Der Hüter auf der Schwelle
Sentenzen und Aphorismen zur Philosophie der Subjektivität
Das Licht der Welt ist an. Und was siehst du? – Ein Mäuschen huscht vorüber.
Begnügen wir uns mit dem fahlen Licht, den verschwimmenden Konturen der Dämmerung, dem leiser werdenden Gesang.
Die Rose des Gedichts duftet nicht.
Die Rose Schönheit verströmt einen geistigen Duft.
Die Rose Schönheit spiegelt sich auf dem dunklen Teich der Erinnerung.
Was kann es, meint man, physisch Bedrängenderes, fleischlich Bezwingenderes geben als den Schmerz; und doch ist Schmerz ein geistiges Phänomen, denn er reicht nur so weit und so tief, wie wir uns unseres Daseins bewußt sind.
Die gut bewachte Schwelle lockt die Räuber mehr als die mit Moos überwachsene.
Schwelle – ein anderer Begriff für Wachheit.
Sich nach der Sonne drehen, sich ins Licht recken, die Hände zu den oberen Sphären heben – EINE Figur für die drei Dimensionen des Lebens, der Kunst und der Religion.
Angst vor dem Gefühl oder Angst vor dem Verlust des Gefühls hat Mynheer Peeperkorn, eine der eigentümlichsten Figuren im „Zauberberg“ von Thomas Mann. Es bleibt unausgesprochen und diskret, aber mit den Händen der Intuition greifbar, daß der primitive Ursprung dieses Gefühls die Urangst des Mannes vor dem sexuellen Versagen, der Impotenz, darstellt. Nun, als Mann von Format und eine Persönlichkeit, der aus wunderlich wundenhaft aufgesprungenen Lippen hochmögende geistige Abgerissenheiten entfahren, ist der blonde Holländer mit den spritzkralligen Kapitänshänden, die wie ein Leu der Lüfte in die Nebel des Unsagbaren, in den dionysischen Schaum der Lebenswelle greifen, selbstredend der Typus Ausnahmemensch, der Mann auf der Schwelle von Jetzt und Einst, Erinnerung und Prophetie, Erfüllung und Verzicht; und als solcher packt ihn die Angst vor der Ohnmacht als Angst, sich selbst zu verlieren, die nur – auf Zeit – von der seinem inneren Grauen korrespondierenden Ergebenheit der liebenden Frau, von Clawdia Chauchat, aus der Höhe ihrer Erniedrigung ausgehalten, ausgeglichen, aufgefangen werden kann.
Gewiß, es ist der Mann, nicht die Frau, der Mann der Tat und der Schau, der auf der Schwelle harrt, sitzt, lauert; Frau ist ja nur ein Synonym für die Geborgenheit und Verborgenheit hinter der Tür, das Geheimnis des Innen.
Man kann das Leben auch auf der Schwelle verbummeln und vertrödeln, wie es dem Kind behagt, das stumm auf seinem Schemel hockend seine Stulle kaut, und da draußen regnet es und gibt es ein Wetter, das den Himmel aufreißt und theatralisch Wolken verschiebt – bis die Großmutter es nach innen ruft, wenn es Abend wird und Dämmerung fällt.
Gewiß ist der reife, edle, tapfere Mann Wächter auf der Schwelle des Hauses, der Gemeinde, des Lebens und beobachtet die Lage, hält Ausschau nach Feindbewegungen, schließt die Türe, wenn Stürme drohen oder Schatten sich nähern.
Erwachen auf der Schwelle – als würde die Haut entzündet von einem fernen Licht.
Erwachen auf der Schwelle – als würde ein Stern sich in einem Teich spiegeln, der an seinem Funkeln lebendig wird.
Eine Art unbewußter Heliotropismus, so wie wir ihn von den Pflanzen kennen, wird in den frühen Stadien auch organisches Leben orientiert haben; doch können wir die Ausrichtung des Wimperntierchens nach Licht und Schatten nicht SEHEN nennen: Sehen setzt das Bild voraus, Bild oder Repräsentation der Lage, und das Bild und die Repräsentation verlangen wiederum das wie auch immer dunkle Bewußtsein, von dem wir implizit sprechen, wenn wir behaupten, einer sehe etwas.
Doch wir sehen was ist nicht als visuelles Bild, sondern als Gehalt der wahren Sätze.
Die Semantik der sinnlichen Wahrnehmung kann nicht auf die Physiologie und Neurologie reduziert werden: Etwas zu hören heißt nicht, einem akustischen Reiz derart ausgesetzt sein, daß seine unbewußte Verarbeitung als muskuläre Kontraktion moduliert und transformiert wird. Ähnlich wie beim Sehen müssen wir von einem Klangbild sprechen, von einer phänomenalen Umformung des akustischen Reizes, die ein wie immer dunkles Bewußtsein impliziert, wenn wir davon sprechen, jemand höre etwas.
