Das verborgene Muster des Lebens
Sentenzen und Aphorismen zur Philosophie der Subjektivität
Das Muster unseres Lebens können wir nicht überblicken; nur göttlichem Auge stünde dies an.
So ist jeder Satz die Variante eines anderen Satzes oder anderer Sätze; dabei sind Satzvariationen grammatisch wohlgeformte Umformungen unter Zuhilfenahme von Ausdrücken für die Negation, die verschiedenen Tempora oder Satzverknüpfungen wie „und“, „oder“, „weil“, „obwohl“, „wenn“. Der Zusammenhang aller Sätze bleibt uns ein Buch mit sieben Siegeln, denn er bildet gleichsam den grammatischen Begriff des Unendlichen. So ist der Satz „Ich ging nach Hause“ eine Variante des Satzes „Ich gehe nach Hause“, dieser eine Variante des Satzes „Ich gehe nicht nach Hause“, dieser eine Variante der komplexen Satzverknüpfung „Er geht nicht nach Hause“ und „Der Mann, der nicht nach Hause geht, bin ich“. Der Zusammenhang der Sätze „Ich bleibe zu Hause“ und „Es regnet“ kann der komplexe Satz sein „Ich bleibe zu Hause, weil es regnet“ oder „Ich bleibe nicht zu Hause, auch wenn es regnet“ oder „Ich bleibe zu Hause, obwohl es nicht regnet“ …
Aus Satzvarianten bilden wir durch Auswahlverfahren eine endliche Menge von mehr oder weniger kohärent, mehr oder weniger sinnvoll miteinander verknüpften Sätzen, die wir eine Geschichte oder eine Erzählung nennen; wenn unser eigenes Schicksal in Form von natürlichen oder geschichtlichen Gegebenheiten wie Charakter, Talent, Krankheit oder Freundschaft, Liebe, Feindschaft das Auswahlverfahren verkörpert, bilden die so verbundenen Sätze unsere Lebensgeschichte – oder doch eine Variante unserer Lebensgeschichte. So finden wir in einem Lebensbericht beispielsweise den Satz: „Ich blieb zu Hause, weil es regnete“ oder den Satz: „Ich blieb zu Hause, obwohl es nicht mehr regnete.“ Die Formen der Reihung, Verknüpfung und Transformation, die wir bei den grammatischen Elementen wie den Satzteilen und Sätzen beobachten, treffen wir auch bei den Formen und Gattungen wie dem Bericht, der Beschreibung, der Erzählung oder dem Gedicht an: Jede manifeste und in einem Textkorpus verdichtete Form ist eine aufgrund einer Auswahl entstandene Variante von allen in dieser Form, diesem Typus oder dieser Gattung enthaltenen oder impliziten virtuellen Formen.
Die Seele ist vergleichbar mit dem komplizierten Muster eines Perserteppichs, würde die Rückseite des Teppichs die verworrenen Fäden und abgerissenen Fädchen abbilden, die ebenfalls zur Musterbildung hätten dienen können, aber im kontingenten Schicksalsverlauf der tatsächlich gewebten Muster verworfen worden sind; dennoch sind sie virtuell präsent – sie könnten der Stoff der Phantasien und Träume dieser Seele sein.
Wir können die formalen oder abstrakten oder grammatischen Grundlagen des Denkens mit der Bildung von Mustern vergleichen, die von der Anzahl der zur Verfügung stehenden Farben und Arten der Fäden, der Größe der Musterfläche oder ihrer geometrischen Form abhängen; freilich kennen wir rein geometrische Muster, florale Muster, aber auch figürliche Muster, Arabesken oder Grotesken und manches mehr. Wenn wir uns auf die Herstellung eines Blumenmusters geeinigt haben, erhält einen Platzverweis, wer uns mit einer Tierdarstellung kommt. Diese Muster sind den virtuellen Spielen oder Spiel-Modellen ähnlich, von denen Wittgenstein spricht.
Der Wanderer im Schnee verharrt und gewahrt rückblickend die letzten Spuren seines Ganges, doch sind sie bald verweht.
