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Von begrifflicher und sittlicher Ordnung

09.06.2017

oder : Das Gespräch ist konkrete Sittlichkeit

Aller werdekeit ein füegerinne,
daz sît ir zewâre, frowe Mâze.
er sælic man, der iuwer lêre hât!

Allen sittlichen Werts Verfügerin,
das seid ihr fürwahr, Herrin vom Maße.
Selig ist der Mann, der in eure Lehre ging!

Walther von der Vogelweide, Sprüche, 46, 32

 

Eine Reihe und einen Zusammenhang von Begriffen, die sich uns gleichsam unwillkürlich aufdrängen, weil sie zu negieren inkonsistent ist, nennen wir eine begriffliche Ordnung.

So können wir von Sprache nicht reden, ohne einen Sprecher vorauszusetzen, und einen Sprecher nicht voraussetzen, ohne einen Angesprochenen oder Hörer mit vorauszusetzen, und wir können beides, Sprecher und Hörer, nicht annehmen, ohne einen Gegenstand oder ein Thema vorauszusetzen, über das sich Sprecher und Hörer wechselseitig verständigen. Wir nennen die bekannte Trias aus Sprecher und Hörer sowie Thema oder intentionalem Gegenstand der Unterredung die begriffliche Ordnung der sprachlichen Verständigung.

Wenn wir einen Stein aus der Trias herausbrechen, fällt das Ganze zusammen: Leugnen wir von einem kulturrelativistischen oder solipsistischen Standpunkt aus, daß die Gesprächspartner gleichsam wie zwei Scheinwerfer mit intentionaler Leuchtkraft DENSELBEN Weltausschnitt oder DASSELBE thematische Feld überstreichen, führen wir den Begriff der Sprache ad absurdum, denn dann können wir nicht mehr voraussetzen, daß sich beide, auch wenn sie dieselben Begriffe verwenden, über dasselbe unterreden. Leugnen wir, daß der Sprecher die Begriffe, die er jetzt verwendet, in derselben Bedeutung meint, die er bei Beginn des Gesprächs vorausgesetzt hat, leugnen wir den konsistenten Begriff einer Sprache und a fortiori die Möglichkeit eines Gesprächs.

Die Möglichkeit einer begrifflichen Ordnung hat demnach die Wirklichkeit und Wirksamkeit der kontextbezogenen Identität und des konsistenten Zusammenhangs ihrer Begriffe zur Voraussetzung. Dabei ist nur erforderlich, daß zumindest der Begriffskern identisch bleibt oder im Zeitfluß des Sprechens durchgehalten wird, auch wenn seine Ränder ins Vage verschwimmen mögen. Wenn wir uns über Gemälde oder das delikate Verhältnis von Linie und Farbe unterhalten, kannst du dabei an Chardin, ich an Poussin denken, keiner von uns aber sollte an Praxiteles oder Rodin denken.

Begriffliche Ordnungen dieser Art sind logisch-semantische Ordnungen, doch sie stehen nicht für sich in einem ideal-abstrakten Raum der Ideen, sondern sind stets Modelle einer performativen oder praktischen Anwendung und Erfüllung. Wir projizieren formale Punkte und Flächen und nennen sie Sprecher/Hörer und Thema, aber wir verwenden sie als Schema, das wir in das Kontinuum der Zeit abtragen und übertragen: Erst schneidest du ein Thema an, ich reagiere mit einer Frage, du präzisierst das Gemeinte, ich ergänze es durch Beispiele; dann wechsle ich unvermittelt das Thema, du korrigierst diesen Wechsel und wir kehren zum Ausgangsthema zurück.

Wir sehen das Verhältnis von Sprache und Rede oder Sprachhandlung, langue und langage, als Form der semantischen Projektion, ähnlich dem mathematischen Projektionsverfahren der Geometrie, bei dem wir das Modell einer gewählten Figur wie eines Rechtecks auf beliebige Flächen und ideale oder gestauchte und gedehnte Körper wie eine Kugel als vergrößertes oder verkleinertes Rechteck, aber auch als Trapez oder Raute projizieren: Die dabei auftretenden Abweichungen und Verzerrungen der Grundfigur sind nichts als metrisierbare Varianten ihrer Ausgangskoordinaten. Ähnlich sind die Unterredungsformen, wie sie uns in einer Prüfungssituation, bei einer Gerichtsverhandlung oder in einem Interview begegnen, Projektionen des Modells oder Sprachspiels von Frage und Antwort.

