Zeichen und Bewußtsein II
Anmerkungen zum immanenten Zusammenhang von Sprache, Logik und Bewußtsein
Wir können den Zusammenhang von Sprache, Logik und Bewußtsein nicht mittels Beobachtung ausmachen und begründen. Alles, was wir bestenfalls mittels Beobachtung ausmachen können, sind typische Verhaltensmuster, die von typischen Reizmustern ausgelöst werden.
Es sieht so aus, als verstehe der Hund die Schrittgeräusche seines nahenden Herrchens oder seinen Geruch als Anzeichen für sein wahrscheinlich baldiges Eintreffen. Der Hund läuft zur Tür und bellt aufgeregt. Dieses Verhalten ist ein Muster in einem Repertoire tierischen Verhaltens, das durch bestimmte typische Reize ausgelöst wird. Typisch ist der Schritt seines Herrchens, auch wenn er heute etwas langsamer die Treppe hochgeht als gestern. Typisch ist das Verhalten des Hunds, auch wenn er heute etwas lahmer mit dem Schwanz wedelt und leiser bellt.
Wäre das Pfeilzeichen an der Wand des Hotelgebäudes ein typisches visuelles Reizmuster, das den Betrachter zu einem typischen Verhaltensmuster stimuliert, nämlich in die Pfeilrichtung zu gehen, wäre ich sehr erstaunt wahrzunehmen, daß jemand, der den Pfeil an der Wand durchaus gesehen hat, geradewegs in die andere Richtung marschiert.
Wir kommen zu dem bekannten Schluß, daß Zeichen keine verhaltenssteuernden Signale sind, aber wir begründen ihn anders, nämlich durch die Subjektposition dessen, der sei es natürliche Anzeichen wie den Rauch für Feuer sei es konventionelle Zeichen wie den Pfeil an der Wand als Hinweis auf die räumliche Position des Gebäudeausgangs oder den Ausruf „Feuer!“ als warnende Mitteilung über einen nahen Brand gleichsam in einem gewissen Abstand und Spielraum der Interpretation aufnimmt, der ihm erlaubt, einen Gedanken zwischen die Wahrnehmung des Zeichens und seine Reaktion oder Handlung einzuschalten. Solche Gedanken könnten sein: „Gut, hier geht es also zum Ausgang, aber ich will noch mal auf mein Zimmer gehen, um zu lesen.“ Oder: „Aha, das ist die Stelle in dem Theaterstück, an der das Feuer ausbricht. Ich muß nicht losrennen, es ist ja bloß ein Schauspiel.“
Wollten wir pathetisch reden, nennten wir den Sachverhalt die Freiheit der Interpretation, aber es genügt, nüchtern von der Subjektposition oder der Position des Bewußtseins zu sprechen, die mit dem zu lesenden Zeichen einen immanenten Zusammenhang eingeht. Für immanent können wir auch intern oder logisch notwendig sagen, als Hinweis darauf, daß der Zusammenhang kein externer oder kausal erklärbarer ist.
Interne Zusammenhänge sind logisch notwendige Zusammenhänge, diese lassen sich demgemäß in logisch gültigen Schlußformen ausdrücken. Demgemäß können wir unseren Gedanken auf folgende Weise darstellen:
1. Ich sehe, daß der Pfeil nach rechts weist.
2. Wenn ich die Absicht habe, das Gebäude zu verlassen, folge ich dem Pfeil.
3.1 Ich will das Gebäude jetzt verlassen, also folge ich dem Pfeil.
Den Unterschied zwischen externem und internem Zusammenhang sehen wir unmittelbar, wenn wir den dritten Satz austauschen gegen den Satz:
3.2 Ich will das Gebäude jetzt nicht verlassen.
Wäre der Zusammenhang zwischen Zeichen und Bewußtsein extern oder kausal erklärbar, handelte es sich nicht um ein Zeichen, sondern ein Signal, und nicht um ein Bewußtsein, sondern das Informationszentrum der Verhaltenssteuerung dergestalt, daß zwischen Zeichen und Interpretation nicht ein Gedanke tritt, sondern der Verhaltenskreis zwischen Signal und Reaktion geschlossen wird. Der externe Zusammenhang erschließt sich uns mittels Prognosen oder Wahrscheinlichkeiten von Annahmen für die typischen Reaktionsmuster auf typische Reizereignisse, die wir bei unbedingten Reflexen sehr hoch und bei bedingten, konditionierten oder erlernten Reaktionen als mehr oder weniger hoch ansetzen.