Wenn du nach Gründen Ausschau hältst, warum du dies, nicht jenes gesagt, getan hast, findest du einen oder zwei: Du hast deinem Freund ein Geschenk gemacht, weil er Geburtstag hatte, und weil Geschenke an Geburtstagen zu machen bei uns eine schöne Sitte ist – und dann? Kannst du weiterschreiten und tiefer schürfend der Gründe Grund ergründen? Nein, du sagst dir, so lebe ich eben, wie andere auch, und wie die, die vor mir waren.
Wie ein seltsamer Weber an einem seltsamen Webstuhl: Er kann nur kurzsichtig zurückschauen, was er da gewebt, und erkennt ein Muster, wie es ihm vorgeschwebt haben mag – ob dies Muster aber wohlgeformt und nahtlos anschließt an das zuvor gewebte, überblickt er nicht.
Wir könnten der Hoffnung oder Ahnung erliegen, wie es die Alten taten (bis auf Leibniz und Goethe immerhin): das Kleine sei des Großen Spiegel, der Mikrokosmos Spiegel des Alls; aber hilft dir das auf diesen krummen Wegen durch ein dunkles, nur manchmal plötzlich aufgehelltes Tal?
Das Ganze sei wie Grund, wie Erde, die den Menschen trägt; doch ist der Mensch wieder Teil des Erdendaseins, die Erde wieder Teil des ganzen Himmels.
Und doch müssen wir, fast erschöpft, nicht sagen, lallen: all das, dies Leben oder Gott.
Strebt einer nach Lust und nichts als Wohlbefinden, wird er wie Epikur am Ende zum Asketen.
Wenn einer sein Leben einem Ziel unterordnet, scheint er es als Ganzes überblickt zu haben – so in der Berufung des Berufenen, der einem einzigen Gut zu dienen sich entschließt, und die Unabwendbarkeit des Entschlusses drückt die Weisheit aus in der lebendigen Gegenwart einer Stimme: der Musen, des Engels, des Gottes.
Wir können die falsche Abfahrt nehmen, uns auf dem Weg verirren – aber seltsam, wir scheinen auch im Leben als Ganzem auf einen Abweg geraten zu können, so wenn einer der Selbsttäuschung erliegt, einer zu sein, der er in Wahrheit nicht ist.
Sagen wir nicht auch, gewisse Greueltaten verwirken das Leben? So wissen wir mit einem merkwürdigen Wissen, was dies sei, ein gelungenes Leben?
Wir sagen auch, jemand, der sein ganzes Leben einer Illusion oder einem Wahn anhing, der ihm die ärgsten Greueltaten zu begehen als sinnvoll und berechtigt erscheinen ließ, habe sein Leben verfehlt, auch wenn seine Vergehen sein Wohlbefinden nicht schmälerten, sondern in dem guten Gewissen, in dem er sie beging, sogar steigerten. Dann kann der Maßstab, an dem wir solche Biographien als bar des Sinnes beurteilen, selbst keine Illusion sein – er muß einen intentionalen Gehalt haben, den wir der Prüfung unterziehen können, ähnlich wie der intentionale Gehalt einer Behauptung, wie daß der Inhalt dieses Glases Wasser ist, nur wahr ist, wenn wir feststellen können, daß die Flüssigkeit aus H2O besteht.
Wir sagen, daß die wesentlichen Inhalte des menschlichen Lebens, wie Freundschaft und Liebe, deshalb keine Illusionen sind, wie sie es in den Augen des Humeschen oder naturalistischen Skeptikers sein müssen, weil sie einen intentionalen Gehalt haben, der sich nicht auf neuronale Zustände des Gehirns reduzieren läßt.
So ist der intentionale Gehalt der Freundschaft die Freude am Wohlbefinden des Freundes, zu dem wir womöglich beigetragen haben. Daß uns diese Freude als eigenes Wohlbefinden widerfährt, löscht ihren Gehalt, der meine mentalen Zustände transzendiert, nicht aus.