Die Erfüllung begrifflicher Ordnungen im Gespräch vollzieht sich über eine konkrete Mannigfaltigkeit geordneter Sprechakte wie Behaupten, Fragen, Bezweifeln, Begründen, Illustrieren oder Exemplifizieren, Korrigieren und Widerlegen.

Nehmen wir als bewährtes Exempel das Spiel von Frage und Antwort: Wenn wir nicht voraussetzen können, daß der mit einer Frage angesprochene Gesprächspartner mit seiner Äußerung ein Antwort auf die vorgebrachte Frage unternimmt, sondern etwas thematisch beliebig anderes äußert, würden wir, was sich da abspielt, nicht sinnvoll ein Gespräch nennen. Ja, wir würden bei fortgesetztem Verlauf von Verlautbarungen dieser abgerissenen Art zögern, einen konsistenten Begriff der Sprache auf das Medium der beobachteten Kommunikation anzuwenden.

Wir merken hier nur en passant an, daß die begrifflichen Voraussetzungen und Implikationen sprachlicher Verständigung keineswegs, wie es ein globalistisch-egalitäres Vorurteil insinuiert, nur Gesprächssituationen auf Augenhöhe, unter Ebenbürtigen und Gleichberechtigten rechtfertigen: Autoritative Instanzen wie der Meister, der Lehrer, der Arzt, der Arbeitgeber oder der Befehlshaber, die einen Untergebenen oder einen ihrer Obhut und Fürsorge Anheimgestellten befragen, zur Rede stellen, examinieren oder beauftragen, unterliegen gemeinsam mit ihrem Gegenüber denselben allgemeinen diskursiven Mustern und Obligationen, die wir hier skizzieren, wie der Freund, das Geschwister oder der Geliebte. Wir sind auch nicht prinzipiell, wie bigotte Diskursfrömmler suggerieren, zum Gespräch mit Hinz und Kunz, mit Freund und Feind gleichermaßen verpflichtet: In ein Gespräch einzutreten, eine Kommunikation zu eröffnen oder zu schließen ist eine Sache freier und souveräner Entscheidung; wenn wir sie indes einmal positiv gefällt haben, gelten freilich die hier aufgeführten allgemeinen semantischen Voraussetzungen und sittlichen Bedingungen. Im Übrigen gilt das Gesagte nicht nur für einzelne Individuen, sondern auch für Gruppen und Institutionen wie Unternehmen, Verbände, Staaten oder Kirchen, die sich über ihre Stellvertreter und Repräsentanten unterreden oder miteinander verhandeln.

Philosophen sollten die vagen Begriffe „Gespräch“ oder „Diskurs“ besser meiden, wenn sie sich der Analyse dessen widmen, was damit gemeint ist. Reden wir von verbaler Kommunikation, ernüchtert sich unser Sinn, und die Illusionen, die eine schönfärberisch-ideologische Schreibtischperspektive mit den Begriffen verbunden hat, zerplatzen an den Stacheln der unterschiedlichen Lebens- und Gebrauchsformen des Redens. Wie anders das Bettgeflüster der Liebenden und die strenge Befragung des Delinquenten beim Verhör, wie anders der kontrollierte Austausch von Daten zwischen wissenschaftlichen Angestellten einer Klinik oder eines Unternehmens im medizinischen oder chemischen Labor und das uferlose undisziplinierte Geschwätz der Talkshows, wie anders die Gerichtsverhandlung und das Plaudern mit dem Nachbarn oder der kurzangebundene Austausch zwischen Käufer und Kassiererin an der Ladenkasse oder zwischen Servicepersonal und Kunde am Bahn- oder Bankschalter.

Wenn wir hier den alten Begriff des Gesprächs benutzen, dann im Sinne eines verbalen Austauschs unter konkreten Bedingungen des sprachlichen Handelns, also im Sinne der konkreten Sittlichkeit Hegels oder der funktionalen Sprachbetrachtung Wittgensteins oder der Sprechakttheorie – nicht aber im Sinne Kants und seiner Nachfolger, die den Begriff moralisiert und von allen Anwendungsbedingungen gereinigt haben, außer denen einer hermeneutischen Idealsituation der Verständigung unter den außerirdischen Bedingungen von Gleichheit und Ebenbürtigkeit. Aber die Ungleichheit oder die ungleiche Verteilung von Befugnissen, Kompetenzen und Rollenzuschreibungen und -erwartungen ist die Realität menschlichen Redens.