Im Unterschied zu externe Zusammenhängen finden wir im Zentrum oder der Gelenkstelle interner Zusammenhänge logische Schleifen und Gedanken, die auf mehr oder weniger konsistente Weise mit weiteren Gedanken verknüpft zu sein pflegen: Das Pfeilzeichen bringt mich auf den Gedanken, der gewiesenen Richtung zu folgen, wenn ich die Absicht habe, das Gebäude zu verlassen; aber es veranlaßt mich nicht, das Gebäude zu verlassen, wenn ich diese Absicht nicht hege. Das Pfeilzeichen der Wanderkarte am Wegesrand bringt mich zur Überzeugung, daß es der Stellvertreter meiner topographischen Position ist, und diese Annahme ist auf konsistente Weise mit Gedanken verknüpft, die ich so ausdrücken kann: „Wenn ich mich an dieser Stelle befinde, kann ich dem Pfad A folgen und gelange an den See, den ich gerne aufsuchen mag; wenn ich Pfad B folge, gelange ich an die Bushaltestelle und kann den Heimweg antreten. Es ist noch früh am Tag und den See will ich gerne sehen, also schlage ich den Pfad A ein.“
Wir halten fest: Das Setzen und Lesen von Zeichen verweist stringent auf das Dasein des Bewußtseins, und dieses ist nichts anderes, als die Fähigkeit, anläßlich des Umgangs mit Zeichen Gedanken oder Überzeugungen zu bilden.
Dagegen bringt der akustische Reiz der Schritte eines Menschen auf der Treppe den Hund nicht zu dem Gedanken, sein Herrchen sei im Anmarsch, sondern dieses Reizereignis veranlaßt das Tier zu typischen Verhaltensmustern wie dem Bellen und aufgeregten Schwanzwedeln, weil es aufgrund andressierter Verhaltensstereotypien mit Erwartungen assoziiert ist wie der Erwartung, sein Besitzer bringe ihm Leckerlis mit. In ähnlicher Weise bringt das typische Wedeln der Biene die Mitgenossin des Bienenstocks nicht auf den Gedanken, in der Richtung, die der Tanz ihrer Schwester weise, gebe es wohl nektarreiche Blüten zu finden, sodaß sie die Absicht hegt, dorthin zu fliegen; vielmehr veranlaßt sie dieses typische Reizereignis zu ihrem Aufbruch in die gewiesene Richtung.
Die Biene kommt anläßlich des Tanzes ihrer Genossin nicht auf den Gedanken: „Aha, sie zeigt mir die Richtung, in der es nektarreiche Blüten gibt, und dies ist ja die Richtung, in der das Mohnfeld liegt, das ich schon immer einmal gerne besuchen wollte. Dann lohnt sich mein Flug doppelt und also fliege ich dorthin.“ Solche und ähnliche Gedanken hat die Biene nicht, weil sie kein Bewußtsein derart hat, daß sie das Wedeln ihrer Schwester als Zeichen lesen könnte; sondern der Tanz der Mitgenossin ist für sie das Signal, in diese und keine andere Richtung aufzubrechen.
Die Kollegiaten des Tübinger Stifts Hegel, Hölderlin und Schelling gingen einen Freundschaftsbund ein und wählten als Symbolon oder Zeichen ihres Bundes den messianischen Namen „Reich Gottes“. Freundschaft ist ähnlich wie Liebe, Ehe, Nation oder Staat ein institutioneller Begriff, der das Dasein des Bewußtseins voraussetzt dergestalt, daß sie nur als Inhalt einer Überzeugung oder als Gedanke vorhanden ist, ein Gedanke, der mit dem Setzen und Lesen relevanter Zeichen wie des genannten Symbolons auf konsistente Weise verknüpft ist. So wird Hölderlin, wenn er im Evangelium auf den Begriff „Reich Gottes“ stieß, beispielsweise an Hegel gedacht haben, und umgekehrt Hegel an Hölderlin. Das Zeichen ist für das Leben des Freundschaftsgedankens eine Art Nahrung oder geistiger Luft, ähnlich wie der Ehering für die Ehe oder bestimmte Lieder und kulturelle Überlieferungen für die Nation oder die Fahne für das Staatswesen. Sobald Hegel das Symbolon vergessen oder verworfen haben sollte, wäre der Gedanke der Freundschaft und damit die Freundschaft zu seinen Mitgenossen erloschen.
Die Überzeugung von der Freundschaft, die gleichsam ihre Nahrung von dem Freundschaftszeichen erhält, ist mit vielen Gedanken auf konsistente Weise verknüpft. Stieß Hegel beispielsweise auf das Symbolon, dachte er vielleicht an sein Versprechen, seinem Freunde Hölderlin eine Hauslehrerstelle zu vermitteln. Das Versprechen wiederum ist eine Form der Freundschaftsbekundung: Würde Hegel es ohne Not brechen, nähme die Freundschaft schaden, dergestalt, daß Hölderlin von Hegel enttäuscht wäre und demnächst bei der Erinnerung an die Worte der Bergpredigt vielleicht nicht mehr an Hegel denken oder sich seiner mit Groll und Mißmut erinnern würde.
Wir sprechen im Zusammenhang der institutionellen Begriffe von wesentlichen Zeichen, auf die sie zurückgreifen und von denen sie repräsentiert werden können. Die Überzeugungen, in die sie eingehen, sind Gedanken, die nicht nur einem einzigen Bewußtsein zugeschrieben werden, nicht nur einem individuellen Ich, sondern in Kontakt und Austausch stehenden Personen, einem Wir: einer Gruppe von Personen, die dieselben Gedanken individualisieren oder die ihnen zugehörigen wesentlichen Zeichen auf dieselbe Weise gebrauchen und interpretieren. So konstituieren Freunde, die angesichts eines frei gewählten Symbols der Freundschaft einen Treueid ableisten, ihren Freundschaftsbund. Die Verlobten konstituieren beim Austausch der Ringe mit ihrem Jawort vor dem Priester oder Standesbeamten ihren Ehebund.