Wichtigste Muster des Lebens werden aus den bunten, verschlungenen Fäden der Erinnerung gewebt; alle echten Muster der Erinnerung sind an semantischen Knotenpunkten aufgehängt, wären sie es nicht, würden sie vom Wind des Vergessens und der Selbsttäuschung immerfort weggeweht oder zerrissen. Der entscheidende Knotenpunkt ist in der gleichsam transzendentalen Tatsache berührt, daß echte Erinnerungen solche sind, die jemand hat, der ich bin, und nicht ein anderer.
Gewiß können wir uns in unseren Erinnerungen täuschen, wie wir uns bei Gelegenheit einer Begegnung mit einem Bekannten täuschen, den wir mit einer anderen Person verwechseln: Doch könnten wir uns nicht darin täuschen, wenn wir cum grano salis und im Normalfalle gute Bekannte nicht wiederkennten und täuschende Erinnerungsbilder von echten nicht unterschieden.
Was unterscheidet die echte Erinnerung von einer simulierten, wie wenn einer, der öfters mit anhaltender Faszination Filme über Venedig anschaut, Reiseberichte liest und schließlich von der Lagunenstadt zu träumen beginnt, am Ende manchmal der Illusion anheimfällt, er sei dort wirklich gewesen? Nun, wir können objektive Verfahren anwenden und den Lebensweg des Träumers anhand sprechender Dokumente peu à peu zurückverfolgen bis zu dem Punkt, wo er in das Flugzeug steigt, das ihn Richtung Süden bringt – oder eben nicht. Sicher, wir könnten Augenzeugen auftreiben, die seinen dortigen Aufenthalt bestätigen oder auch nicht. Doch wir können ihn auch über seinen imaginären Aufenthalt befragen und werden, wenn er munter drauflos plaudert, feststellen, daß die logischen Fäden seiner Erzählung da und dort abgerissen sind und in der Luft hängen: wenn er beispielsweise die Jahreszeit, Kälte, Regen, stechende Sonne oder die drückende Atmosphäre des Scirocco nicht wiederzugeben weiß, sondern nur mit klischeehaften Formeln anzeigt; wenn er von den langen Spaziergängen in der Sommerhitze durch die verwinkelten Gassen der Serenissima schwärmt, aber von Müdigkeit und Durst kein Wort fallenläßt, die den müden Passanten auf die Treppenstufen am Kanal zwingen oder Zuflucht suchen lassen in einer Trattoria. Wir sagen, den von unserem Träumer oder Angeber vorgebrachten Aussagen mangele es an der Kohärenz und sinnlogischen Stimmigkeit, die wir von mustergültig ausgeformten Berichten wie einem dokumentarischen Bericht oder der Darstellung eines Augenzeugen erwarten.
So steht es auch um die gewöhnlichen Erzählungen vom Ablauf eines Films oder Theaterstücks, mit dem man bisweilen gern dem Freund in den Ohren liegt: Es fehlt ihnen die frische Farbe des selbst Erlebten und sie bleiben blaß, weil man selbst darin nicht vorkommt.
Was unterscheidet aber die Erinnerung und den Erinnerungsbericht von der objektiven Rekonstruktion des Erinnerten anhand von sprechenden Zeugnissen und Dokumenten? Nehmen wir die Fotos oder Videos von deinem Urlaub in Venedig – sie geben ein Bild, wie du an den Stufen des Kanals sitzt oder vor San Marco stehst, aber nicht das Bild, das du gesehen hast.
Und wenn du den Freunden Fotos zeigst, die du selbst geschossen hast und die eben die Perspektive einnehmen, die du selbst damals hattest? Nun, es könnten auch Fotos eines anderen sein – sie haben kein Identitätsmerkmal wie Erinnerungen sie zu haben pflegen.
Die Tragiker der Griechen sahen ein durchgehendes Lebensmuster im Schicksal, wie es die Seherin in Delphi in ihrem Spruch aussprach; es knüpfte sogar Lebensmuster an Lebensmuster, wie in dem Fluch, der auf dem Geschlecht der Labdakiden lastete und sich in Ödipus und seinen Kindern vollendete. Und das Muster wird erst ganz sichtbar im tragischen Verhängnis, dem Tod. Und zugleich wird es im tragischen Tod aufgelöst oder wie bei des Ödipus Tod auf Kolonos von guten Geistern wie den Eumeniden gleichsam gereinigt.
