Semantik des ästhetischen Eindrucks (Teil V)
Entwurf einer empirischen Ästhetik auf semantischer Grundlage
Wir betrachten den semantischen Unterschied folgender Sätze:
1.1 Peter geht über die Straße.
1.2 Peter geht leichtfüßig über die Straße.
Wir haben bereist bemerkt, daß wir Satz 1.1 durch Hinzufügung weiterer Informationen über die Zeugen, die das Ereignis beobachtet haben, sowie die Ergänzung durch das Datum, den Zeitpunkt und den Ort des beobachteten Geschehens in einen semantisch vollständig individualisierten oder spezifizierten Satz erweitern können, etwa:
1.1.1 Zeugen A, B, C beobachten, daß Peter (Datum) (Uhrzeit) über die (Name) Straße geht.
Dagegen wurden wir gewahr, daß der Satz 1.2, der das ästhetische Prädikat enthält, auf das wir unser Augenmerk richten, eine solche Art der semantischen Spezifizierung nicht zuläßt; vielmehr ergab sich die allgemeine Formulierung:
1.2.1 Peter pflegt sich anmutig zu bewegen.
Wir sahen auch, daß die Verwendung des ästhetischen Prädikats, hier „anmutig“, ein Zug im Sprachspiel einer Gruppe oder Gemeinschaft darstellt, von deren Mitgliedern wir mit hoher Wahrscheinlichkeit erwarten, daß sie angesichts der Wahrnehmung, wie Peter über die Straße geht, eben dem Satz 1.2 beziehungsweise der allgemeinen Formulierung 1.2.1 ihre Zustimmung nicht verweigern werden.
Wir betrachten nunmehr die Sätze, von denen 2.1 eine leichte Variation enthält:
2.1 Peter geht schnell über die Straße.
2.2 Peter pflegt sich anmutig zu bewegen.
Daß Peter schnell über die Straße geht, ist im Gegensatz zu der Aussage, daß Peter über die Straße hastet oder huscht, kein ästhetisches Urteil, sondern ein Wahrnehmungsurteil mit einer quantifizierenden Bestimmung. Denn das Adverb „schnell“ impliziert eine mögliche Quantifizierung des Vorgangs, die wir mittels Anwendung bestimmter Meßverfahren objektivieren können: Wir nehmen eine Stoppuhr und messen Peters normale Gangart und seinen schnellen Schritt auf ein und derselben Wegstrecke und vergleichen die beiden erhaltenen Werte.
Wir können demnach das Wahrnehmungsurteil 2.1 auf folgende Weise neu formulieren:
2.1.1 Wir messen die Geschwindigkeit, mit der Peter über die Straße geht.
Den semantischen Unterschied des Wahrnehmungsurteils 2.1 vom ästhetischen Urteil 2.2 lesen wir jetzt daran ab, daß wir wohl für 2.1 objektivierende Meßverfahren anzugeben wissen, nicht aber für das ästhetische Urteil 2.2. Denn wie wir messen oder quantifizieren könnten, daß und wie sich jemand anmutig bewegt, ist unseren Möglichkeiten auf eine Weise entzogen, daß wir die Forderung nach Objektivierung in diesem Falle als unsinnig von der Hand weisen. Denn wir haben keinen Begriff davon, wie wir die Anmut messen könnten, mit der Peter über die Straße geht.
Indes, wenn Peter einmal in schwerfälliger oder schleppender Weise über die Straße geht (weil er beispielsweise eine schwere Last trägt) und ein andermal unbeschwert in seiner gewöhnlichen anmutigen Art dasselbe tut, würden wir erwarten, daß sich diese unterschiedlichen Bewegungsweisen in unterschiedlichen Mustern der neuronalen Prozesse abbilden, die währenddessen in seinem Gehirn ablaufen. Wenn wir sodann die beiden neuronalen Muster vergleichen könnten, wäre doch das zweite Muster jenes, von dem sich sagen ließe, es repräsentiere jene Bewegung, die wir anmutig nennen. Hätten wir damit nicht auf neurophysiologischer Grundlage eine Objektivierung des ästhetischen Urteils gewonnen, wonach sich Peter anmutig zu bewegen pflegt?
Wenn dem so wäre, könnten wir die beiden neuronalen Muster Mitgliedern derjenige Gruppe vorlegen, die darin geübt sind, das ästhetische Prädikat „anmutig“ zu verwenden, und erwarten, daß sie anhand des Vergleichs der Muster übereinstimmend dasjenige identifizieren, das die ästhetische Eigenschaft der Anmut repräsentiert. Indes, von jemandem zu erwarten, daß er angesichts eines ihm vor Augen gelegten Abbilds eines neuronalen Musters einen ästhetischen Eindruck empfängt, den er als den der Anmut anspräche, wäre in einem Maße unsinnig, daß wir es als lächerlich empfinden.
