintergrund des Erlebens ins Licht der Sprache auftauchen, denn hier wird er eigens durch ein psychologisches Prädikat benannt („ich fürchte“).
Wenn wir eine andere Person subjektive Äußerungen der genannten Art verlautbaren hören, verstehen wir, bei geeigneten Kontextbedingungen, ohne weiteres, was sie bedeuten oder meinen, kurz, was der Sprecher damit zum Ausdruck bringen möchte. Wenn unser Freund auf unsere unerwartete Mitteilung, daß wir die Freundschaft mit ihm beenden möchten, mit dem Ausruf „Ach!“ reagiert, wissen und verstehen wir, daß er damit sein Erstaunen, seine Verblüffung oder Enttäuschung zum Ausdruck bringt. Wenn er sich stößt und „Aua!“ ruft oder unreife Pflaumen gegessen hat und „Mir ist übel!“ äußert, wissen und verstehen wir ebensogut, was er meint, wie wenn er vergeblich ein kniffliges Rätsel zu lösen versucht und „Verflixt und zugenäht“ ausruft oder bei einem Spaziergang auf dem Rheinhöhenweg plötzlich innehält und ausruft: „Wie schön diese Aussicht ist!“ Und wenn er seine Befürchtung, daß unsere Freundin heute wohl nicht mehr zu uns stößt, äußert, wissen wir alles, was er gemeint hat, denn wir verstehen sowohl, in welchem seelischen Zustand (Befürchtung) er sich befindet, als auch, welchen Sachverhalt seine Befürchtung betrifft (das Ausbleiben unserer Freundin).
Demnach sieht es so aus, als könnten wir subjektive Äußerungen gemäß einer allgemeinen grammatischen Umformungsregel beliebig in objektive Aussagen verwandeln, und es gelte beispielsweise die Bedeutungsgleichheit folgender Sätze:
2.1 „Ach!“ = „Er wundert sich.“
2.2 „Aua!“ = „Er hat Schmerzen.“
2.3 „Mir ist übel!“ = „Er hat Bauchweh.“
2.4 „Verflixt und zugenäht!“ = „Er kann das Problem nicht lösen.“
2.5 „Wie schön diese Aussicht ist!“ = „Er freut sich über die Aussicht.“
Diese Umformungen machen augenscheinlich, daß die landläufige Annahme, das Seelenleben fremder Personen sei für Dritte eine Terra incognita oder nur mittels ausgefuchster wissenschaftlicher Methoden wie der Methode der Psychoanalyse oder der Verhaltenspsychologie zu enträtseln, nichts weiter als ein Mythos im Gefolge der kartesischen Unterscheidung von Körper und Geist darstellt. Das Seelenleben liegt gleichsam auf der Oberfläche von Mimik und subjektiven Äußerungen der Person zutage, und die vielbeschworene epistemische Asymmetrie zwischen erster und dritter Person löst sich wie ein Nebel in der klaren Luft des Alltagsverstehens auf.
Die epistemische Symmetrie zwischen Äußerungen der ersten Person und Aussagen der dritten Person beruht auf der Tatsache, daß jemand, der die objektive Aussage macht „Er hat Schmerzen“, in der Lage sein muß, die subjektive Äußerung „Ich habe Schmerzen“ zu machen.
Dennoch treffen wir, wenn nicht auf eine epistemische, so doch auf eine logisch-grammatische Asymmetrie zwischen den erwähnten Äußerungen der ersten Person und ihren Umformungen in Aussagen der dritten Person. Denn im Prinzip können wir viele von uns als objektiv gekennzeichnete Aussagen der dritte Person wiederum in andere bedeutungs-, aber nicht sinngleiche Aussagen umwandeln, dergestalt, daß wir die subjektiven Ausdrücke, die in den Aussagen 1. Stufe enthalten sind (wie die Rede von Schmerzen oder Freude) eliminieren. Nehmen wir folgendes Beispiel:
3.1 „Er hat Schmerzen.“
3.2 „Die C-Fasern im Gehirn der Person X werden stimuliert.“
Wir können nicht wissen, ob jemand, dessen C-Fasern stimuliert werden, notwendigerweise Schmerzen empfindet. Und wir können nicht folgern, daß jemand, dessen C-Fasern stimuliert werden, notwendigerweise den Ausruf „Aua!“ verlauten lassen wird – denn wir wissen, daß jemand, auch wenn er Schmerzen empfindet, nicht notwendigerweise „Aua!“ rufen muß.
Demnach wüßten wir in einer Welt, in der Personen nur objektive Aussagen der genannten Art verlautbaren könnten, nicht, was die Äußerung „Aua!“ in unserer Welt bedeutet.
Die Möglichkeit, dem anderen als dritte Person und in der grammatischen dritten Person das Erlebnis von Schmerzen zuzusprechen, setzt voraus, sich selbst als erste Person und in der grammatischen ersten Person das Erlebnis von Schmerzen zuzusprechen. In unserer Welt ist demnach die Grammatik von Äußerungen der ersten Person primär und originär gegenüber der Grammatik von Aussagen der dritten Person – denn ich kann dem anderen das Haben von Schmerzen nur zusprechen, wenn ich weiß, was der Ausruf „Aua!“ bedeutet.
Sich über die Aussicht auf eine schöne Landschaft zu freuen oder das Ausbleiben der Freundin zu befürchten hat jeweils keine spezifische Ursache, wie wir sie beim Erlebnis von Schmerzen annehmen, falls einer sich gestoßen hat oder seine C-Fasern im Gehirn stimuliert werden. Die Freude angesichts des Anblicks der Landschaft könnte daher rühren, daß der Betreffende sich an schöne Tage seiner Kindheit erinnert, die er dort verlebt hat, und die Befürchtung hinsichtlich des Ausbleibens unserer Freundin hat ihren Grund vielleicht darin, daß der Betreffende in sie verliebt ist.