Der Fluch der götterlosen und mythenfernen Zeit sind Krankheiten, Gebrechen, traumatische Schicksale, die den Lebensweg krümmen oder im Kreis führen. Banale Schrecken, die unversöhnt bleiben, weil sie vergebens nach einer tragischen Katharsis Ausschau halten.
Wir sehen ein Muster auch im alten Symbol vom Lebensweg, dessen Ausgangspunkt nicht wir, sondern die Eltern, Großeltern, Geschwister, die geographische und kulturelle Prägung der Heimat bilden, dann kommen all die Abzweigungen, an denen die Namen derer auftauchen, denen wir begegnet sind. Manchmal müssen wir einen Abweg, der an einem toten Punkt oder einer Wand oder einem Abgrund jäh endete, zurückgehen, um eine andere Abzweigung einzuschlagen – wenn wir die Kraft haben oder die Fähigkeit zur Einsicht in das Menschenmögliche.
Sind die wichtigen Abzweigungen meines Lebensweges aufgrund der Begegnungen mit prägenden Personen Schattenspiele in einem imaginären Theater, die neuronale Feuer an die Wand des Unbewußten werfen, also schlechthin Illusionen? Wenn es eine Illusion war oder ein Traum, Sokrates gestern im Park begegnet zu sein, kann die Einsicht, daß es eine Illusion war, wenn sie denn wahr ist, keine Illusion sein; wenn aber nicht die Einsicht, dann auch nicht die Existenz dessen, der sie hat und äußert, meiner selbst. Daraus folgt, daß die Fähigkeit, Illusionen zu haben, Täuschungen aufzusitzen oder schlicht der Unwahrheit zu erliegen, als Bedingung ihrer Möglichkeit voraussetzt, daß ich in vielen Fällen nicht von Illusionen genarrt werde und keiner Täuschung aufsitze oder schlicht die Wahrheit erkennen kann.
Führen wir den schlichten logischen Beweis aus der Annahme des Gegenteils: Wenn ich nicht existierte oder mein Bewußtsein niemandes Bewußtsein wäre, dann hätten meine Äußerungen nur Scheincharakter und keinerlei Bedeutung; haben meine Äußerungen keinerlei Bedeutung, dann auch nicht die Behauptung, daß ich nicht existiere; also existiere ich und meine Behauptungen haben Bedeutung.
Das Törichte, Absurde und Widersinnige all dieser Modetheorien über den Scheincharakter des subjektiven Lebens oder Bewußtseins, wie wir sie bei den Poststrukturalisten à la Lacan, Deleuze und Foucault und aktuell wiederum bei den neurowissenschaftlich angeregten naturalistischen Philosophen vorfinden, scheint gerade das Faszinosum zu sein, das ihre Ausbreitung bewirkt.
Wir können die allgemeine Wahrheit über die Existenz des Ich auch dadurch kennzeichnen, daß wir sie von der Rede über die Existenz der Sonne, der Erde, der Stadt Köln oder des Körpers meines Nachbarn abheben: Die Rede von der Existenz der Sonne, der Erde, der Stadt Köln oder des Körpers meines Nachbarn setzt die Existenz einer Ich-Instanz oder eines Bewußtseins überhaupt voraus, gleichgültig ob ich oder du oder Hinz und Kunz oder eine bestimmte Sprachgemeinschaft diese Instanz verkörpern. Die Rede von der Existenz der Sonne als dem Zentrum unseres lokalen Systems setzt die Sprachgemeinschaft der Physiker und Astronomen voraus, das zeigt sich exemplarisch darin, daß die vormalige Rede von der Sonne als einem Erdtrabanten von Astronomen und Physikern wie Kopernikus, Galilei und Newton aus dem Sprachgebrauch der Physik verbannt wurde.
Wenn wir keine generellen Aussagen über die Beschaffenheit unseres Lebensmusters machen können, legt uns dies nicht auf eine skeptische Position fest, die uns jedes Überblickes und sei er noch so fragmentarisch beraubte.
