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Semantik des ästhetischen Eindrucks (Teil II)

30.01.2017

Entwurf einer empirischen Ästhetik auf semantischer Grundlage

Wir sahen, daß uns die Betrachtung von Äußerungen über den Eindruck ästhetischer Phänomene einen semantischen Zugang zur empirischen Ästhetik eröffnet. In solchen Äußerungen wie dem Satz „Das Parfum verströmt einen dunklen Duft“ werden Sinneseindrücken ästhetische Prädikate zugesprochen. Die beiden wichtigsten Merkmale solcher ästimativer Prädikate wie elegant, schleppend, beschwingt, lapidar, überladen, schön oder dunkel fassen wir nochmals zusammen:

1. Die sprachliche Verwendung ästhetischer Prädikate wird von den sinnlichen Reizen, die ihnen naturgemäß zugrundeliegen, nicht als unmittelbare kausale Wirkung und Reaktion hervorgerufen, etwa wie der Ausruf „Rot!“ auf das Aufscheinen von Rotlicht. Wir sagen, ästhetische Prädikationen sind Teil eines Sprachspiels, das auf Wahrnehmung beruht, aber nicht auf den Reiz-Reaktions-Mechanismen, die wir gewöhnlich bei unseren Wahrnehmungen am Werke sehen.

2. Ästhetische Urteile unterscheiden sich semantisch von Wahrnehmungsurteilen genau darin, daß das Wahrheitsprädikat auf sie nicht anwendbar ist. Die Äußerung „Die Fläche auf diesem Bild von Kasimir Malewitsch ist dunkel“ ist ein Wahrnehmungsurteil, das wir mittels Anwendung physikalischer Meßverfahren verifizieren können; die Äußerung „Das Bild von Kasimir Malewitsch wirkt dunkel“ ist ein ästhetisches Urteil, das sich nicht durch Meßverfahren objektivieren läßt, aber als Zug des Sprachspiels, in dem ästhetische Prädikate wie dunkel, geheimnisvoll, tiefsinnig oder mysteriös eine geregelte Rolle und Funktion einnehmen, als mehr oder weniger sinnvoll gewichtet und beurteilt werden kann.

Wahrnehmungsurteile sind sinnvoll und entweder wahr oder falsch, ästhetische Urteile sind sinnvoll und weder wahr noch falsch.

Betrachten wir den semantischen Unterschied folgender Aussagen:

1. Ich glaube, das Bild stammt von Kandinsky.
2. Das Bild ist geheimnisvoll.
3.1 Das Bild will den Eindruck des Geheimnisvollen erwecken.

Die Sätze 1 und 2 drücken eine Gewißheit oder eine Evidenz des Sprechers aus. Allerdings kann der Glaubensinhalt, der im Nebensatz der 1. Aussage ausgesprochen ist, sich als falsch erweisen, wenn das Bild in Wahrheit von Malewitsch stammt, und der Sprecher könnte eines Besseren belehrt werden, sodaß sein Dafürhalten in diesem Punkt korrigiert und modifiziert wird.

Dagegen ist die Evidenz des ästhetischen Eindrucks, den der 2. Satz ausdrückt, nicht durch den Hinweis auf einen objektiven Beleg zu erschüttern. Freilich könnte ihm ein kunsthistorisch geschulter Opponent widersprechen und aufgrund seiner einschlägigen Kenntnis klarmachen, daß sein ästhetisches Urteil insofern der Korrektur und Modifikation bedarf, als der ästhetische Eindruck des Geheimnisvollen trivialerweise von der Tatsache herrührt, daß das Bild im Laufe der Zeit nachgedunkelt ist und im Ausgangszustand bedeutend weniger dunkel war. Dennoch wird dadurch das ästhetische Urteil im Gegensatz zum Wahrnehmungsurteil nicht falsifiziert: Auch im Besitz der gewonnenen Erkenntnis kann der Sprecher an seinem ästhetischen Eindruck festhalten, das Bild wirke geheimnisvoll auf ihn, auch wenn es nicht die ursprüngliche Intention des Malers gewesen sein mag, einen solchen Eindruck hervorzurufen.

Hätte der Sprecher Satz 3.1 geäußert und damit gemeint, es seien der Anspruch des Bildes und die Intention des Malers, den Eindruck des Geheimnisvollen zu erwecken, wäre seine Äußerung durch die Auskunft des Fachmannes widerlegt. Hätte er aber gemeint, daß DIESES Bild geheimnisvoll wirke, wären die Sätze 2 und 3.1 bedeutungsgleich. Die nähere Erläuterung, daß hier die Intention des Malers angesprochen ist, unterscheidet Satz 3.1 sowohl von einem Wahrnehmungsurteil als auch von einem ästhetischen Urteil: In Wahrheit handelt es sich hier um ein historisches oder genauer ein kunsthistorisches Urteil, denn richtig formuliert lautet Satz 3.1:

3.2 Es war die Intention des Malers, mit diesem Bild den Eindruck des Geheimnisvollen zu erwecken.

Wir schließen hieraus zweierlei: Die Semantik des ästhetischen Urteils ist eine völlig andere als die des Wahrnehmungsurteils, weshalb eine ästhetische Theorie keine Wahrnehmungstheorie sein kann.

