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Begriffliche Voraussetzungen

06.01.2017

Ein Beitrag zur Philosophie der Subjektivität nebst einer kurzen Widerlegung des skeptischen Naturalismus

Wenn wir die Voraussetzungen klären und ins Bewußtsein heben, die gegeben sein müssen, damit das, was wir aktuell erfahren, erfahrbar sein kann, erweitern wir unser implizites Wissen.

Die Voraussetzungen dafür, daß Peter seinen Freund Karl auf der Straße begrüßt, ist die Tatsache, daß Peter mit Karl befreundet ist, ist die Tatsache, daß Peter Karl erkennt, ist die Tatsache, daß er seine Wohnung zu einem Zeitpunkt verließ, als Karl in seiner Nähe unterwegs war, und ist weiterhin die Tatsache, daß Peter die Absicht hatte, etwas einzukaufen, was ihn bewog, seine Wohnung zu verlassen. Wir brechen ab, denn wir könnten die Reihe der impliziten Voraussetzungen der Tatsache, daß Peter Karl auf der Straße begrüßte, ad infinitum fortführen.

Wir bemerken, daß die impliziten Voraussetzungen, je mehr sie sich von der gegebenen aktuellen Tatsache in Raum und Zeit entfernen, an Relevanz für diese Tatsache einbüßen. Denn die Tatsache, daß Peter irgendwann das Licht der Welt erblickt hat, ist gewiß eine gewichtige Voraussetzung für das aktuelle Ereignis, daß er seinem Freund Karl begegnet, aber von ziemlich geringer Relevanz für dieses Ereignis selbst.

Anders verhält es sich, wenn wir nicht in der Reihe der Tatsachen zurückgehen, die ein aktuelles Ereignis als seine Voraussetzungen bedingen, sondern die Reihe der Begriffe und Konzepte aufgreifen und analysieren, die von denjenigen Aussagen und Sätzen als begriffliche Voraussetzungen impliziert werden, die wir als wahr kennzeichnen oder als wahr einsehen.

Wenn Peter uns gegenüber äußert, er habe Schmerzen, kennzeichnen wir die Aussage als wahr, weil wir Peter als glaubwürdigen und redlichen Zeitgenossen einschätzen, und weil wir wissen, daß die Äußerung wahr ist, wenn Peter Schmerzen hat.

Die begriffliche Voraussetzung der Aussage ist der Begriff eines Subjekts, das seiner Empfindungen unmittelbar innewird und sich seiner bewußt ist. Es wäre nicht möglich, Schmerzen zu haben, ohne sich ihrer bewußt zu sein. Und es wäre unmöglich, Schmerzen zu empfinden, ohne sie zu haben. Das gilt auch für Phantomschmerzen, wenn der Patient am imaginären Ort des amputierten Armes Schmerzen empfindet.

Wir treffen in der Welt unserer Erfahrung auf alles Mögliche wie Berge, Wolken, Pflanzen, Tiere und mit uns lebende Exemplare unserer Spezies, aber wir treffen auf keine Subjekte oder Instanzen, denen wir die Eigenschaft zusprechen, sich ihrer Erlebnisse unmittelbar bewußt zu sein. Der Begriff des Subjekts eines Bewußtseins ist eine notwendige begriffliche Voraussetzung unserer Erfahrung und unseres sprachlichen Weltumgangs.

Wir wissen nicht, wie es für Peter ist oder wie es sich für Peter anfühlt, Schmerzen zu haben, aber wir gehen davon aus, daß es für Peter in etwa so ist wie in dem Falle, wenn wir ohne zu simulieren sagen: „Ich habe Schmerzen.“

Wenn Peters Erlebnis, das er mit der Aussage meint, er habe Schmerzen, von unserem Schmerzerleben vollkommen verschieden wäre und eher so geartet wie in dem Fall, wenn wir sagen, daß wir Vergnügen empfinden, könnte Karl nicht auf die Anteilnahme seines Freundes Peter im Falle rechnen, daß er sein Schmerzempfinden äußerte. Aber da Peter seinem Freund, wenn er sagt, daß er Schmerzen habe, nicht vorschlägt, die nächstbeste Vergnügungsstätte aufzusuchen und das Tanzbein zu schwingen, sondern ihm gleich ohne viel Worte zu machen ein Schmerzmittel gibt, das er immer in der Tasche mit sich führt, gehen wir davon aus, daß beide, Peter und Karl, mit ihren Aussagen über Schmerzen dasselbe meinen.