Der Prüfling, der im mündlichen Examen auf die Frage des Prüfers mit einer Aussage antwortet, die mit dem Prüfungsthema keinen sachhaltigen Zusammenhang aufweist, erregt ein größeres Mißtrauen hinsichtlich seiner Fachkompetenz als derjenige, der eine Antwort gibt, die einen sachhaltigen Zusammenhang mit dem Prüfungsthema aufweist, aber falsch ist.

Wir bemerken, daß der sittliche Hintergrund unserer Sprechakte in der Art und Weise und in dem Ausmaß aufscheint, in denen wir für unsere Äußerungen geradestehen und sie verantworten müssen oder in denen wir für sie haftbar gemacht werden können. Der Prüfling, der sinnlose oder falsche Antworten gibt, fällt durch das Examen; dem Freund, der den Freund belogen hat, wird die Freundschaft aufgekündigt; der Meineidige vor Gericht wird mit einer Geldbuße bestraft.

Der Redende beansprucht die Aufmerksamkeit des Hörers, der Hörer schenkt dem Redenden seine Aufmerksamkeit: Aufmerksamkeit ist das knappe und kostbare Gut der Kommunikation. Sie demjenigen, der sie rechtens aufgrund seiner Stellung oder der Bedeutsamkeit seines Anliegens beansprucht, zu verweigern, erscheint uns nicht nur unhöflich, sondern unsittlich; genauso wie im umgekehrten Falle, wenn einer die Aufmerksamkeit des anderen durch redundante oder trügerisch-irreführende Signale auf sich zieht oder für nichts als seine eitle Selbstdarstellung mißbraucht.

Allerdings ist Aufmerksamkeit auch eine mediale Ressource, die je nach sozialem Status und Prestige ungleich verteilt ist: Wir können sie bemessen und messen, wenn wir fragen, wer wie lange und wie viel reden darf und wer wie lange zur Rezeption einer begnadeten oder meist leider faden Selbstdarstellung genötigt ist. Charismatische Verkünder religiöser oder poltischer Provenienz haben das Sagen und ihre Zuhörer nur gebanntes Lauschen, der Künstler-Guru wird durch die Ehrfurcht und Ergebenheit seiner Anhänger zur rhetorischen Ekstase stimuliert, während sich der depressive Feingeist im Publikum angewidert abwendet und dem skeptischen Zwischenredner das Mikrofon abgedreht wird.

Eine grundlegende Erfahrung der alltäglichen Gesprächssituation im Wohnzimmer, im Café oder im Büro ist die gegenseitige Spiegelung der Gesprächspartner: Wer spricht, ist gehalten, zu schweigen und zuzuhören, wenn der Partner den Faden aufnimmt und antwortet; wer zuhört, redet nicht, ist aber berechtigt, das Wort zu ergreifen, wenn der andere schweigt. Wer dem anderen ins Wort fällt, ist entweder unhöflich oder hat einen unabweislichen Einwand vorzubringen.

Wenn der Redende mit der Anfrage oder Reaktion konfrontiert wird „Wie meinst du das?“ oder „Das verstehe ich nicht!“, spiegelt sich in solcher Anfrage und Reaktion sein Mangel an Klarheit und Distinktion der verwendeten Begriffe. Er spiegelt sie seinerseits wider, wenn er sich sagt: „Ich habe mich wohl nicht klar genug ausgedrückt!“ Wir nennen dieses Phänomen die jedem Gespräch innewohnende Möglichkeit der Selbstbesinnung, die sich produktiv in Formen der Selbstkorrektur oder der Verdeutlichung des Gemeinten äußert. Ein gewisses Maß klar dargelegter Mitteilung ist demnach eine Bedingung für den Erfolg einer sprachlichen Verständigung, zu der sich ihre Teilnehmer unausgesprochen verpflichten.

Wir zeihen den Grobian, der den Trauernden mit obszönen Witzen und albernen Anekdoten behelligt, nicht nur der Unhöflichkeit, sondern eines ungehörigen Gebarens; dagegen werden wir den treuen Hund, der seinen Besitzer freudig begrüßt und laut bellend umwedelt, wenn er von der Beerdigung eines nahen Angehörigen nach Hause kommt, nicht rügen und sein natürliches Verhalten ihm nicht als indezent oder pietätlos ankreiden, weil wir Tieren nicht die Form der Subjektivität unterstellen, die uns als Grundlage des menschlichen Gesprächs und der menschlichen Verständigung evident scheint.

