Semantik der Tugend
Kurzer Abriß einer empirischen Ethik auf semantischer Grundlage nebst einem Hinweis auf den semantisch begründeten Tier-Mensch-Unterschied
Wir verstehen unter Tugend im Sinne des lateinischen „virtus“ und seiner romanischen und germanischen Ableitungen wie „virtú“, „vertu“ oder „virtue“ jene Bedeutungen, die wir semantisch in Aussagen mit Aufforderungscharakter erfassen und analysieren können wie:
1. Tu das!
2. Tu das nicht! (Laß das sein!)
Die Bedeutung des mit dem hinweisenden Pronomen „das“ oder „dies“ jeweils Gemeinten ist eine Handlung, wie die Handlung, einem Freund zum Geburtstag ein Geschenk zu überreichen, zu der wir den Angesprochenen auffordern, oder die Handlung, einem Freund heimlich Geld aus der Schublade zu entwenden, zu der wir dringend abraten oder vor der wir warnen.
In den Beispielsätzen 1 und 2 finden wir demnach jeweils die Normierung einer Handlung, die sich ihrerseits auf eine sittliche Konvention unseres geselligen Umgangs oder eine Rechtsnorm unserer Rechtsordnung bezieht, wie die Aufforderung zu der Handlung, etwas zu schenken, auf die Konvention, jemandem zum Geburtstag ein Geschenk zu machen, oder die Warnung vor der Handlung, heimlich Geld aus der Schublade zu nehmen, auf die Rechtsnorm des Diebstahls.
Wir können die Semantik der Aufforderung oder Warnung auch so formulieren: Aufforderungen und Warnungen pflegen nicht aus der Luft gegriffen zu sein, sondern erlangen ihre Relevanz und Alltagstauglichkeit aufgrund der Tatsache, daß ihnen Exemplifizierungen allgemeiner Regeln und Konventionen oder Normen unseres sittlichen Weltumgangs zugrundeliegen.
Die Aufforderung in Satz 1 können wir daher auch so formulieren: Erfülle die Konvention, gemäß der man seinem Freund zum Geburtstag ein Geschenk überreicht; wenn wir für die Handlung E (Exemplifikation) schreiben und für die jeweilige Konvention K und die Aufforderung mittels des Ausrufezeichens ausdrücken, erhalten wir die semantische Struktur der Aufforderung als bündige Formel:
e (K1)!
K enthält einen deskriptiven Wert, hier die Konvention des Geburtstagsgeschenks, so daß wir zu der Definition kommen:
Alle präskriptiven Ausdrücke enthalten oder implizieren einen deskriptiven Wert.
Der deskriptive Wert wiederum ist nichts als eine Kurzform, die in voller Länge den deskriptiven Ausdruck wiedergibt, mit dem wir die relevante Konvention beschreiben, wie die Konvention, seinem Freund zum Geburtstag ein Geschenk zu überreichen.
Was aber, lebten wir in einer Welt in der es die Konvention, den Freund am Geburtstag zu beschenken, nicht gäbe und stattdessen die befremdliche Konvention herrschte, ihn am Morgen seines Geburtstags mit einem Heidenlärm, mit Gesängen und Böllern tüchtig zu erschrecken? Nun, wenn dies seltsame Gebaren der allgemeinen Regel, Freunde freundlich zu behandeln, nicht widerspricht, weil wir ihm mittels dieses Geburtstagsrituals einen heilsamen Schrecken angesichts der Tatsache einjagen wollen, daß schon wieder ein Jahr seines Lebens verstrichen ist, und ihn damit vielleicht an Vorhaben gemahnen, die noch auf der Strecke geblieben sind, was spräche dagegen?
Damit kommen wir auf den harten Kern und Grund einer Semantik der Tugend: Sie hat empirischen Charakter und begnügt sich mit der Analyse von Aufforderungen und Warnungen, die ihr Maß an gewachsenen, tradierten Konventionen finden. Sie beansprucht nicht, ihr Maß und Kriterium an irgendwelchen überzeitlichen und übergeschichtlichen Formen oder Regeln sei es der Vernunft sei es eines übernatürlichen, offenbarten Gesetzes zu finden.
Der empirische Charakter einer Semantik der Tugend zeigt sich nicht nur darin, daß wir den Geltungsanspruch oder die Wahrheit der ihr zugrundeliegenden Konventionen nicht aus abstrakten Formen der Vernunft oder aus reinen Konsistenz- und Kohärenzanforderungen logischer Natur ableiten oder beweisen können; er bewährt sich vielmehr auch darin, daß wir die Relevanz und Bedeutsamkeit sittlicher Konventionen nur empirisch bewähren können, indem wir ihre Verbreitung und Persistenz innerhalb UNSERER kulturellen Welt und Tradition beobachten.
