Semantik des ästhetischen Eindrucks (Teil IV)
Entwurf einer empirischen Ästhetik auf semantischer Grundlage
Über den semantischen Unterschied zwischen Wahrnehmungsurteilen und ästhetischen Urteilen
Der Satz
1.1 Peter geht über die Straße
ist ein Wahrnehmungsurteil, denn er ist die Kurzform für den implizierten vollständigen Satz über die Wahrnehmung, daß Peter über die Straße geht; der Rückschluß auf die Wahrnehmung ist ein Element unseres epistemischen Hintergrundwissens.
Die semantisch vollständig Form des Wahrnehmungssatzes lautet dementsprechend:
1.2 Karl sieht, daß Peter über die Straße geht.
Dieser Satz ist wahr, wenn Peter über die Straße geht und Karl diesen Vorgang beobachtet.
Natürlich müssen wir auch diesen Satz noch um wesentliche Informationen ergänzen, damit wir überprüfen und feststellen können, ob er stimmt oder wahr ist; die Angaben über den Ort, den Zeitpunkt und das Datum des Geschehens und seiner Wahrnehmung sind die wesentlichen Ergänzungen, die wir benötigen, um die semantische Vollform des Wahrnehmungsurteils zu erhalten:
1.3 Karl sieht am 10. Februar 2017 um 13.15 Uhr, daß Peter über die Berger Straße in Frankfurt am Main in Richtung Merianplatz geht.
Dieser Satz ist äquivalent, das heißt bedeutungsgleich, mit dem Satz:
1.4 Karl sieht, daß Peter am 10. Februar 2017 um 13.15 Uhr über die Berger Straße in Frankfurt am Main in Richtung Merianplatz geht.
Wie können wir die Wahrheit oder Falschheit dieses Wahrnehmungsurteils feststellen? Um die Korrektheit der Wahrnehmung, daß Peter zum besagten Zeitpunkt über die Straße geht, ausfindig zu machen, muß für mindestens eine dritte Person, nennen wir sie Claudia, gelten:
1.5 Claudia sieht, daß Peter am 10. Februar 2017 um 13.15 Uhr über die Berger Straße in Frankfurt am Main in Richtung Merianplatz geht.
Wenn Claudias Urteil über ihre Wahrnehmung bedeutungsgleich mit dem Urteil Karls über seine Wahrnehmung ist, können wir von der hohen Wahrscheinlichkeit ausgehen, daß Peter zum besagten Zeitpunkt am besagten Ort war. Natürlich erhöht sich die Wahrscheinlichkeit der Korrektheit der Wahrnehmung und der Wahrheit des Wahrnehmungsurteils exponentiell in dem Maße, wie wir andere glaubwürdige Augenzeugen finden, die den angeführten Satz bestätigen.
Natürlich kommt eine noch so hohe Wahrscheinlichkeit für die Korrektheit einer Wahrnehmung und die Wahrheit eines Wahrnehmungsurteils ihrer Korrektheit und Wahrheit nicht gleich; wir entheben uns dieser epistemischen Beunruhigung einfach dadurch, daß wir in gut belegten Fällen den Anspruch auf Wahrheit des Urteils qua Festsetzung durch das hohe Maß oder das Höchstmaß an Bestätigung ersetzen, das wir mit unseren Verfahren der Validierung von Wahrnehmungsurteilen erreichen können.
Die Personen, die übereinstimmende Wahrnehmungsurteile fällen und äußern, nennen wir Zeugen des Vorgangs, die Äußerung des Urteils nennen wir Zeugnis oder Zeugenschaft. Wie wir gewahren, sind Belege durch Zeugen oder Zeugnisse die fundamentale Basis, von der aus wir neue Zugänge zu den Vorkommnissen der Welt gewinnen oder unsere Kenntnisse über die Ereignisse in der Welt über unsere eigenen Wahrnehmungen hinaus erweitern.