Dasselbe können wir im Umkehrschluß von den beiden analogen neuronalen Mustern sagen, einmal bei dem neuronalen Muster, das sich bei denjenigen findet, die von Peters schleppender Gangart den ästhetischen Eindruck haben, daß er sich schleppend bewegt, und zum andern Male bei dem neuronalen Muster, das sich bei denjenigen findet, die von Peters anmutiger Gangart den ästhetischen Eindruck haben, daß er sich anmutig bewegt: Wenn wir die Muster Mitgliedern einer Gruppe vorlegten, die darin geübt sind, das Etikett „anmutig“ korrekt zu verwenden, könnten wir dann erwarten, daß sie mehrheitlich in der Lage wären, dasjenige neuronale Muster zu identifizieren, das den ästhetischen Eindruck von Peters Art repräsentiert, leichtfüßig über die Straße zu gehen?
Aber was um alle Welt könnte an einem Gehirnscan den ästhetischen Eindruck der Anmut erwecken?
Dagegen steht die Tatsache, daß der neurowissenschaftliche Experte anhand der neuronalen Muster einer Bewegung oder einer Bewegungswahrnehmung feststellen kann, daß sie eine Bewegung beziehungsweise die Wahrnehmung einer Bewegung repräsentieren. Daraus schließen wir, daß wir den Satz über die Wahrnehmung, daß Peter über die Straße geht, aufgrund neurophysiologischer Verfahren objektivieren können, während kein Fachmann für Ästhetik den Satz über den ästhetischen Eindruck, daß Peter sich anmutig bewegt, auf dieselbe Weise objektivieren könnte.
Die Bedeutung eines ästhetischen Attributs wie „schwerfällig“ oder „anmutig“ ist demnach nicht identisch oder äquivalent mit dem neuronalen Muster, das derjenige aufweist, der das Phänomen wahrnimmt, das er „schwerfällig“ oder „anmutig“ nennt, sondern die Bedeutung des ästhetischen Ausrucks ist das, was die kompetenten Mitglieder einer Sprachgemeinschaft darunter verstehen, die das ästhetische Prädikat in ästhetischen Urteilen übereinstimmend verwenden.
Die Bedeutung ästhetischer Zuschreibungen ist genausowenig beliebig oder willkürlich wie diejenige von Wahrnehmungsprädikaten wie „schnell“, „dunkel“ oder „schwer“. Denn ihre Verwendung gehorcht sprachlichen Regeln, beispielsweise Regeln des Ein- und Ausschlusses und der Implikation: Etwas „anmutig“ zu nennen schließt aus, es „plump“ oder „schwerfällig“ zu nennen, und es impliziert, es gegebenenfalls durch Attribute wie „leichtfüßig“, „tänzelnd“ oder „schwebend“ ersetzen zu können.
Es ist demnach ein Fehlschluß, aus der Tatsache, daß sich ästhetische Urteile nicht wie Wahrnehmungsurteile objektivieren lassen, die berüchtigte sogenannte Subjektivität von ästhetischen Zuschreibungen ableiten zu wollen; denn wie gesehen folgt das ästhetische Sprachspiel wie alle Sprachspiele gewissen Regelmäßigkeiten und Konformitäten bei seiner korrekten oder angemessenen Ausführung – auch wenn die Kriterien der Objektivierung und Quantifizierung von Wahrnehmungsurteilen auf strengere und rigidere Regeln der Anwendung von Wahrnehmungsprädikaten hinweisen.
Wir lernen die Verwendung von Wahrnehmungsprädikaten und ästhetischen Prädikaten aufgrund von ostensiven Definitionen anhand entsprechender Beispiele. Wenn wir übereinstimmend sagen, daß der Papagei laut schreit, der Wecker laut klingelt und die Maschine laut schallt, haben wir den korrekten Gebrauch des Wahrnehmungsprädikates „laut“ gelernt. Auf der Basis des fundamentalen Sprachspiels der Wahrnehmung errichten wir das luftigere, feiner verästelte und nuanciertere ästhetische Sprachspiel; wir beginnen damit, daß wir beispielsweise sagen, der Papagei kreische, der Wecker schrille und die Maschine dröhne. Das können wir noch subtiler ausbauen, indem wir beispielsweise nicht nur sagen, daß die Farbe des Kleids rot und der Klang der Geige leise ist, sondern sagen, die Farbe des Kleids wirke schreiend und der Klang der Geige schmachtend.
Auf der Basis der Wahrnehmung und von Wahrnehmungsurteilen lernen wir die Verwendung von ästhetischen Prädikaten, aber das macht aus ästhetischen Urteilen keine echten oder verkappten Wahrnehmungsurteile. Das zeigt sich in der unterschiedlichen Art und Weise, wie wir den unkorrekten Gebrauch von Wahrnehmungsprädikaten und ästhetischen Attributen beurteilen oder tadeln: Denn wir tadeln jemanden nicht, weil er aufgrund einer Grün-Rot-Blindheit die beiden Farben nicht unterscheiden kann, doch weisen wir denjenigen zurecht, der einen in Lumpen daherschleichenden Bettler für eine elegante Erscheinung hält.
