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Jan Wagner – eine schöne, aber brüchige Stimme

23.06.2017

Kurze Betrachtung des Gedichts „marder“ von Jan Wagner anläßlich der Verleihung des Büchnerpreises 2017 an den Autor

Jan Wagner ist ein außerordentliches lyrisches Talent, das sich in vielen Tonlagen geschmeidig bewegt, klassische Formen gekonnt wie einen Handschuh umstülpt, dem Alltagskram eine seltene, manchmal exquisite, manchmal herbe Duftnote abgewinnt, ohne ihn aufdringlich zu parfümieren.

Wir belassen es nicht bei Elogen oder hübschen Typisierungen, sondern schauen dem Dichter ins Eingeweide, das heißt seinem Werk unter die Zunge – und finden dort neben apart blühenden Pusteln auch verdächtige Entzündungsherde, die ein wohlwollender Kritiker einzudämmen raten würde.

Halten wir wie die alten Auguren Vogelschau und beugen wir uns über die Innereien eines uns vorgelegten Geschöpfs:

 

marder

so schlank, daß du mit hineinschlüpfst in den schlag,
die dunkle, muffige höhle, nach sachlage

eindringling, räuber, marder
inmitten all der sanften märtyrer,

der gurrenden boten; taube um taube entkorkend
und saufend, ein gargantua,

derweil es ringsum flattert, flattert,
derweil es ringsum flattert

und flattert, mit befleckt-
em latz, bis alles still ist und perfekt;

zu fett von blut und nachrichten und welt,
um entweichen zu können durchs loch, einen spalt,

dazu verdammt, zurückzulehnen
ins eigene werk, mit satter miene

und schuldlos schlummernd wie ein kannibale,
bis man die decke hebt; und dort, mit knüppel

und mistgabel, dreschflegel,
sense, spaten, axt und pechfackel,

dort steht es, mit flinte und rassehund:
das publikum, außer sich, rasend.

 

Zunächst konstatieren  wir den gekonnt luftig-sinnigen Aufbau des Gedichts aus Zwillingszeilen, die sich häufig den Atem über das Zeilenende weitergeben; der Leser wird unmittelbar in den Ereignisstrom gerissen: Denn er selbst sei wie das angesprochene Tier schlank genug, um in den Taubenschlag des Gedichts zu schlüpfen und das grausige Geschehen mit anzusehen.

Wir stellen weiterhin fest, daß der Ton des Ganzen balladesk anmutet; denn wir finden wie in der Ballade einen Plot als motivisch-stoffliche Grundlage: Ein Marder dringt in einen Taubenschlag, stillt seinen Blutdurst, kann, die Wampe mit Blut prall gefüllt, nicht mehr hinausschlüpfen und wird endlich in einer spektakulären Schlußszene von der Rache der anbetroffenen Dorfmenschen und Taubenzüchter eingeholt.

Wir sind eingenommen von der raffinierten Form der klanglichen Verschalungen der Zeilenenden, die sich reiner Reime gänzlich entschlägt und neben dem Gebrauch deftiger Alliterationen („kannibale/knüppel“) auf die in der Romantik auf dem Hintergrund der spanischen Romanze von Brentano ins zart Verspielte getriebene assonierende Lautähnlichkeit zurückgreift. Jan Wagner versteht sich auch darauf, beide Klangeffekte, Alliteration und Assonanz, geschickt zu verknüpfen: „rassehund/rasend“.

Wir finden auch die rhetorischen und archaisierenden Techniken der steigernden Wortreihung („eindringling, räuber, marder“ oder: „knüppel/und mistgabel, dreschflegel,/sense, spaten, axt und pechfackel“) und der dramatisierenden Wortwiederholung („flattert“) wirksam bis zur Zauberspruchbangigkeit eingesetzt: „derweil es ringsum flattert, flattert/derweil es ringsum flattert/und flattert“.

Warum nennen wir diese einnehmende Stimme dennoch brüchig – so wie wir sie in diesem Gedicht vernehmen, von anderen reden wir ja nicht und von diesem nur, weil es auf ein weithin begeistertes Echo stieß? Nicht weil uns der Manierismus, das Enjambement um des passablen Reimes willen bis in die Zerreißung eines Worts zu treiben („befleckt-em/perfekt“) und das Kokettieren und die Ausstellung humanistischer Bildung („Gargantua“) allzu outriert und snobistisch erscheinen, nicht weil uns grausige Bilder in geschmackloser, ja degoutanter Weise aufgetischt werden („taube um taube entkorkend und saufend“, „mit beflecktem latz“) – dies sind nur die Symptome einer tiefer liegenden „Entzündung“ oder eines geistigen Fiebers, dessen Ursache wie uns scheint und wie wir hoffen nicht endogen ist, sondern durch Kontaktinfektion in allzu großer Nähe mit dem zugleich begehrten und verachteten Publikum übertragen wurde.

Wir erinnern uns an das heikle Abenteuer des Stimmbruchs, bei dem der Junge nur über den wackligen Steg eines hohlen Dröhnens und eines unglücklichen Quietschens ans andere Ufer der Mannbarkeit gelangt: So wechselt die Stimmlage im Gedicht beinahe unwillkürlich zwischen der vollen Stimme des Rein-Lyrischen, die evoziert und nicht räsoniert oder reflektiert („derweil es ringsum flattert, flattert/derweil es ringsum flattert“) und der dünnen Stimme des Poetisch-Narrativen, die reflektiert und nicht evoziert („nach sachlage“ und “zu fett von blut und nachrichten und welt” oder „dazu verdammt, zurückzulehnen/ins eigene werk“).