Dies gilt auch für die Bezeugung historischer Ereignisse und also für historische Urteile; denn die Basis historischer Urteile sind Wahrnehmungen von Zeugen historischer Ereignisse. Wir gewinnen ein historisches Urteil einfach dadurch, daß wir ein Wahrnehmungsurteil mit der Vergangenheitsform der verwendeten Verben und der entsprechend modifizierten Angabe über das Datum ausstatten; so wird aus dem oben angeführten Satz der Satz:
1.6 Karl sah, daß Peter am 10. Februar 1910 um 13.15 Uhr über die Berger Straße in Frankfurt am Main in Richtung Merianplatz ging.
Es ist klar, daß die Beteiligten mittlerweile verstorben sind; und dieser Umstand, daß die Zeugen historischer Ereignisse zumeist tot sind, verweist uns auf die eigentümliche Aufgabe der Historiographie, ihre Zeugenschaft aus hinterlassenen Dokumenten wie Tagebüchern, Briefen, Urkunden und anderen zu entnehmen und zu rekonstruieren.
Wir bemerken, daß historische Urteile ihren Wert und ihre Aussagekraft dadurch erlangen, daß wir ihren Kernbestand auf Wahrnehmungsurteile zurückführen können, also etwa auf Urteile über die Wahrnehmung, daß Cäsar am 10. Januar 49 vor Christus den Fluß Rubikon, die offizielle Staatsgrenze der römischen Republik, überschritt – womit er die kriegerische Gegenwehr des römischen Senats heraufbeschwor.
Auch für historische Urteile gilt, was für aktuelle Wahrnehmungsurteile gesagt wurde: Die Wahrscheinlichkeit ihrer Korrektheit und damit der Wahrheit ihrer Aussage erhöht sich exponentiell mit der Zunahme der voneinander unabhängigen, glaubwürdigen Zeugen, die das betreffende Ereignis übereinstimmend beurteilen. Und wir haben über die entscheidende Tat Cäsars nicht nur seine Selbstaussage in seinem Bericht an den Senat, sondern gleichsinnige oder bedeutungsgleiche Aussagen anderer Quellen, wie der Annalen des römischen Senats und der Aussagen von zeitgenössischen Historikern.
Auch in Fällen gut belegter historischer Wahrnehmungsurteile entheben wir uns der epistemischen Beunruhigung, sie nie vollständig verifizieren zu können, dadurch, daß wir ihren Anspruch auf Wahrheit durch das hohe oder Höchstmaß an Bestätigungsgewißheit ersetzen, die wir jeweils mittels der historisch-kritischen Verfahren der Quellenkunde zu erreichen vermögen.
Wir können bei dem erwähnten wie bei vielen anderen historischen Ereignissen aber auch ein logisches Verfahren anwenden, indem wir eine irreale Bedingung als Wahrheits- oder Wahrscheinlichkeitsprobe der betreffenden Aussage formulieren, etwa:
– Hätte Cäsar am 10. Januar 49 v. Chr. den Rubikon nicht überschritten, wäre es nicht zum Bürgerkrieg zwischen ihm und Gnaeus Pompeius gekommen.
– Es gab den Bürgerkrieg zwischen Cäsar und Pompeius.
– Also hat Cäsar den Rubikon überschritten.
Die Belege für den Bürgerkrieg sind zahlreich, die Tatsache, daß er stattfand, zu bestreiten, wäre absurd. Demnach könnten wir den Rückschluß auf die Tat Cäsars, den Rubikon überschritten zu haben, ziehen, auch wenn wir keine direkten Zeugnisse über die Wahrnehmung dieses Vorganges in Händen hätten.
Das logische Verfahren des indirekten Beweises aus der Widerlegung der Ausgangsannahme können wir auch zur Ermittlung des Schlusses auf Ereignisse anwenden, für die uns Zeugnisse der unmittelbaren Wahrnehmung fehlen:
– Wäre Peter am 10. Februar 2017 gegen Mittag nicht über die Berger Straße in Frankfurt am Main in Richtung Merianplatz gegangen, wäre er dort nicht von einem Auto angefahren worden.