Wer sich auf ein bestimmtes Sprachspiel einläßt, verpflichtet sich damit, es seinen inhärenten oder expliziten Regeln und Konformitäten oder Gepflogenheiten gemäß zu spielen. Wer sich zu einer bestimmten Angelegenheit befragen läßt, verpflichtet sich auf die angemessenen Antworten. Wer die Regeln verletzt oder mutwillig aus dem Spiel herausspringt, muß die Konsequenzen in den Kauf nehmen und darf sich beispielsweise nicht wundern, wenn er demnächst nicht mehr gefragt wird.

Wir bemerken, daß wir schon ab ovo beim Vollzug des Gesprächs bestimmte sittliche Grundeinstellungen als gegeben voraussetzen, indem wir uns auf gewisse Werte wie Aufrichtigkeit, Klarheit, Deutlichkeit, Ausgewogenheit oder Informationsdichte der Mitteilung verpflichten: Wir unterstellen einander, daß wir es ernst meinen und nicht lügen, keine faulen rhetorischen Tricks anwenden, um den anderen in die Irre zu führen, oder die Rede dazu mißbrauchen, um verbal zu blenden und großzutun. Wir versorgen den Partner mit dem nötigen Proviant an Information, den wir der Deutlichkeit halber in verdauliche Häppchen aufteilen.

Wenn wir dagegen unverbindlich plaudern, uns Anekdoten, Träume oder Witze erzählen oder Geschichten erfinden, um uns die Zeit zu vertreiben, haben wir uns für diese nicht argumentierenden, unterhaltenden Formen von Sprachspiel unterschwellig die Lizenz erteilt und gönnen uns gleichsam einen moralisch ungezwungen Freiraum des Spiels mit Worten.

Ein interessantes Kapitel in der abendländischen Geschichte diskursiver Verpflichtungen könnte man mit der ironischen Überschrift versehen: „Lügen und andere Wahrheiten“. Sind wir immer und überall und unter allen Bedingungen, wie asketische Prediger und strenge Moralisten wie Kant und seine Diskursadlaten meinen, zur Aufrichtigkeit und Wahrheit unserer Mitteilungen verpflichtet? Wenn wie Idealisten wähnen, alles Reden unter idealen Bedingungen der Gleichrangigkeit der Beteiligten sich vollzöge oder sich vollziehen sollte, wären Konflikte auf diesem Felde nicht der Rede wert. Doch wenn, wie wir annehmen, alles Reden als eine Form des Handelns in eine Lebensform eingebettet ist und eine Funktion konkreter Sittlichkeit darstellt, sollten wir nüchterner auf die Dinge blicken. So wird sich eine Frau, die dem Gatten ein außerehelich empfangenes Kind als sein eigenes untergeschoben hat, hüten, ihn mit der Wahrheit zu konfrontieren, sollte dies zur Folge haben, daß dem Kind daraus scherwiegende Nachteile erwüchsen. Der lange Zeit arbeitslose Akademiker wird im Vorstellungsgespräch seine Vita ein wenig schönen, um seine Einstellungschancen zu erhöhen. Und sollte die hübsche Kleine, die sich endlich in die Arme eines gutsituierten, doch etwas bigotten Geschäftsmannes geflüchtet hat, ihm, wenn er sie über ihr Vorleben befragt, frisch auf die Nase binden, daß sie einmal als Prostituierte gearbeitet hat? Wir lassen nicht nur Gnade vor Recht ergehen, sondern meinen, Flunkern, Schönreden, Ausmalen oder geistreich Schummeln sollte man nicht gleich Lügen nennen und vom hohen Roß eines moralisch sich in die Brust werfenden Don Quichotte als verwerflich verdammen.

Der jeweilige Zweck des Gesprächs gibt die Maßgabe für die Verwendung der performativen Anwendungen: Ironie, Witz, Erzählung, Legende oder Mythos können, wie die platonischen Dialoge zeigen, das Gespräch anregen und vertiefen, während faule rhetorische Tricks oder satirische Verzeichnungen den Verlauf einer argumentativen Unterredung auf Abwege bringen oder ins Abseits manövrieren. Natürlich existieren auch sprachliche Freiräume, in denen sich Bissigkeit, Entlarvungswut und Demaskierungsfuror auszutoben pflegen – wir weisen nur darauf hin, daß alles in Ordnung ist, wenn solch extreme Tendenzen nicht auf seriöse Bereiche sprachlicher Verständigung zersetzend und verletzend übergreifen.