Wir sprechen bei der Beurteilung von subjektiven Äußerungen von den Motiven und Gründen, die zu ihnen Anlaß geben. Der Horizont des Verstehens, in dem uns Äußerungen in der ersten Person zugänglich und verständlich werden, ist der Horizont der Motive und Gründe, die sie haben zu äußern, was immer sie äußern.
Wenn uns die Befürchtung unseres Bekannten hinsichtlich des Ausbleibens unserer Freundin unverständlich ist, so beispielweise aus dem Grund, weil wir nicht wissen, daß er in die Frau, mit der ihn bisher eine herzliche, aber nichterotische Freundschaft verband, neuerdings verliebt ist.
Der Gebrauch psychologischer Prädikate in subjektiven Äußerungen ist entgegen der landläufigen Annahme von ihrer logischen Irrelevanz oder Irrationalität in ein dicht verwobenes Netz logischer Beziehungen eingebettet. Die Gründe für unser Erleben können wie das Verliebtsein irrational sein, doch der Zusammenhang der Gründe für die Zuschreibung unserer Erlebnisse mittels angemessener psychologischer Prädikate ist es nicht. Wer befürchtet, daß etwas geschieht, hofft oder wünscht, daß es nicht geschehe. Wer befürchtet, daß etwas nicht geschieht, hofft oder wünscht, daß es geschehe. Wer sich am Anblick einer Landschaft erfreut, wäre enttäuscht zu erfahren, daß er dabei einer verklärenden Illusion aufgrund der berauschenden Wirkung des von ihm zu reichlich konsumierten Weins oder anderer Stimulantien aufgesessen ist. Wer die Absicht äußert, etwas zu tun, impliziert das Wissen oder die begründete Vermutung, daß er durch die Wahl geeigneter Mittel seine Absicht verwirklichen und bei der Wahl ungeeigneter Mittel seine Absicht verfehlen kann, er hofft oder wünscht, durch den Erfolg seiner Handlung einen Zweck zu erreichen, und befürchtet, ihn infolge der Wahl unzuträglicher Mittel zu verfehlen.
Der Zusammenhang der Gründe für die Zuschreibung psychologischer Prädikate in Äußerungskontexten ist demnach ein logischer Zusammenhang von Implikation und Folgerung.
Äußerungen, wie Äußerungen des Erstaunens und der Verblüffung, des Wohlbehagens oder der Mißstimmung, des Mitempfindens oder des Erschreckens, sind auch die psychologische Grundlage unseres Verstehens von künstlerischen Artefakten wie Gemälden, Musikstücken, Dramen oder Gedichten. Wenn wir nicht über die Möglichkeit verfügten, unserem von der Betrachtung eines Bilds oder dem Hören von Musik erweckten seelischen Erleben in Äußerungen der genannten Art, die naturgemäß Äußerungen der erste Person sind, zumindest virtuell Ausdruck zu geben, bliebe uns der Zugang zu diesen Artefakten versagt.
Wir sprechen hier von der ästhetischen Anmutung, die sich in der angemessenen Verwendung psychologischer Prädikate in Äußerungskontexten kundtut. So geben uns die in Partituren klassischer Werke den einzelnen Stücken oder Abschnitten vorangestellten Vortagsbezeichnungen wie „accelerando“, „adagio“, „furioso“, „gracioso“ oder „vivace“ erhellende Fingerzeige auf das, was wir unter ästhetischer Anmutung verstehen.
Kommt uns beim Hören des mit andante con moto bezeichneten zweiten Satzes von Schuberts Trio op. 100 ein „Oh, ja!“ melancholisch-leidenschaftlicher Ergriffenheit über die Lippen, scheint unsere Reaktion auf die musikalische Anmutung nicht unangemessen, wie sie wäre, wenn wir ein gelangweiltes „Ach, nein!“ zu äußern willens wären. Es wirft auf die Grundlage ästhetischer Werturteile ein erhellendes Licht, daß wir geneigt sind, die erste Äußerung als Ausdruck einer angemessenen Erfassung der ästhetischen Anmutung der Musik anzusehen, während wir die zweite bestenfalls als die Folge geistiger Zerstreuung oder schlimmstenfalls als die Folge roher Unbildung erklären würden.
Wir können unsere virtuellen ästhetischen Äußerungen ohne weiteres explizieren und kommen so von einem interjektiven „Oh, ja!“ zu einer Aussage über Leidenschaft, Eros und Melancholie, die wir einander in hoffentlich geistreichen Plaudereien in den Konzertpausen mitteilen mögen. Auf diese Weise machen wir uns klar, daß auch objektive oder sachliche Aussagen, wie sie uns mehr oder weniger gediegene, mehr oder weniger langatmige Interpretationen von künstlerischen Artefakten wie Musikstücken anbieten, letztlich aus der Quelle von subjektiven Äußerungen der ersten Person schöpfen.
Natürlich liegt der tiefere Grund dafür, daß wir Zugang zur Kunst über die Explikation unserer subjektiven Äußerungen in der ersten Person gewinnen können, in dem Umstand verborgen, daß das Kunstwerk selbst, wie beispielsweise das andanto con moto im Trio Schuberts nicht ohne die künstlerische Äußerung eines wenn auch unausgesprochenen „Oh, ja!“ des Komponisten selbst zustande gekommen wäre, eine Äußerung, die er fähig war, in seiner Partitur auf feinsinnige und ergreifende Weise zu explizieren.
Siehe:
https://www.youtube.com/watch?v=000tLGbhdjg
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