– Peter ist dort von einem Auto angefahren worden.
– Also ist Peter über die Berger Straße gegangen.
Wir folgern dies aus dem Protokoll des Polizeiberichts, auch wenn es keine Zeugen geben sollte, die unmittelbar wahrgenommen haben, wie Peter über die Straße ging.
Wir bemerken, daß wir mittels logischer Verfahren vielfach mögliche Wahrnehmungsurteile ableiten können; dies gilt insbesondere für historische Berichte, wie beispielsweise die Aufzeichnungen des Pfarrers Oberlin, die der Dichter Georg Büchner für die Ausarbeitung seiner Novelle „Lenz“ benutzt hat. Den ersten Satz der Novelle „Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg“ können wir aufgrund von Hintergrundinformationen aus den Aufzeichnungen von Oberlin und anderen Zeugnisses wie Briefen folgendermaßen ergänzen:
Am 20. Januar 1778 ging der Dichter Lenz durch das Steintal in den Vogesen Richtung Waldersbach zu dem Pfarrer Oberlin.
Wenn wir die Wahrheits- oder Wahrscheinlichkeitsbedingung dieses echten historischen Satzes angeben wollen, müssen wir einen irrealen Konditionalsatz bilden, aus dem wir die mögliche Wahrnehmung dieses Ereignisses ableiten können:
Wärst du (oder ein beliebiger Zeuge) am 20. Januar 1778 im Steintal in den Vogesen in Richtung Waldersbach gewandert, wäre dir (mit hoher Wahrscheinlichkeit) der Dichter Lenz begegnet.
Immer wenn wir bei Sätzen dieser Art mittels der Formulierung eines irrealen Bedingungssatzes das Wahrheits- oder Wahrscheinlichkeitskriterium für ihre Verifikation oder Bestätigung durch unmittelbare Wahrnehmung angeben können, wissen wir, daß es sich um deskriptive Sätze einer historischen Beschreibung handelt. Können wir dieses Verfahren nicht anwenden, dürfen wir vermuten, daß es sich nicht um deskriptive Sätze historischer Berichte, sondern um fiktionale Sätze der Dichtung handelt.
Am evidentesten ist dies bei den fiktionalen Sätzen von Märchen, deren typischer Beginn mit „Es war einmal“ in uns den sogenannten Märchenton anklingen läßt. Es wäre unsinnig, annehmen zu wollen, daß du (oder ein beliebiger Zeuge) Hänsel und Gretel im Walde begegnet wärest, wenn du nur rechtzeitig hinter dem richtigen Baum des richtigen Waldes gelauert hättest.
Die Verwendung der Vergangenheitsform in den deskriptiven Sätzen historischer Berichte, die wir in Sätze über mögliche Wahrnehmungen umformulieren können, ist eine semantisch vollkommen andere als die Verwendung des poetischen Präteritums in Dichtungsformen wie der Novelle, dem Roman, dem Märchen oder dem Gedicht. Die historisch-deskriptiven Sätze können im Gegensatz zu Sätzen der Dichtung vollständig individualisiert oder spezifiziert werden, das heißt, durch Angaben über Daten, Zeitpunkte und Lokalitäten angereichert werden, die sie zu Sätzen über mögliche Wahrnehmungen oder zu virtuellen Wahrnehmungsurteilen machen. Diese Form der Spezifizierung können wir bei Sätzen der Dichtung nicht vornehmen.