Dasselbe zu meinen oder die semantische Identität unserer grundlegenden Begriffe ist eine begrifflich notwendige Voraussetzung unserer sprachlichen Verständigung. Identität und Bedeutungsgleichheit sind kein Elemente unserer gewöhnlichen Erfahrung: Denn alles, was wir sehen und wahrnehmen, ist einem ununterbrochenen Prozeß des steten Wandels und der unaufhörlichen Transformation in der Zusammensetzung materieller Teile unterworfen, unseren eigenen Körper mitgerechnet.

Daß Peter nach Jahren, in denen sein alter Freund sich im Ausland aufhielt, Karl auf der Straße trotz seines altersbedingten physiognomischen Veränderung wiedererkennt und ihn nach einer herzlichen Begrüßung auf die alten Zeiten ihres freundschaftlichen Verkehrs anspricht, verdankt sich gewiß der Tiefe und Differenziertheit seines Erinnerungsvermögens. Die begriffliche Voraussetzung dieser Erinnerungsleistung ist indes Peters Annahme, sein Freund Karl sei dieselbe Person wie diejenige, mit der er vor Jahren freundschaftlichen Umgang gepflogen hat.

Neben den Begriffen des Subjekts und des Bewußtseins und der semantischen Identität ist der Begriff der Person eine notwendige Voraussetzung oder gleichsam ein Knotenpunkt des begrifflichen Netzwerks, auf das wir unsere Erfahrung stützen.

Personen sind wie Subjekte und Bedeutungsgleichheiten durchaus keine Elemente unserer gewöhnlichen Wahrnehmung und Erfahrung, die uns bestenfalls mit Exemplaren unserer Spezies konfrontiert, die wir aufgrund gewisser persistierender körperlicher Merkmale wiedererkennen, sondern gleichsam unsichtbare Bewohner unseres Begriffsfelds.

Weil Personen keine empirischen Tatsachen darstellen, beispielsweise Tatsachen des Erinnerungsvermögens, können wir Peter, wenn er sein Gedächtnis verloren hätte und unfähig wäre, nicht nur seinen Freund Karl wiederzuerkennen, sondern sogar sich seinen eigenen Namen ins Gedächtnis zurückzurufen, den Status einer Person nicht aberkennen. Deshalb behandeln wir Demente eben als menschliche Personen. Daher ist auch der Begriff der Würde, den wir mit dem Personsein zu verknüpfen pflegen, kein empirischer Begriff, sondern eine Implikation des notwendigen Begriffs einer Person.

Wir gehen in unseren begrifflichen Voraussetzungen aber weiter, wenn wir einer Person nicht nur die notwendige Eigenschaft zusprechen, Subjekt ihrer bewußten Erlebnisse und sprachlicher Verständigung auf Grundlage semantischer Identitäten zu sein, sondern auch die Eigenschaft, Handlungen auszuführen, für deren Wirkungen sie in unterschiedlichem Ausmaße haftbar gemacht und zur Verantwortung gezogen werden kann. Dies ist der Fall, wenn Karl seinen Freund Peter bestohlen hat und dieser ihm statt ihn anzuzeigen ins Gewissen redet und sein Vergehen mit der Beendigung des freundschaftlichen Umgangs sanktioniert.