Doch hören wir was ist nicht als akustisches Bild, sondern in der Interpretation sprachlicher Laute.
Das visuelle Bild und das Klangbild schweben gleichsam eine kleine Weile über dem Reflexbogen, der den optischen oder akustischen Reiz neuronal mit der muskulären Reaktion verbindet: So sehen wir ein Gesicht vor uns auftauchen und erkennen, ob es gut oder böse, freundlich oder feindselig blickt.
Visuelles Bild und Klangbild sind Schwellenphänomene, auch sie Wächter an der Tür.
Wir sehen ein Gesicht, das uns feindselig scheint, doch wirkt es erst durch den Einfall eines Schattens so, daß wir uns beinahe abgewandt hätten. Wir haben das Bild gedeutet und bleiben ruhig, der unwillkürliche Reiz hätte uns zu einer sinnlosen Flucht verleitet.
Wir hören hinter uns einen Knall, drehen uns um und sehen einen geplatzten Luftballon am Boden und kleine Jungs, die wegrennen. Die Gefahr war nur scheinbar, wir haben das Klangbild gedeutet und bleiben ruhig.
Wir lesen ein Gesicht oder ein mimisches Muster, wenn wir sagen, es scheint bloß grimmig zu blicken, aber in Wahrheit ist es freundlich, der Schatten hat es verzerrt.
Wir lesen das Klangbild der gesprochenen Sprache, wenn wir anhand der akustischen Reize der Phoneme Bedeutungen und bedeutsame Mitteilungen identifizieren.
Den Hund können wir darauf konditionieren, am Übergang der gefährlichen Straße zu warten und Sitz zu machen.
Die Mutter warnt das Kind mit dem Ausruf „Vorsicht!“ oder „Bleib stehen!“, wenn sie sich der gefährlichen Straße nähern. Doch sind solche verbalen Hemmnisse nur lockere Gängelbänder, die leicht nachgeben können, wie wir am übermütigen oder trotzigen Kind erfahren.
Wir können demnach den Erwerb der Sprache nicht auf die Konditionierung sprachlichen oder sprachlich gelenkten Verhaltens zurückführen.
Auch das Wort ist ein Hüter der Schwelle.
Wer sich uns gegenüber in Schweigen hüllt, kann damit sehr beredt sein.
Das Schweigen ist die Abwesenheit jedes akustischen Reizes. Ein bedeutsamer Hinweis darauf, daß Sprache und Bedeutungsverstehen nicht durch die Physiologie und Neurologie des Hörens erklärt werden können.
Bedeutungsblind sein heißt, die Position des Subjekts verloren zu haben, ähnlich einem Wanderer, der an der Wegkreuzung sich an der aufgestellten topographischen Wegekarte orientieren will, aber nicht begreift, daß der rote Pfeil seinen Standort bezeichnet.
Das sprachliche Bewußtsein oder das Wort als Hüter der Schwelle sortiert gleichsam die da Einlaß begehren nach jenen, die sich mit einem Wahrheitsversprechen ausweisen, von jenen, die Unsinn reden, und gibt ersteren den Vorzug.
Gut ist für uns der Heliotropismus jener Sätze, die das rechte Licht über das einfangen, was vor unserer Tür geschieht.
Wir hüten nun einmal die Schwelle dadurch, daß wir erkennen, ob jenes Gesicht, das sich der Türe nähert, gut oder böse ist.
Wir selber sind dem Lichte zugeneigt, solange wir annehmen, daß die uns oder für uns wichtigen Sätze eine Bedeutung haben, und ihre Bedeutung ist der Gegenstand oder intentionale Gehalt, über den sie sprechen.
So können wir das Leben nur in den gebrochenen Farben haben, die uns die Inhalte der uns oder für uns wichtigen Sätze widerspiegeln.
Im Spiegel des stillen Sees genießen wir die Frucht.
Wollen wir das Leben dionysisch unmittelbar haben, blendet uns die Sonne und wir werden bedeutungsblind.
Der Bedeutungsblinde, können wir sagen, verfällt einer Ohnmacht, die ihn den intentionalen Gehalt des Gesagten und des Verschwiegenen nicht mehr erkennen läßt.
Der Bedeutungsblinde verliert im panischen Schrecken die Angst vor dem Lebensgefühl.
Aus Angst vor dem Leben verliert er das Leben.
Die Angst des Hüters der Schwelle, das Tor schließen zu müssen, wenn die Dämmerung fällt, und nach innen zu gehen.
Mynheer Peeperkorn endet durch Selbstmord.
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