Wir folgern aus alledem, daß offenkundig Übergange der begrifflichen Ordnung in die sittliche Ordnung stattfinden. Oder anders gesagt: Die sittliche Grundlage einer begrifflichen Ordnung wie der Sprache wird uns transparent, wenn wir den Status und die Haltungen der Sprecher auf ihre mehr oder weniger impliziten diskursiven Verpflichtungen befragen. Tatsächlich, und darin scheint der platonische Dialog das Urmodell abzugeben, können wir die sittliche Ordnung als Ethos sprachlichen Handelns im Ausgang von einer Analyse der sprachlichen Ordnung entwickeln und aufbauen.

Der Übergang von der begrifflichen zur sittlichen Ordnung oder das Durchscheinen der sittlichen Ordnung auf dem Grunde der sprachlichen hat seine Schwelle oder seinen Dreh- und Angelpunkt im Begriff der semantischen Identität oder der relativen Bedeutungsgleichheit, die für den Rahmen einer spezifischen Verwendung bei Strafe des Zusammenbruchs der Verständigung aufrechtzuerhalten und durchzuhalten ist.

Die tiefere Analyse kann zeigen, daß aus der semantischen Identität nicht nur auf die Bereichsidentität des besprochenen Themas, sondern auch auf die personale Identität der sich unterredenden Gesprächspartner geschlossen werden kann. Das zeigt sich ex negativo an dem Umstand, daß die Tilgung oder Zerrüttung der semantischen Identität zur Folge hat, daß das Gespräch aufgrund des Verlusts seiner thematischen Grenzen nicht nur wolkig und vage, sondern sinnlos und absurd wird. Es versinkt im Chaos der Beliebigkeit oder in der Wildnis wuchernder Metaphorik. Bezweifle ich die Identität meines Gegenübers und vice versa, gehen meine Anfragen über sein Befinden oder seine Erlebnisse ins Leere, das Gespräch nährt sich von semantischer Luft.

Der Grenzbegriff der begrifflichen Ordnung ist das Chaos oder der Schwund und Verlust der Bedeutungsgleichheit der verwendeten Begriffe; der Grenzbegriff der personalen Identität ist die geistige Verwirrung oder der Schwund und Verlust des Gedächtnisses.

Nehmen wir als Bild für das Gespräch den Weg, den zwei Menschen gemeinsam durch eine Landschaft zurücklegen:

Dann entspricht erstens den schönen Aussichten, auf die sich die beiden Wanderer gegenseitig hinweisen, der thematische Kontext, in dem sich das Gespräch bewegt und über den die intentionalen Bezugnahmen der Teilnehmer gleichsam wie sich überlappende Schweinwerfer hinstreichen. Die Aussichten und Bezugnahmen müssen dem visuellen und semantischen Gehalt nach relativ identisch sein, wenn wir vom Erfolg der Verständigung sprechen wollen.

Dann entspricht zweitens die Identität von Ausgang- und Zielpunkt der Wanderung oder die Tatsache, daß die beiden verabredungsgemäß am Abend wieder nach Hause zurückkehren wollen, das Kontinuum der Gedächtnisleistung, das als roter Faden die Teile und Fragmente des Gesprächs verwebt.

Wir sprechen von krankhaften Störungen des Sprach- und Kommunikationsvermögens, wenn der Schizophrene es nicht vermag, die Bedeutungsgleichheit der von ihm verwendeten Begriffe in einem bestimmten Kontext oder Sprachspiel aufrechtzuerhalten: Er spricht davon, daß er damals da und dort war, aber wie sich zeigt, war damals dort eine andere Person oder er war damals an einem ganz anderen Ort. Oder er geht nicht auf das Sprachspiel von Frage und Antwort ein, sondern beantwortet hartnäckig Fragen mit absurden Gegenfragen oder gleitet in andere Muster wie den Traumbericht oder die Erzählung von Erinnerungsfetzen ab. Daß demente Patienten den roten Faden eines Gesprächs ziemlich bald verlieren und daher nicht mehr an den Ausgangspunkt eines Themas oder einer Fragestellung zurückfinden, ist augenscheinlich.