Sie ist aber auch eine andere als die des wissenschaftlichen oder theoretischen Urteils, wie das Beispiel 3.2 belegt: Um die Intention eines Menschen für sein Tun zu identifizieren, bedarf es der Sichtung und Gewichtung historischer Zeugnisse, wie etwa der Selbstaussagen eines Malers über die Absichten, die er bei der konkreten Ausführung eines Werks gehegt hat.

Wir sehen uns anhand der Betrachtung des Satzes 3.2 auch in der Annahme bestätigt, daß es sich bei der Verwendung von ästhetischen Prädikaten in ästhetischen Urteilen um Formen eines typischen Sprachspieles handelt, deren Kenntnis vorausgesetzt wird, wenn wir etwa jemandem, der das betreffende Bild noch nicht gesehen oder das betreffende Gedicht noch nicht gelesen oder das betreffende Musikstück noch nicht gehört hat, per Brief oder Mail mitteilen, daß es den Eindruck des Geheimnisvollen erwecke. Er wird ungefähr oder einigermaßen verstehen, was wir damit meinen, auch ohne unmittelbare Wahrnehmung des betreffenden Gegenstands.

Wir greifen demnach beim ästhetischen Sprachspiel auf konventionelle Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke zurück; die Verwendung eines ästhetischen Prädikats zur Charakterisierung eines ästhetischen Eindrucks gehorcht dabei den allgemeinen Regeln sprachlichen Ausdrucks: Sie kann korrekt oder mißbräuchlich geschehen, angemessen oder unangemessen, prägnant oder nichtssagend (redundant) sein.

Es ist seit der Schrift „Über das Erhabene“ des Pseudo-Longinus eine regelhafte Konvention, den ästhetischen Eindruck als erhaben zu bezeichnen, den folgende Sätze uns zu erwecken pflegen:

Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. 1 Mose 1.2

Würde einer seinen ästhetischen Eindruck von ihnen als niedlich, süßlich, sentimental oder komisch wiedergeben, erführe er mit Recht unseren Verweis und Tadel, auch wenn es uns vielleicht schwer fiele oder selbst unmöglich sein sollte, ihn eines Besseren zu belehren und ihm die Erhabenheit der Stelle eindrücklich zu machen; er könnte ja bedeutungsblind für den ästhetischen Eindruck des Erhabenen sein.

Die angeführte Stelle ist demnach ein Bespiel oder eine Exemplifikation der konventionellen Bedeutung von „erhaben“, die in unser ästhetisches Wörterbuch (mit unzähligen anderen Einträgen oder Lemmata) Eingang gefunden hat. Wie in jedem Wörterbuch kommen im Laufe der Zeit, das heißt der Zeit, in der wir das ästhetische Sprachspiel spielen, pflegen und verfeinern, neue Einträge hinzu oder werden obsolet, ungebräuchlich oder unverständlich gewordene alte Einträge gelöscht.

Die Grammatik, die sich dieses Wörterbuchs bedient, sind die Regeln, nach denen wir ästhetische Prädikate verknüpfen oder als unverträglich ansehen; so schließt der Ausdruck „erhaben“ die Ausrücke „anmutig“, „komisch“ oder „schön“ aus, während er die Verknüpfung mit den Prädikaten „dunkel“, „tragisch“ oder „wuchtig“ duldet.

Man könnte das ästhetische Wörterbuch der abendländischen Tradition beispielsweise mit den ästhetischen Wörterbüchern der japanisch-chinesischen Kultur oder das ästhetische Wörterbuch der altgriechischen mit dem der altägyptischen Kultur in einer Art empirisch-semantischer Komparatistik vergleichen und auf erhellende Ergebnisse hoffen. Freilich, dazu müßten diese Wörterbücher allererst verfaßt werden.

Es wäre sinnvoll, die Lemmata des Wörterbuchs nicht durchgehend alphabetisch, sondern nach Sinngruppen zu ordnen, sodaß ästhetische Prädikate von visuellen, akustischen, olfaktorischen und gustatorischen Sinneseindrücken einander zugeordnet würden.

Es kann auch für die kulturvergleichende Komparatistik im Ausgang des ästhetischen Vokabulars der bedeutsame Umstand zu Buche schlagen, daß derselbe ästhetische Eindruck unterschiedlichen Sinnesbereichen zugeordnet wird. So finden wir als Ausdruck für den Eindruck des Harmonischen (oder seelischer Harmonie) im Altgriechischen den Verweis auf den visuellen Eindruck, den die ruhige, glatte, stille Fläche des Meeres hervorruft, während wir im abendländisch-christlichen Bereich auf den akustischen Eindruck stoßen, der vom sinfonischen Zusammenklang der Stimmen eines Chores (wie des Chores der Engel) erweckt wird, eine ästhetische Bedeutungskonvention, die sich in der europäischen Musikgeschichte vom gregorianischen Choral bis zu Bach, Mozart, Beethoven und Mahler tiefgreifend Geltung verschafft hat.