Daraus folgern wir, daß die Sätze der Dichtung keine Anweisungen zu virtuellen Wahrnehmungen enthalten: Die Rose des Gedichts duftet nicht, und sie bleibt auch unsichtbar. Und mehr noch: Auf dichterische Aussagen ist wegen ihrer fehlenden Verbindung zu möglichen Wahrnehmungsurteilen das semantische Wahrheits- oder Wahrscheinlichkeitskriterium nicht anwendbar. Dichterische Sätze sind weder wahr noch falsch.
Betrachten wir den folgenden Satz, um den semantischen Unterschied zwischen Wahrnehmungsurteilen und ästhetischen Urteilen in den Blick zu bekommen:
2.1 Peter geht leichtfüßig über die Straße.
Die adverbielle Bestimmung „leichtfüßig“ ist das ästhetische Prädikat, mit dem wir den Eindruck wiedergeben, den die Art, wie Peter über die Straße geht, auf uns macht. Wir sehen sofort, daß wir nur dieses Adverb streichen müssen, um unseren Ausgangsatz 1.1 zu erhalten, jenen Satz, der sich als von glaubwürdigen und voneinander unabhängigen Zeugen validiertes Urteil über ihre Wahrnehmungen erwies, daß Peter über die Straße geht.
Ästhetische Urteile, so scheint es, können wir mittels Transformation von Wahrnehmungsurteilen gewinnen, indem wir diese mit einem ästhetischen Ausdruck oder Prädikat versehen, mit dem wir die spezielle Beleuchtung oder Anmutung klassifizieren, den der sensorischer Eindruck auf uns macht, über den der Satz etwas aussagt.
Doch der Schein trügt. Denn wir meinen mit dem Satz 2.1 nicht, daß wir eben gesehen haben, wie Peter leichtfüßig über die Straße geht, sondern daß es Peters Art ist, leichtfüßig daherzukommen. Wir merken dies deutlicher, wenn wir statt „leichtfüßig“ beliebige andere ästhetische Prädikate wie „tapsig“, „plump“, „gravitätisch“ oder „tänzelnd“ einsetzen. Wir tun daher gut daran, den Satz umzuformen, um seinen Sinn deutlicher zu machen:
2.1 Peter pflegt leichtfüßig über die Straße zu gehen.
Diesen Satz können wir leicht in eine allgemeingültige Form gießen:
2.3 Peter pflegt sich anmutig zu bewegen.
Wenn wir in diesen Fällen das ästhetische Prädikat tilgen, erhalten wir Sätze eines trivialen Inhalts, wie daß Peter über die Straße zu gehen pflegt oder daß er sich zu bewegen pflegt. Dieser triviale Inhalt ist gleichsam das Residuum jener Wahrnehmungsurteile, die wir voraussetzen, wenn wir ästhetische Prädikate verwenden.
Können wir ästhetische Urteile der angeführten Art wie echte Wahrnehmungssätze einem Wahrheits- oder Wahrscheinlichkeitstest unterziehen, indem wir sie von glaubwürdigen und voneinander unabhängigen Zeugen validieren lassen? Wenn Karl und Claudia sich in ihrem Urteil einig sind, daß Peter sich anmutig zu bewegen pflegt, kommt Paul daher und bestreitet diese Aussage klipp und klar, denn Paul ermangelt, wie wir gerne sagen, das Sensorium für die Zuschreibung ästhetischer Prädikate. Dadurch wird der Satz 2.3 aber nicht in Frage gestellt, im Gegensatz zu dem Wahrnehmungsurteil: Denn wenn zwar Karl und Claudia die Wahrnehmung bestätigen, Peter zu einem bestimmten Zeitpunkt die Straße überqueren gesehen zu haben, doch Paul, der ebenfalls vor Ort war und Peter länger kennt als die beiden anderen, dies nicht tut, müssen wir den Wahrheits- oder Wahrscheinlichkeitswert des Satzes in der Schwebe halten.