Die unangenehme Intimität mit dem Leser („du“) verrät sich gleich in der einladenden Geste des Anfangs: Wirkt sie auf uns doch beinahe wie eine schmeichelnde Zauberkünstlergeste – das reine Gedicht aber, das auf nichts außerhalb seiner kahlen Eremitenzelle oder seiner von Gras und Unkraut überwachsenen Schattenzone abzweckt, wirkt unaufdringlich durch die Macht der Stille, die wie ein blasser Mond in jene Zelle und jene Zone sickert.

Wir gewahren hier ein Phänomen, das sich in allen Kunstgattungen einzuschleichen pflegt, wenn der Schöpfer, seiner technischen Virtuosität und Meisterschaft allzu bewußt, der Verführung nachgibt und die Klänge oder Worte wie schillernde Bälle in die hohe Luft der Manege wirft und unter dem raunenden „O!“ und „Ah!“ der entzückten Zuschauer hast du nicht gesehen wieder in der großen Tricktasche verschwinden läßt: Das bezeichnet, um ins Musikalische abzuschweifen, den Unterschied der Gewandtheit und Anmut im Gebrauch der Ausdrucksmittel bei Mozart, die aus dem Grund höherer Naivität aufsprudeln, und der kühlen Meisterschaft von Richard Strauss, die ihre Möglichkeiten traumtänzerisch aus den Fingern und Beinen schüttelt, Ursprünglichkeit und plastische Naivität indes oftmals nicht ausdrückt, sondern nachahmt – ein Zeichen epigonaler Spätzeit.

Es ist in dem Gedicht von Jan Wagner eine schiefe, zwitterhafte Allegorie am Werk, die wie ein Riß im Boden des dichterischen Sagens auftaucht: Denn gewiß sollen wir der starken Suggestion nachgeben, die Figuren und ihre groteske Inszenierung als Allegorie auf den Dichter und sein Tun und Wirken zu lesen, zumal das Publikum höchstselbst am Ende die Bühne des Gedichts betritt – als wäre der Dichter zugleich der Poète maudit in der Ikonenreihe der Baudelaire und Rimbaud in seiner rohen Unschuld des Daseins jenseits von Gut und Böse, der sich kannibalisch an den sanften Märtyrern der Liebesbotschaften vergeht, und zugleich der große Mime, Salonlöwe (hier „Salonmarder“) und grimassierende Schauspieler, der die primitive Schaulust eines Publikums befriedigt, das ihm nur den schnöden Dank weiß, ihm dafür das Fell über die Ohren ziehen zu wollen.

Die Gefahr allegorischen Sagens besteht für das Gedicht in den üppig-wollüstigen und herrisch-übergriffigen Schatten, die eine hohle Maskerade auf das Gesicht der großen und kleinen Blüten des Worts wirft, die darunter an Leuchtkraft einbüßen.

Die Gefahr der Pointe, die am Ende die Figuren wie mit dem Schnürboden des Theaters oder Puppenspiels einmal flugs in die Höhe schnellen läßt, daß ihre Füße hysterisch im leeren Freien zappeln, ist seit den sentimentalen Untaten Heinrich Heines die größte und das lyrische Gedicht (denn von sentenzenhaften Gattungen wie dem Epigramm ist hier nicht die Rede) in seiner Substanz am tiefsten bedrohende.

Das Gift der Pointe wirkt zersetzend auf die zarten inneren Organe des lyrischen Gedichts: Es verendet an Blutvergiftung und Atemnot – unter moribunden Zuckungen und grotesken Gestikulationen, im Lärm moralisch-hysterischer Verkündigung oder im peinlichen Schweigen, das sich einstellt, wenn zu viel gemeint, aber zu wenig gesagt wurde.

Die theatralische Schlußszene im Gedicht von Jan Wagner, der Pointenbluff, plaudert das dürftige Geheimnis aus: Die Zusammenrottung der Zuschauer, ihr Lärmen mit Knüppeln, Mistgabeln, Flegeln, Sensen, Spaten und Äxten, die sie im schaurigen Lichte der Fackeln aneinanderschlagen, ist das dialektische Quidproquo – für den Applaus.

Wir finden in diesem theatralischen Moment einen wässrigen Niederschlag journalistisch-feuilletonistischer Gesinnung, der unter dem heißen Atem dichterischer Beschwörung auf dem transparenten Kristall der Sprache nicht verdunstet und zergangen ist.

Die Lust am Effekt und das Schielen nach dem Begehr und Zeitgeschmack des Lesers ist das Virus, das sich an der lyrischen Sprache durch jene Fieberdelirien rächt, in denen Knallerbsen vor kaum oder nur zum Spaß zurückschreckende Füße geworfen werden – ohne Nachhall, ohne Echo und allemal ohne die seelischen Vibrationen, die das leise Plätschern der Quelle Hippokrenes erweckt, geschweige denn der brausende Flügelschlag der Adler des Himmels.

Gewiß, wir sehen den Dichter symbolisch näher bei den Tauben, deren Gurren in die einsame Nacht des Gedichts wie die ersten Hoffnungsstrahlen der Morgendämmerung dringt – so würden wir den Mörder-Marder seinem Schicksal überlassen und das ausgerissene und blutbesudelte weiße Gefieder nicht hochhalten, sondern einer Opfer- und Sühnegabe gleich schweigend in jene Quelle tauchen, von der wir nicht einmal hoffen können, daß sie es reinwäscht.

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