Das institutionelle Wir ist ein über wesentliche Symbole vermittelter interner Zusammenhang verschiedener Personen. Der Zusammenhang ist kein externer, weil er nicht durch reine Verhaltenssteuerung programmiert und erhalten wird, sondern durch geteilte Überzeugungen vom Dasein und Wert der Institution. Darin unterscheidet sich die menschliche Gemeinschaft von Tiergruppen, deren abgestimmtes Verhalten bei der gemeinsamen Jagd auf Beute oder der gemeinsamen Flucht vor Feinden durch kausal erklärbare Wirkungen von Signalen gesteuert wird, die ein typisches Reaktionsmuster wie eben die Jagd oder die Flucht auslösen. Das Murmeltier wird durch die Wahrnehmung des Greifvogels nicht zu dem Gedanken veranlaßt, es selbst und seine Gruppengenossen seien in großer Bedrängnis und das Beste, was es in diesem Falle zu tun gilt, sei es, sie durch einen Warnruf über die heraufziehende Gefahr zu informieren und ihnen die Zuflucht im Bau nahezulegen. Zwischen der Reizwahrnehmung und der angepaßten Reaktion ist nicht der geringste Raum für einen Gedanken dieser Art, vielmehr wird die Verhaltensreaktion durch die Reizwahrnehmung unmittelbar ausgelöst.
Wir können den Unterschied von externem und internem Gruppenzusammenhang auch darin erkennen, daß wir in Tiergruppen keine wesentliche Zeichen oder institutionellen Symbole finden. Die Mähne des Löwen oder das Geweih des Hirsches sind keine Symbole der Macht, sondern dienen zu Signalen der hierarchischen Stellung des Tieres, die spezifische Verhaltensreaktionen wie die Unterwerfung der weiblichen Tiere oder den Respekt der Konkurrenten hervorrufen. Dagegen sind Thron, Zepter und Krone wesentliche Zeichen und traditionelle Symbole der monarchischen Herrschaft, die ohne die Überzeugung der ihr unterworfenen Untertanen, daß sie die legitime Macht des Monarchen ausdrücken, jeden Gehalt verlieren: Wenn alle oder die meisten Untertanen mit einem Mal glauben, daß es sich bei diesen Accessoires um inhaltsleere Maskeraden handelt, ist der Tag der Revolution nicht fern.
Die Erde, ihre Blüten und Früchte sind die alten Symbole der Muttergöttin Gaia, das Licht verkörpert das wesentliche Zeichen Apollons, Blitz, Donner und Regen sind die mythischen Symbole des Herrschergottes Zeus. Sobald die Überzeugung von der autonomen Macht der Naturbeherrschung durch Technik die Überzeugung von der letzthinnigen Abhängigkeit des Menschen von den natürlichen Mächten zu verdrängen beginnt, leeren sich die Tempel und verwaisen die heidnische Altäre.
Brot und Wein sind wesentliche Zeichen oder institutionelle Symbole der Kirche, und gewiß leeren sich die Kirchen in dem Maße, wie die Gläubigen die gemeinsame Überzeugung von der in diesen Zeichen gegenwärtigen Realpräsenz Christi nicht mehr teilen. Es ist allerdings von nicht geringer Bedeutung, daß nach dem Glauben der Kirche diese religiösen Zeichen anders als die mythischen und politischen Symbole der freien Willkür und Gedankenkraft des Menschen enthoben sind. Darin liegt das Paradox des Christlichen, daß seine symbolische Zeichenmacht in der unsichtbaren Kirche auch dann weiterhin wirksam bliebe, wenn die sichtbare untergegangen sein sollte.
Wir schließen nicht ohne den andeutenden Hinweis, daß große Dichtung eine je individuelle, vom Genius des Dichters erleuchtete und ermächtigte Setzung der wesentlichen Zeichen und Symbole darstellt, wie sie aus dem unauslotbare Brunnen der Tradition mythischer, religiöser und geschichtlicher Symbole hervorquellen, sofern es ihm die Gunst der Stunde gewährt. Der Dichter rückt sie gemäß den freien Modulationen und Abwandlungen seiner Einbildungskraft in den Horizont der Gegenwart und vermag auf diese Weise eine neue Gemeinschaft zu gründen: die der Lesenden, deren bewußtes Leben dank der verinnerlichenden Lektüre und Interpretation der dichterischen Zeichen aus der Kontingenz des individuellen Werdens und Vergehens in dem Maß herausgehoben werden kann, in dem sie an ihnen eine geistige Nahrung gewinnen, die den Hunger nach dem Unendlichen, Vollkommenen und Ewigen wenn nicht zu stillen, so doch zu wecken vermag.
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