Wir können sagen, daß wir gewisse Fäden von einem abgeschlossenen Muster aufgreifen und sie in das neu begonnene einschlingen: Diese Fäden sind zum einen unsere eingewurzelten Neigungen und Dispositionen wie die Fähigkeit, zu schwimmen, Fahrrad zu fahren oder Klavier zu spielen; zum anderen gehören dazu die institutionellen Verpflichtungen, die wir über Jahre oder ein ganzes Leben lang mit uns tragen, wie die Verpflichtungen, die sich aus einem Ehekontrakt, einem Arbeitsvertrag, einem Kreditvertrag oder der Mitgliedschaft in der Kirche oder in einem Verein ergeben.
Zu den Mustern, die sich in unserem Lebensteppich wiederholen, gehören die Haltungen oder Einstellungen wie Freundschaft und Liebe; jemanden zu lieben heißt, oft an ihn zu denken, sich um ihn zu sorgen, ihm in Notlagen beizustehen und sich an seiner Gegenwart, seinem Gebaren, seinen Äußerungen zu freuen. Es heißt auch, Mißmut, Ärger und Groll, den der andere aufgrund von Mißverständnissen, schlechter Laune oder seines Unglücklichseins einem notwendigerweise immer wieder einmal verursacht, nicht auf die Goldwaage zu legen, sondern mit Geduld und Gleichmut zu ertragen und, freilich nicht über den Grad des menschlich Unerträglichen und Unzumutbaren hinaus, – eben liebend – zu verwinden. Haltungen wie Freundschaft und Liebe sind daher keine Gefühle, auch wenn sie natürlicherweise mit Gefühlen einhergehen, und die sexuelle Vereinigung der Liebenden gibt ihnen gewiß die intensivsten Gefühle, wobei das erregte Selbstgefühl sich oft so stark zur Geltung bringt, daß es trivialerweise sinnvoll ist, Liebe als Haltung und Sexualität als Gefühlserregung zu unterscheiden.
Liebe als Haltung ist das Gegenteil einer Obsession: Die leidenschaftliche Obsession, die eine meist krankhafte Spielart der sexuellen Besessenheit darstellt, bedrängt ihr Opfer einem mentalen Incubus gleich, es muß unentwegt an die Geliebte denken und ihr Bild umschwebt es wie ein Alb. Dagegen denkt der Liebende nicht ständig an die Geliebte, aber wenn er weiß, daß sie heute eine schwierige Situation zu bewältigen hat, pflegen seine Gedanken ihr nachzueilen, Tauben gleich, die um den alten Nistplatz des Kirchturms schwirren – während der Besessene eher dem Spürhund gleicht, der die Spur des weidwunden Rehs durch Wald und Gestrüpp atemlos verfolgt.
Ist Liebe eine Haltung, so Obsession eine Fehlhaltung. Der Besessene glaubt zu lieben, aber es ist nicht Liebe, was ihn bewegt, sondern Selbsttäuschung. Er täuscht sich über sich und das Objekt seiner Begierde, wenn er das, was ihn zu seinen oft aberwitzigen Gefühlen und wahnwitzigen Handlungen treibt, Liebe nennt. Wir erkennen den Unterschied leicht an dem Umstand, daß Obsessionen vermeintlicher Liebe gewöhnlich in Haß umschlagen, dann nämlich, wenn das illusorische Bild, das der Besessene sich vom Objekt seines Begehrens macht, an der Realität der Person, die sich davon wesentlich unterscheidet, zerbricht.
Ist Haß ein reaktives Erleben, wie im Falle der Enttäuschung des Besessenen durch die ernüchternde Realität der Person, die sein illusorisches Bild verdeckt hat? Oder sollen wir annehmen, daß im obsessiven Begehren das Moment des Hasses schon in der Geste enthalten war, mit der die Person von ihrem Bild eingefangen und überwältigt wurde?
Der Fanatiker bricht in Haß aus, wenn das Bild seiner religiösen Obsession durch schäbige Satiriker verhunzt, entstellt und in den Schmutz gezogen wird. Hinge er mit Liebe an dem Bild als an einem Symbol, bliebe er gelassen in dem Wissen, daß der Gegenstand seiner Verehrung gegen jeden Spott, jede Entstellung, jede Verhöhnung immun ist.