Wie können wir den semantischen Unterschied schärfer fassen? Wir bemerken, daß der intentionale Inhalt von Wahrnehmungssätzen eben der Vorgang oder Sachverhalt ist, den sie benennen; die Tatsache, daß Peter über die Straße geht, ist der intentionale Gehalt des Satzes, den wir in Kurzform so aufschreiben:
2.4 Er (ein beliebiger Zeuge) sieht, daß p.
Indes haben ästhetische Urteile keinen intentionalen Gehalt dieser Art: Ästhetische Prädikate stellen keine möglichen Sachverhalte dar, sondern gewichten und klassifizieren den Eindruck, den wir von einem Geschehen haben. Ihre Verwendung gehorcht den konventionellen Regeln oder Gepflogenheiten eines Sprachspiels, dessen grundlegende Sätze ästhetische Urteile darstellen.
Wir können den Unterschied auch an der Tatsache ermessen, daß die Mißachtung oder Verletzung der Regeln des ästhetischen Sprachspiels weniger streng sanktioniert wird als die Mißachtung oder Verletzung der Regeln bei der Verwendung von Wahrnehmungsurteilen: Die rote Ampel zu mißachten hat bisweilen fatale Folgen, während sich dem ästhetischen Eindruck eines Gedichts oder eines Konzerts zu verweigern keine Gefahr für Leib und Leben des Ignoranten oder Banausen heraufbeschwört, wenn er auch die scheelen Blicke oder die Verachtung der Kenner und Musikliebhaber auf sich ziehen mag, in deren gesellschaftlichem Kreis er seine Ignoranz kundtat.
Es ist erhellend festzustellen, aus welchen Quellen des sinnlichen Eindrucks sich unsere ästhetischen Eindrücke speisen. Wir entnehmen den Vorschriften für die Vortragsweisen einer Partitur, daß dieses Musikstück „andante“, jenes „presto“, dieses „adagio“, jenes „forte“ vorzutragen sei. Es verwundert nicht, daß wir in der Zeit- und Bewegungskunst der Musik ähnlich wie im Tanz auf Regeln für die langsame oder schnelle Ausführung stoßen oder daß wir bei der Intonation von Klängen leise und laute Töne unterscheiden. Doch offenkundig erhalten wir keinen ästhetischen Eindruck von der Qualifizierung der Bewegung
oder der Klangintensität, wie sie die folgenden Sätze benennen:
2.5.1 Peter ging langsam (schnell) über die Straße.
2.5.2 Peter hat sehr laut (sehr leise) geredet.
Wie schnell oder langsam Peter über die Straße ging, wie laut oder leise er sprach, ist für die wesentliche Wahrnehmung, die in den Sätzen ausgesprochen wird, nämlich, daß er über die Straße ging und daß er geredet hat, zunächst zweitrangig. Während die Einhaltung der Partiturvorschrift „andante“ oder „presto“, „adagio“ oder „forte“ für die Art unseres ästhetischen Eindrucks entscheidend und unverzichtbar ist.
Es sei darauf hingewiesen, daß alle Eigenschaften sinnlicher Eindrücke durch einfache Umwandlung der Verwendung zu ästhetischen Prädikate werden können: Dies gilt für sinnliche Eindrücke, die auf das Wirken der Gravitationskraft zurückgehen, wie „schwer“ oder „leicht“, für Eindrücke motorischer Provenienz wie „schnell“ oder „langsam“, für visuelle Eindrücke wie „hell“ und „dunkel“ und für akustische Eindrücke wie „laut“ und „leise“.