Ob wir allerdings in komplexen Anwendungsfällen wie bei den ästhetischen Prädikaten „spannungsarm“ oder „überladen“ für den Satz einer Sinfonie oder ein Gedicht einen Tadel aussprechen sollen, falls es sich um den ersten Satz der 5. Sinfonie von Beethoven oder das Gedicht „Der Mond ist aufgegangen“ von Matthias Claudius handelt, oder ob wir unser Urteil suspendieren und eine Art ästhetische Bedeutungsblindheit bei dem Betreffenden annehmen, wollen wir hier dahingestellt sein lassen.
Wir schauen nicht nach innen oder auf den Bildschirm unseres Bewußtseins, ob es da rot leuchtet, wenn wir angesichts einer Rose sagen, sie sei rot; ebensowenig beschreiben wir einen inneren Zustand, wenn wir unseren Eindruck von Peters Gangart als anmutig beschreiben; wenn es auch wahrscheinlich ist, daß wir eine gewisse gefühlsmäßige Spannung beim Hören des ersten Satzes der 5. Sinfonie von Beethoven oder ein Gefühl innerer Harmonie beim Hören des Gedichts von Matthias Claudius erleben.
Es ist im Zusammenhang ästhetischer Urteile oft und gern die Rede von Geschmacksfragen, über die nicht zu streiten sei, oder vom guten oder schlechten, groben oder verfeinerten Geschmack, wenn wir uns ein klares Urteil erlauben. Doch da wir das ästhetische Urteil als Grundform eines Sprachspiels ansehen, dürfen wir uns anmaßen, über Geschmacksfragen zu urteilen; ja, wir bemerken, daß das Urteilen in Sachen Geschmack selbst eine Form und Variante des ästhetischen Sprachspiels darstellt.
Ein probates sprachliches Mittel zur Erweckung des ästhetischen Eindrucks dessen, was wir „niedlich“, „süß“, „putzig“ und „lieblich“ nennen, ist die Diminutivform des Substantivs wie bei den Ausdrücken „Kindlein“, „Püppchen“ oder „Mäuschen“; wir finden im ornamentalen oder figürlichen Topos der Mäander, Kringel, Schleifen und Knospen im Zierrat auf gestickten Bändern oder den Putten und der subtil verschlungenen Flora auf Bildern gleichsam visuelle Arten des Diminutivs. Wenn diese Formen in Kontexten auftauchen, in denen sie zu Hause sind, wie in Abzählreimen und Märchen und in der Genremalerei oder in Illustrationen von Kinderbüchern, lassen wir dies gerne gelten. Doch in Kontexten, in denen von solchem Zierrat Abgründe des Menschlichen verdeckt oder zweideutige erotische Botschaften kaschiert werden, sprechen wir von Kitsch, und wir glauben zurecht, von schlechtem Geschmack reden zu können, wenn Kitsch den ästhetischen Eindruck beherrscht.
Ein probates Mittel zur Erweckung des ästhetischen Eindrucks dessen, was wir „erhaben“, „großartig“, „ungeheuerlich“ und „unheimlich“ nennen, ist die Vergrößerung und Übersteigerung der künstlerischen Formen ins Außergewöhnliche, Übermenschliche, Übernatürliche; wir finden sie in hymnischer Poesie wie den Psalmen, den Liedern der Edda, in den Dichtungen Klopstocks, Goethes und Hölderlins, in der steinzeitlichen Höhlenmalerei, beim Tempel vom Paestum und der Kathedrale von Chartres, in der Malerei eines William Turner und Caspar David Friedrich oder in der Sinfonik von Beethoven, Bruckner und Mahler, wo sie überall ihren Rang und rechten Ort haben. Doch wenn die Übersteigerung gewisse Grenzen überschreitet, hinter denen der ästhetische Eindruck des Großen, Ungeheuren und Erhabenen sich mit dem des Gewaltsamen, Monomanischen und Exzessiven trübe oder schwülstig mischt, sprechen wir ebenfalls von Kitsch, im Gegensatz zum süßlichen Kitsch von Kitsch der negativen oder sauren Art, oder von Schwulst, auch dieser neben seiner sentimentalen Verfettung in einer gleichsam dürren und metallisch-kalten Variante; diese degenerierte Formen begegnen uns etwa in gewissen Kolossalstatuen der Antike wie der legendären des Kaisers Nero, in den Kolossen eines Arno Breker, in den alle menschlichen Proportionen niederschlagenden Architekturplänen Albert Speers oder in der Propagandakunst des Sozialistischen Realismus, aber auch in den Blutbildern eines Hermann Nitsch oder in den stupiden Wiederholungen betäubender Rhythmen elektronisch generierter Musik. Auch hier ist etwas aus den Angeln und aus dem Gleichgewicht geraten, etwas, was wir gern in die Wendung vom harmonischen Ausgleich der Strebungen, Antriebe und Kräfte fassen, ein Ausgleich und eine Temperierung, die das Klassische der klassischen Kunst ausmachen, wie wir es beispielsweise an der rhythmischen Ordnung und Reihenfolge von apollinischem Dialog und dionysischem Chorgesang in der antiken Tragödie, im Wechsel der Töne in Hölderlins Hymnendichtung oder in der Setzung, Durcharbeitung und Reprise der Themen der Sonatenform bewundern.
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