Wenn die Konventionen, mit denen wir einmal den öffentlichen Umgang von Männern mit Frauen nach Konventionen der Höflichkeit, Fürsorge und Zuvorkommenheit geregelt haben, aufgeweicht oder nach und nach aufgelöst werden, kann die Frau nicht mehr ohne weiteres erwarten oder davon ausgehen, daß ihr der Mann die Tür öffnet, ihr in den Mantel hilft oder in der Schlange den Vortritt läßt. Wenn wir konventionell begründete Erwartungen als Ansprüche formulieren, werden Ansprüche der genannten Art gegen den Mann im selben Maße schwächer oder ungültig, in dem das gesellige Klima zwischen den Geschlechtern sich konventionell abkühlt und verflacht. Umgekehrt kann der Mann nicht mehr den konventionell geregelten Anspruch gegen die Frau hegen und pflegen, ihr galant, beschützend und zuvorkommend zu begegnen.
Wir ersehen aus diesem Tatbestand, daß die ethische Kraft unserer wechselseitigen Erwartungen, Ansprüche und Appelle eine Funktion der Bindung oder Verpflichtung darstellen kann, mit der wir an kollektiv akzeptierte Konventionen bestimmter Gruppen und Gemeinschaften angeschlossen sind. Dadurch werden unsere Erwartungen und Ansprüche den Verfahren symmetrischer Inklusionen und Exklusionen unterworfen; die Konvention, freundlich zu grüßen oder sich Geschenke zu machen, ist Peter Karl gegenüber keinen Pfifferling mehr wert, wenn er erfahren hat, daß sein ehemaliger Freund kürzlich in den Vorstand eines Unternehmens gewählt worden ist, das sich mit seinem eigenen in einem unerbittlichen Handelskrieg befindet, oder in eine Partei eingetreten ist, die seiner eigenen Partei ideologisch feindlich entgegentritt.
Im Übrigen ist der empirische Grund der Ethik in all jenen zahllosen Merkversen, Sentenzen, Sprichwörtern, Gnomen und Gleichnisreden enthalten, die uns der jahrtausendealte Strom der Überlieferung von China und Indien über Griechenland und Italien bis zu den europäischen Ländern des Nordens und Ostens übermacht hat und deren Wert aufgrund der Aura und Autorität der Namen derjenigen verbürgt ist, denen sie zugesprochen werden oder deren Autoren sie sind. Die Liste dieser Namen ist lang und reicht von Laotse und Konfuzius, Salomo und Jesus, den Sieben Weisen, Plato und Aristoteles, Cicero und Seneca, Epiktet und Marc Aurel über Thomas von Aquin bis zu Kant und Wittgenstein, um nur einige klangvolle zu nennen, von den Dichtern ganz zu schweigen.
Die Einrede, wir setzten mit solchen empirischen Verweisen das Kriterium für die Gültigkeit und die ethische Aussagekraft der mit jenen und anderen Namen verbundenen Überlieferung schon voraus und könnten sie daher nicht aus jenen zufällig zusammengerafften Sprüchen und Versen ableiten, ist ein Einwand übergescheiter Philosophen, denen wir entgegenhalten dürfen: Wir können einen steinigen, schwierigen und verschlungenen Weg unsererseits anhand der Wegbeschreibung in Angriff nehmen, die uns jene hinterlassen haben, denen es gelang, ihn zurückzulegen und sogar zu beschreiben.
Auch der Einwand, es fänden sich widerstreitende Anweisungen und Aufforderungen ethischer Natur in jenen Überlieferungen, kann unschädlich gemacht werden, wenn wir ihre mythischen und zeitbedingten Kontexte neutralisieren. Doch zieht sich von der Aufforderung Solons „Nichts im Übermaß!“ über die Entfaltung des Tugendbegriffs der Besonnenheit und Mäßigung in den klassischen Lehren der Antike bis zur Aufforderung Wittgensteins „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“ eine durchgehende Linie.
Wir finden allerdings in der Semantik der Tugend begriffliche Voraussetzungen, deren nichtempirischen Charakter wir nicht in Abrede stellen wollen, ohne damit zu konzedieren, daß eine empirische Ethik auf semantischer Grundlage ihren empirischen Gehalt zur Gänze verlöre: Sie erweist sich damit als sowohl empirisch als auch begrifflich-analytisch, indem sie die begrifflich notwendigen Implikationen ethisch bedeutsamer Sprechakte offenlegt. Wir stoßen in unserem Beispiel auf den Begriff der Freundschaft, dessen nichtempirischer Anteil auf den Begriff der Person als eines selbstbewußten Lebewesens zurückgeht, denn Freunde nennen wir diejenigen Personen, mit denen wir im Rahmen der Konventionen der Freundschaft Umgang pflegen. Der Begriff der Person aber ist ein nichtempirischer Begriff, denn er ist eine notwendige begriffliche Voraussetzung unserer Semantik, die als Semantik von Sprechakten gefaßt ohne den Begriff dessen, der spricht, nicht auskommt.