Wir können sagen, diese Umwandlung bezeichne das Wesen des metaphorischen Sprachgebrauchs; der metaphorische Sprachgebrauch wäre demzufolge die sprachliche Leistung, mittels der wir ästhetische Prädikate erzeugen. Betrachten wir dies abschließend an folgenden Beispielsätzen:
2.6 Eisen und Steine wiegen schwer.
2.7 „Ich fühle mich schwer.“
2.8 „So eisern mein Himmel ist, so steinern bin ich.“ Friedrich Hölderlin
Wir erhalten von dem Wahrnehmungsurteil 2.6 keinerlei ästhetischen Eindruck. Die Aussage 2.7 informiert uns mittels des metaphorischen Sprachgebrauchs über die depressive Stimmungslage des Sprechenden, ohne einen bestimmten ästhetischen Eindruck bei uns zu hinterlassen. Dagegen dienen die metaphorischen Ausdrücke „eisern“ und „steinern“ in 2.8, die Hölderlin in einem Brief an Schiller verwendet, nicht nur dazu, seinen Briefpartner über seine depressive Stimmungslage in Kenntnis zu setzen; sie wollen vielmehr darüber hinaus einen eigentümlichen ästhetischen Eindruck erwecken, den wir im ästhetischen Wörterbuch der klassisch-romantischen Tradition unter dem Lemma „erhaben“ finden. Der ästhetische Eindruck, den wir mit einem Prädikat wie „erhaben“ zu klassifizieren pflegen, beruht hier demnach nicht auf der schlichten Verwendung eines metaphorischen Sprachgebrauchs; er kommt allererst durch die dichterische Steigerung und Intensivierung der Metapher vom Schweregefühl zustande, die in dem Ausdruck 2.7 schon fast gänzlich verblaßt ist.
Während die gleichsam natürlichen Prädikate wie „schwer“ und „leicht“, „hoch“ und „niedrig“, „hell“ und „dunkel“, „laut“ und „leise“, mit denen wir unsere Sinneseindrücke beschreiben und ohne Zögern unsere Wahrnehmungsurteile ausstaffieren, auf dem Nährboden unserer biologischen Ausstattung entsprossen sind, scheinen ästhetische Prädikate wie „erhaben“, „graziös“, „majestätisch“, „niedlich“, „manieriert“, „grotesk“ oder „romantisch“ seltsame Gewächse künstlicher Züchtung. Sie sind eben Spielmarken eines sehr künstlichen Sprachspiels, und Sprachspiele der ästhetischen Art werden, bestimmten kultisch-religiösen nicht unähnlich, von historischen Kollektiven oder kulturellen Gruppen gespielt, die einander an ihrem ästhetischen Ausdruck erkennen und sich anderen Gruppen damit zu erkennen geben.
Gruppen haben eine soziale Biographie, die von ihrer Geburt über ihre Blüte bis zum Verfall und Untergang reicht; die Etiketten und Spielmarken des ästhetischen Sprachspiels, die Gruppen zur Eigenmarkierung verwenden, entsprechen zunächst ihrer sozialen Position und Rangstellung und sodann der zeitlichen oder chronologischen Position in ihrem Entwicklungsgang und ihrer Biographie. So sind wir geneigt, den ästhetischen Eindruck, den Bilder und Symbole der ästhetischen Selbstdarstellung oder symbolischen Repräsentation herrschender Eliten wie des Adels oder des Königshofes auf uns zu machen pflegen, mit ästhetischen Prädikaten wie „prunkvoll“, „prächtig“, „erlesen“, „exquisit“, „extravagant“, „majestätisch“, „raffiniert“ oder „sublim“ zu bezeichnen. Dabei finden wir oft eine evolutive Linie, die sich gleichsam um die soziale Positionierung der Gruppe herumschlängelt, beim repräsentativen ästhetischen Ausdruck der adligen Elite von den archaisch-wuchtigen Gesten der Selbstbehauptung der Eroberung ihrer Position über die klassisch-gelassenen Formen des feinen Stils der sozialen und kulturellen Höhe bis zur rokokohaft-verspielten Traumwelt, die meist schon vor dem Abgrund des sozialen Abstiegs oder Untergangs spielt.