Liebe als Haltung ist genausowenig ein mentaler Zustand wie mein Wissen, daß es unendliche viele Primzahlen gibt. Denn zu glauben, daß man liebt, wenn man liebt, und zu glauben, daß man liebt, wenn man besessen ist, unterscheidet sich nicht wesentlich in Bezug auf den mentalen Zustand, der beide repräsentiert und jeweils in demselben Satz über den Inhalt dieses Glaubens ausgedrückt werden kann. Der mentale Zustand, der das Wissen von der unendlichen Anzahl der Primzahlen repräsentiert, unterscheidet sich nicht wesentlich von dem mentalen Zustand, der das vermeintliche Wissen repräsentiert, daß es eine größte Primzahl gebe. Worin unterscheidet sich Wissen von vermeintlichem Wissen? Durch die Wahrheit der Aussage, die das Gewußte ausdrückt, auf der einen Seite und die Unwahrheit der Aussage, die das vermeintlich Gewußte ausdrückt, auf der anderen Seite.
Was entspricht dem Wahrheitsbezug, der die wahre von der falschen Aussage auszeichnet, auf Seiten der Liebe, so daß wir wahre Liebe von Besessenheit oder erotischer Obsession unterscheiden können? Der Wahrheit auf der einen Seite entspricht das Vertrauen oder die Treue auf der anderen Seite, die sich im Wohlwollen bezeugt, das der Liebende dem Geliebten von der Stunde an bezeugt, da er sich mit ihm als einem Freund verbunden fühlt. Wir wissen um das seelische Grauen erotischer Obsessionen, bei denen sich das Objekt des Begehrens als feindliches Objekt entpuppt, eben als Gegenstand des Hasses. Wogegen der Geliebte als Freund das alter ego ist, in dem das Ego sich nicht bloß spiegelt, sondern transzendiert.
Der Beweis, den Descartes gegen die Skepsis der unendlichen Reflexion führte, gipfelte in der Anerkennung der Tatsache der Existenz des Ego cogito, dessen er sich letztlich nur über die Güte eines Gottes versichern konnte, der seine Geschöpfe nicht hinters Licht führt. Der tiefere Beweis gipfelt in der Anerkennung der Tatsache des alter ego, dessen Einzigartigkeit wir uns vergewissern, wenn wir es uns so denken, wie es vor dem Auge Gottes in seiner Einzigartigkeit erscheint.
Die unendliche Reflexion ist die Säure der Sünde, die die Muster des Lebensteppichs auflöst.
Die Unschuld oder die Anmut des Daseins wird durch die Reflexion oder die Eigenliebe des Bewußtseins aufgelöst und es verstrickt sich in dem Gewebe des Lebens, wie die Puppe Kleists, die würde sie sich ihres Daseins bewußt die Anmut ihres selbstlosen Tanzens verlöre. Nur wenn das Bewußtsein unendlich wird, wie Kleist es romantisch ausdrückt oder wie wir sagen können, in der selbstlosen Hingabe sich transzendiert, gewinnt es die Unschuld oder die Erinnerung an die Unschuld zurück.
Verstehen wir einmal unser Reden als Antworten auf Fragen, die andere an uns gestellt haben. Wir weisen den Weg und müssen Rede und Antwort stehen, wenn wir jemanden hinters Licht geführt haben. Wir lösen die Knoten unserer geistigen Verwirrung auf, indem wir die Sätze, in denen sie sich ausdrückt, anderen zur Prüfung und Korrektur vorlegen. Wir können Theorien, die wir uns ausgedacht haben, als gültig oder akzeptabel nur betrachten, wenn wir sie so klar und verständlich darstellen, daß andere sie nachvollziehen, gutheißen oder ablehnen können – freilich jene anderen, die gutwillig und einsichtig sind, denn die Böswilligen verweigern sich, auch und gerade wenn man ihnen den reinen Wein der Wahrheit einschenkt, und den Dummen kann man alten Wein in neuen Schläuchen anbieten; womit wir am Ende wieder eine schöne Runde im unausweichlichen hermeneutischen Zirkel gedreht hätten.
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