Daraus folgern wir, daß es sich bei grundlegenden Rechtsnormen, die die Wahrung der persönlichen Integrität und Unversehrtheit betreffen, wie dem Verbot des Diebstahls, des Raubs oder des Mords, nicht nur um Rechtskonventionen UNSERER kulturellen Lebensform handeln kann, sondern wegen ihrer notwendigen Implikation des Begriffs einer Person um kulturübergreifende, nicht rein konventionelle Normen, deren unzureichende Ausprägung oder deren Fehlen in konkreten Lebenswelten zu bemängeln und zu ächten wir berechtigt sind.
Wir betrachten nunmehr den semantischen Gehalt folgender Aussagen:
3. Gut, daß du dies getan hast!
4. Das hättest du besser unterlassen!
Im Gegensatz zu den Sätzen mit Aufforderungscharakter 1 und 2 handelt es sich hier um die für unseren sittlichen Weltumgang hoch bedeutsamen Aussageformen von Lob und Tadel. Wir loben die Handlung, die gemäß der Formel e (K1)! die relevante Konvention in angemessener Weise exemplifiziert oder erfüllt hat, und wir tadeln die Handlung, durch die eine Konvention nicht erfüllt oder unzulänglich erfüllt oder eine rechtliche Norm gebrochen worden ist.
Lob und Tadel beziehen sich im Gegensatz zu Aufforderungen und Warnungen nicht auf die Zukunft oder das, was geschehen oder getan werden soll, sondern auf die Vergangenheit, also das, was geschehen ist oder getan wurde, und in dieser Hinsicht irreversibel ist.
Daraus schließen wir, daß wir nicht, wie vielfach angenommen, darauf eingeschränkt sind, die Semantik der Tugend oder die empirische Ethik auf semantischer Grundlage ausschließlich auf Sollenssätze oder auf Aussagen mit Aufforderungscharakter gründen zu können; wir können ja aus dem Tadel einer vollzogenen Handlung ableiten und folgern, daß sie im Allgemeinen zu unterlassen ist und also auch in Zukunft unterbleiben soll.
Besonders ergiebig für eine semantische Betrachtung und die Semantik der Tugend überhaupt ist Satz 4:
Das hättest du besser unterlassen!
Wir verwenden tadelnde Sätze dieser Art auch, um eine Anschuldigung zu machen oder den Delinquenten auf den Schaden oder die Schuld hinzuweisen, für die er durch sein schuldhaftes Handeln verantwortlich zeichnet beziehungsweise zur Verantwortung gezogen werden kann.
Wir unterstellen oder implizieren mit tadelnden Sätzen dieser Art notwendig den Spielraum eines Handelns, in dem der Handelnde etwas anderes hätte tun können als das, was er faktisch getan hat.
Damit aber unterstellen wir dem Handelnden in gewissen Grenzen Handlungsfreiheit. Handlungsfreiheit erweist sich somit als notwendige Implikation der semantischen Struktur tadelnder Aussagen.
Natürlich gilt dies auch für Aussagen lobenden Charakters, denn wir können jemanden nicht für eine Handlung loben, die nicht zu vollziehen ihm nicht möglich gewesen wäre.
Wir sahen, daß die Warnung vor dem Diebstahl und der Tadel, den eigenen Freund bestohlen zu haben, nicht auf einer bloßen Konvention beruhen, sondern auf einer Rechtsnorm. Dieser Umstand weist uns erneut darauf hin, daß wir zur semantischen Grundlegung einer empirischen Ethik nicht nur auf sittliche Gegebenheiten wie unsere Konvention des Geburtstagsgeschenks, sondern auch auf begriffliche Voraussetzungen zurückgreifen müssen.
Die begriffliche Voraussetzung, die für die genannte Warnung und den genannten Tadel bedeutsam ist, finden wir wiederum im Begriff der Person: Personen sind sich ihrer bewußte Lebewesen, zu deren bewußtem Leben die Möglichkeit gehört, ihm in individuellen Formen Ausdruck zu geben; zu diesen Formen zählen neben den spontanen Handlungen einschließlich der Sprachhandlungen auch die Formen des persönlichen Eigentums an Leib und Leben und persönlichen Gütern, mit denen sie ihr Leben bestreiten und gestalten. Einer Person den individuellen Lebensausdruck im Reden und Tun, in Handel und Wandel streitig zu machen heißt, ihre persönliche Integrität zu verletzen; daher neben anderen Normen die Rechtsnorm vom Verbot des Diebstahls.