Die Grammatik der Verwendung ästhetischer Prädikate ist zugleich eine historische Stillehre, die uns mit den Etappen, Entwicklungszügen und signifikanten Zeit- und Epochenschwellen bekannt macht, in denen der Gebrauch bestimmter ästhetischer Marker sich häuft oder stereotyp wird und damit andere bisher verwendete von der Bühne und aus dem Lampenlicht verdrängt; die Häufung und Bevorzugung bestimmter ästhetischer Prädikate erweist sich als Phänomen der Mode, denn sie gehorcht wie diese der sozialen Ökonomie der Aufmerksamkeit.
Die Status- und Konkurrenzregeln der Aufmerksamkeitsökonomie vermögen bisweilen extreme und bizarre ästhetische Phänomene zu erzeugen; so finden wir eine Ästhetik der Verzerrung und Verrenkung, Überdehnung und Übersteigerung im manieristischen Stil der Malerei wie bei Jacopo da Pontormo und El Greco oder im Surrealismus. Wir finden eine aufdringliche, grelle, schreiende Ästhetik der Lumpen, der Dürftigkeit und des Elends in der ästhetischen Selbstinszenierung von Gruppen wie bei den Punks oder in Kunstströmungen wie dem Expressionismus oder der Arte povera.
Häßliche Verzerrungen, Narben der Selbstverstümmelung, verwahrloste Körper werden Mode oder schockieren sollende Bilder des Elends, klagender Mütter, gestrandeter Leichen, verwester Körper sind der letzte Schrei auf Fernsehschirmen und digitalen Medien. Um sie unverdächtig goutieren und konsumieren zu können, versteckt sich der Voyeur des Elends gern hinter dem Vorwand, mit solchen apokalyptischen Bildern ein hohes moralisches Anliegen zu verfolgen, die angebliche Rettung der Welt durch den Aufstand der Gerechten; in Wahrheit erweist diese Ästhetik, daß ihre Vertreter, die kulturell-mediale Elite, im letzten Stadium ihrer Gruppenbiographie angelangt ist, in dem die ästhetischen Ressourcen erschöpft und aufgebraucht sind oder die geduldete Verwendung ästhetischer Zuschreibungen und Prädikate sich vor dem inquisitorischen Tribunal einer puritanischen oder exzessiven Gesinnungsmoral zu rechtfertigen hat.
Foren, Säulenordnungen, Tempel und Figuren, mit denen ein Volk oder eine herrschende Elite den Eintritt in die geschichtliche Zeit ästhetisch markiert, wollen durch Formen der Selbstbehauptung ästhetisch beeindrucken. Daher die erhabene Wucht der dorischen Säulen, die hoheitsvolle Anmutung im freien Stand der Plastik, das göttliche Lächeln der Selbstgewißheit bei den Koren.
Der Mensch beweist sich die Macht seines Daseins und vergewissert sich der Wirkmacht seines Wollens und Denkens durch Bemeisterung des Chaos und der Unordnung und die souveräne Gestaltung lichtvoller Ordnung. Wir ersehen dies an den geometrisch-linearen Reihungen abstrakter, floraler, figürlicher Motive zu ornamentalen Mustern auf Vasen, Schmuckstücken oder Tempelfriesen der frühen Kunst.
Sind die Monumente errichtet, ragen die Stelen, prangen Bild und Inschrift des Grabmals, kann der Efeu sie überwuchern, rankt sich am Kapitell der Säule das Blatt des Akanthus. So wird der ästhetische Ausdruck verfeinerter, inniger, verspielter, und wenn einmal der Glanz der frühen Geste gelang, kann Schatten und Grünspan ihn wieder verdunkeln.
So wird der Geschmack der Spätzeit zierlich und zweideutig, ein Chiaroscuro, in dem das Licht unheimliche Schatten der Ahnung und Angst wirft, ein anspielungsreicher, zitatenstrotzender, unter schwelenden Überladenheiten gekrümmter, ächzender, zusammensackender Stil, das Zeugnis des Menschen an der Grenze des Möglichen, am Abgrund des Wirklichen.
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