Wir finden aber auch ästhetische Grammatiken, die die Verwendung des ästhetischen Vokabulars stärker reglementieren und strengeren Maßstäben von Einschluß und Ausschluß unterwerfen; so werden für bestimmte Anlässe und Situationen nur ausgewählte ästhetische Eindrücke oder Beeindruckungsformen zugelassen, andere ausgeschieden: Aufgrund der Wahl der Versmetrik und des unterschiedlichen Sprachniveaus soll gemäß der antiken Poetik (Horaz) und Rhetorik (Cicero, Quintilian) der Sprechvers der Tragödie einfach gebaut und umgangssprachlich gefärbt sein, während die Chorlyrik der Tragödie sich eines komplexen Versschemas und kunstvoller und sublimer sprachlicher Mittel zu bedienen habe, und der Verfasser einer juristischen Rede habe andere Vorschriften hinsichtlich der zu verwendenden rhetorischen Ausdrucksmittel zu beachten als der Verfasser eines feierlichen Festvortrags.

Die Tradition spricht hier bekanntlich von unterschiedlichen Stilen wie dem niederen, mittleren und hohen Stil in der Rhetorik und den zur Erreichung des angezielten und angemessenen ästhetischen Eindrucks zu verwendenden Stilfiguren wie Tropen, Metonymien und Metaphern. Wir bemerken allerdings, daß wir Stilfragen dieser Art semantisch als Fragen der grammatischen Verwendungsregeln für das jeweils zugrundegelegte ästhetische Wörterbuch auffassen und analysieren können.

Eine prägnante Anschauung der ästhetischen Ausdruckswerte geben uns die musikalischen Vortragsbezeichnungen. Sie haben ihren Ursprung in der Fähigkeit der Instrumente und der menschlichen Stimme, ihren Vortrag leiser und lauter, langsamer und schneller, dumpfer und greller, kühler und wärmer und vieles dieser Art gestalten zu können; und naturgemäß in der Fähigkeit des menschlichen Gehörs und Gemüts, sich von solchen akustischen Phänomenen beeindrucken zu lassen. Wir können diese Ausdruckswerte und Vortragsweisen nicht exakt definieren und messen, aber wir hören unmittelbar den Unterschied von accelerando und diminuendo, adagio und presto, piano und forte.

Auch hier stoßen wir auf den Unterschied des Sinneseindrucks, der sich in einem entsprechenden Wahrnehmungsurteil niederschlägt, und des ästhetischen Eindrucks, der sich in der Verwendung des angemessenen ästhetischen Vokabulars darstellt. Natürlich haben wir beim accelerando den akustischen Eindruck eines beschleunigten Tempos, den wir mittels des Metronoms objektivieren können. Indes kann der ästhetische Eindruck derselben Vortragweise in verschiedensten Kompositionen sehr unterschiedlich charakterisiert werden: Wir haben vielleicht den Eindruck einer triumphalen Geste oder einer dramatischen Zuspitzung, vielleicht aber auch einer beängstigenden Steigerung und kaum erträglichen Spannung. Eine piano vorgetragene Passage kann besänftigend oder träumerisch, aber auch verstörend und beunruhigend wirken.

Große Musik kommt aus der Stille und vollendet sich in der Stille. In ihr kann, wie die Meister der Generalpause ob Beethoven, Wagner oder Mahler dartun, gleichsam an der Schwelle des Unendlichen, des Unsagbaren, der ästhetische Eindruck einer Öffnung, eines Harrens auf der Schwelle sich ereignen: Als wären wir, uns selbst enthoben oder entronnen, der Reinheit und der Transparenz eines Augenblicks jenseits des Höllenlärms der Welt, ja jenseits des Menschen, dem Ursprung, dem „Reinentsprungenen“, wiedergeschenkt.

Nun, Stille impliziert die vollständige Abwesenheit akustischer Reize, die Abwesenheit jeglicher Wahrnehmung; und dennoch gewährt sie uns mitunter den bedeutendsten ästhetischen Eindruck. Dieses Phänomen führen wir hier gern auch an, um unsere Annahme zu erhärten, daß das ästhetische Urteil, wie dasjenige, welches vom Eindruck der Stille sinnreiche ästhetische Prädikate wie „erhaben“, „entrückend“ und „tief“, aber auch „unheimlich“ und „quälend“ auszusagen vermag, semantisch geradezu an jenem Ufer angesiedelt ist, das dem Wahrnehmungsurteil gegenüberliegt.

Der ästhetische Eindruck, den uns die zeitigende Kunst der Musik vermittelt, ist demnach keine Wahrnehmung, sondern gleichsam die Wahrnehmung der Wahrnehmung; und diese reflexive Form der Intuition führt uns in eine wesentliche Dimension unseres Daseins als der sich ihrer selbst bewußten Subjektivität: Bewußtsein, das im Medium des akustisch modulierten Fühlens gleichsam seines inneren Dramas aus Verwandlung und Erstarrung innewird, seines Schwebens zwischen Jetzt und Einst, Erinnerung und Erwartung, Erfüllung und Verzicht.

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