Dem Kranken rechnen wir es nicht als Fehler zu, wenn er auf solche Weise in die Irre geht; dagegen tadeln wir den Lügner oder Betrüger zurecht, wenn er fälschlicherweise vorgibt, damals da und dort gewesen zu sein, und wir nehmen es zurecht dem Blender übel, der uns mit falschen Versprechen und trügerischen Aussichten vom gemeinsam eingeschlagenen Weg abbringen und in sein Wolkenkuckucksheim locken will.

Wir fassen zusammen. Eine begriffliche Ordnung, die jeglichen Versuch ihrer Negation ad absurdum führt, nennen wir konsistent: Ihre Negation setzt ihre Gültigkeit voraus. Der Begriff des Sprechers setzt den Begriff des Hörers voraus, der wiederum als virtueller Sprecher fungiert; die Begriffe von Sprecher und Hörer verlangen evidenterweise nach dem Begriff eines ihnen gemeinsamen Gesprächsthemas; ein intersubjektives Thema setzt die für diesen Kontext relativ gleichbleibende Bedeutung der verwendeten Begriffe voraus.

Das Gespräch ist konkrete Sittlichkeit in dem Maße, in dem die Teilnehmer als Subjekte ihrer Äußerungen anzusehen sind, die sich auf die Wahrung bestimmter diskursiver Verpflichtungen einzulassen haben, darunter Verbindlichkeiten und Auflagen wie Stimmigkeit, Angemessenheit und Kohärenz der Äußerungen, Klarheit und Distinktion der verwendeten sprachlichen Ausdrücke sowie eine angemessene Fülle und Dichte der Information, die bei Strafe der Undeutlichkeit ein gewisses Maß nicht unterschreiten und bei Strafe der Verwirrung eine gewisses Maß nicht überschreiten sollten.

Der Status der Gesprächsteilnehmer als Subjekte ist basal für das Ethos der Sprache, weil jeder Versuch seiner Negation einerseits den Begriff von Sprache überhaupt vernichtet und andererseits die Geltung von Subjektivität bestätigt, ohne die der Sprechakt der Verneinung nicht vollzogen werden kann. Das Ethos der Sprache und seine subjektiven Voraussetzungen unterscheiden unser Gespräch von der Signalsprache der Tiere, die keine Sprachhandlungen vollziehen und die ihnen inhärenten Verpflichtungen übernehmen können. Wir aber können und sollen, haben wir uns im Ton vergriffen oder den Gesprächspartner mutwillig, ja auch nur versehentlich in die Irre geführt, um Entschuldigung bitten.

Wir gelangen anhand der Analyse situativer Gesprächsformen und Sprachhandlungen zwar zu einem bunten Strauß sittlich relevanter Verpflichtungen der jeweiligen Sprecher in den jeweiligen Redesituationen: Doch ihre begriffliche Grundlage ist schmal und reduziert sich auf die Begriffe der semantischen und personalen Identität. Außerdem sind die so gewonnenen Auflagen, Verbindlichkeiten und Verpflichtungen untereinander nicht konsistent, wie wir am Beispiel von Lüge und Aufrichtigkeit gezeigt haben: Es ergab sich uns keine moralisch allgemeingültige Vorschrift, immer und überall und unter allen Bedingungen die Wahrheit zu sagen; dennoch gilt die diskursive Verpflichtung zu Aufrichtigkeit und methodisch streng kontrollierter Wahrheitsfindung natürlich auf dem Gebiet der Wissenschaft und Philosophie, aber auch auf Feldern wie dem Gerichtswesen oder der klinischen Medizin muß bei Strafe sozialer und gesundheitlicher Schädigungen die genaue Realitätskontrolle maßgeblich bleiben. Indes, zum hohen mosaischen Gipfel, wo uns die reinen Tafeln universal gültiger moralischer Vorschriften ausgehändigt würden, können wir uns anhand des Ethos der Sprache nicht aufschwingen.

Wir verknüpfen das subjektive Moment der Sprache und aller Sprachhandlungen mit dem Namen dessen, der spricht, und dem Namen des Angesprochenen: In einer gewissen Integrität und Unantastbarkeit des Namens ragt das Gespräch über den Augenblick des sprachlichen Einfalls, der eingestreuten Metapher und aller thematischen Variationen hervor, einem Monument nicht unähnlich, dessen Inschrift wir nicht mutwillig antasten, sondern im Gedächtnis bewahren.

In der einfachen Tatsache, daß uns der Name gegeben wurde, zeigt sich gleichsam das Unvordenkliche und Unableitbare der Subjektivität des sprechenden Subjekts.

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