Wir bemerken schlußfolgernd, daß wir unseren semantischen Haushalt in Hinsicht einer Semantik der Tugend oder einer empirischen Ethik auf semantischer Grundlage sparsam mittels des Rückgriffs einmal auf Konventionen und sodann auf basale Begriffe wie den Begriff der Person einrichten können, Begriffe, die wir nicht aus bloßen Intuitionen oder abstrakten Annahmen über das Wesen der Vernunft, sondern aus der semantischen Analyse von alltäglichen Aussagen wie Aufforderungen oder Lob und Tadel hinsichtlich unseres sittlichen Tuns und Lassens als deren notwendige Voraussetzungen und Implikationen ableiten können.
Warum können wir Peters Hund Wuschel nicht dafür tadeln, sein Herrchen an dessen Geburtstag nicht mit einem Geschenk überrascht zu haben? Tun wir dies nicht, weil wir Wuschels Versäumnis neurologisch auf seine Unfähigkeit zurückführen und mit dem Umstand gleichsam entschuldigen, daß die Gedächtniskapazität seines Hundehirns nicht ausreicht, sich Peters Geburtstagsdatum einprägen und merken zu können?
Keineswegs. Es wäre einfach absurd, Wuschel wegen seiner vorgeblichen Vergeßlichkeit oder eines solchen vorgeblichen Versäumnisses tadeln zu wollen, aus dem schlichten Grund, weil Tiere nicht in der Welt von Konventionen leben, in der wir Menschen leben und Dinge nicht nur tun, die zu tun wir nicht umhin können, sondern die wir – wie wir sagen – zu tun pflegen oder die wir auf der Grundlage gegenseitiger Verabredungen und Übereinkünfte zu tun uns entschieden und angewöhnt haben.
Wuschels Manko ist also kein neurologisches, sondern ein semantisches, das ihn für konventionelle Umgangsformen im Rahmen einer kulturellen Lebensform bedeutungsblind macht. Sind Tiere bedeutungsblind hinsichtlich kultureller Konventionen, dann geht ihnen auch das ab, was wir die Semantik der Tugend nennen: Wenn wir sie auffordern, etwas zu tun, wie uns ihr Spielzeug zu apportieren, dann weil sie auf ein solches Verhalten mittels Dressur konditioniert worden sind; Peter indes überreicht seinem Freund Karl an dessen Geburtstag nicht deshalb ein Geschenk, weil ihm die Eltern oder andere Erzieher dieses Verhalten andressiert haben, sondern weil er die Konvention des Schenkens im Rahmen unserer kulturellen Lebensform kennengelernt und durch Gewohnheit erlernt hat. Deshalb kann ihn sein Freund Karl tadeln, wenn er seinen Geburtstag vergessen hat, was er nicht tun könnte, wenn dieses Vergessen eine rein neurologische Tatsache wäre oder ein Mangel an Dressur (denn auch dies wäre eine neurologische Tatsache).
Wenn Peters Hund Wuschel dem Nachbarhund eine Wurst vor der Nase wegschnappt, die ihm dessen Herrchen soeben hingehalten hat, werden wir ihn wohl kaum des Diebstahls bezichtigen und ihn dafür tadeln, die entsprechende Rechtsnorm mißachtet und verletzt zu haben. Es wäre absurd, dem Hund solcherart Vorhaltungen zu machen, aus dem schlichten Grund, weil Tiere semantisch bedeutungsblind für jene normativen Regeln sind, die wir Rechtsnormen nennen.
Peter könnte mit großem Geschick und vieler Mühe vielleicht dahin gelangen, seinem Hund Wuschel Unarten dieser Art, wie dem Hund des Nachbarn die Wurst vor der Nase wegzuschnappen, abdressieren: Doch könnte Peter, wenn es denn wohl unausbleiblich wieder geschieht und Wuschel zuschnappt, seinen Hund deswegen nicht tadeln, wie er seinen Freund Karl tadelt, weil er ihn bestohlen hat; hier handelte es sich einfach um einen Mangel an Dressur oder um einen neurologischen Tatbestand, nicht um ein semantisch-ethisch analysierbares und wohlbegründetes Tun wie bei der Verletzung einer Rechtsnorm.
Damit bestätigt sich in ethischer Hinsicht unsere alte Einsicht, daß es sich beim Tier-Mensch-Unterschied nicht bloß um einen graduellen, sondern einen prinzipiellen Unterschied handelt. Tiere leben nun einmal nicht in jener Welt der Konventionen und Normen, die uns zur Grundlage dienen, unsere Handlungen wechselseitig zu loben und zu tadeln.
Comments are closed.