In der Tat sind Handlungen in gleicher Weise wie die sie ausführenden Personen und ihre subjektive Perspektive des Bewußtseins oder ihr Wissen von der Bedeutungsgleichheit grundlegender Begriffe keine Elemente unserer Erfahrung: Alles, was wir sehen und wahrnehmen, sind Bewegungen materieller Körper oder von Teilen solcher Körper, wie die Hand Karls, die in die Schublade von Peters Schreibtisch greift und ihm Geldscheine entnimmt. Wir SAGEN, Karl greife in Peters Schublade in der Absicht, ihn zu bestehlen, aber wir SEHEN weder die Absicht Karls noch die Handlung des Diebstahls. Wir erzeugen eine semantische Identität zwischen dem wahrgenommenen Ereignis der Handbewegungen Karls und der absichtsvollen Handlung des Diebstahls. Der Begriff der Handlung ist wie der Begriff der Subjektivität des selbstbewußten Lebens kein empirischer Begriff, sondern eine notwendige Voraussetzung unseres Begriffssystems.

Wir können als Handlung nur diejenigen Körperbewegungen ansehen, die ausgeblieben wären, hätte der Handelnde es sich anders überlegt, und als Wirkungen von Handlungen nur diejenigen Weltzustände, die ohne die absichtsvolle Handlung nicht eingetreten wären – so wären die Geldscheine in Peters Schublade verblieben, wenn Karl nicht die Absicht gehabt hätte, sie zu stehlen, oder wenn er zwar die Absicht, sie zu stehlen wohl gehabt, aber nicht in die Tat umgesetzt hätte.

Es ist klar, daß der Begriff der Handlung einer Person notwendigerweise den Begriff der spontanen Verursachung einer Ereignisreihe durch die Ausführung ihrer Absicht impliziert; die Geldscheine, die aufgrund des Diebstahls in Peters Schublade fehlen, kann dieser nicht wie vorgesehen zur Begleichung eines bald fälligen privaten Kredits bei seinem Vorgesetzten verwenden, was ihm berufliche Nachteile einbringt, die zum Ausbruch einer latenten Depression führen können.

Daß wir den spontanen Charakter von Handlungen als begriffliche Voraussetzung unseres Begriffs- und Erfahrungssystems akzeptieren, erweist sich an der Tatsache, daß wir Vergehen und Verbrechen wie Beleidigungen, Diebstähle oder Mord mit mehr oder weniger schweren Sanktionen belegen. Ja, wir sanktionieren selbst das Nichtausführen von Handlungen, wenn sie in einer bestimmten Situation geboten sind, wie die Leistung Erster Hilfe bei einem Unfall. Dabei gehen wir davon aus, daß der wegen unterlassener Hilfeleistung zu Strafende unter normalen Umständen diese Hilfeleistung hätte vollbringen können, wäre er guten Willens gewesen.

Die Tatsache, daß wir Vergehen ahnden, verweist uns auf eine weitere begriffliche Voraussetzung unseres Erfahrungssystems, die Anwendung von normativen und rechtlichen Begriffen wie erlaubt und verboten, entschuldbar und strafwürdig oder unsere Neigung, bei Gelegenheit ein Lob auszusprechen oder einen Tadel.

Wir können die Logik als ein Regelwerk des erlaubten, gebotenen und verbotenen Gebrauchs von Aussagen auffassen, wenn wir aufgrund ihrer Bedeutungsgleichheit und des Erhalts ihres Wahrheitswertes sowohl die Aussage „Alle Junggesellen sind unverheiratete Männer“ als auch die Aussage „Alle unverheirateten Männer sind Junggesellen“ erlauben, wenn wir vorschreiben, daß nur Begriffe mit der gleichen Bedeutung in einer Aussage ausgetauscht werden dürfen, wenn wir ihre Wahrheit erhalten wollen, dagegen verbieten, von der Aussage „Peter glaubt, sein Freund Karl weile im Ausland“ zu folgern, daß Karl im Ausland weilt.

Normierungen und Regelwerke für unsere Aussage- und Satzsysteme sind begriffliche Voraussetzungen, die unsere Erfahrungswelt in einem Begriffsnetz auffangen, wenn wir sicher gehen wollen, daß wir unsere Wahrnehmungen sinnvoll ordnen und strukturieren und aus dem Wahrnehmungssatz: „Das Licht der Schreibtischlampe geht an“ den Satz folgern: „Jemand hat den Schalter der Lampe betätigt“ und den Satz: „Das Licht ist von Geisterhand eingeschaltet worden“ ausschließen.

Wir können nicht von Handlungen reden, ohne die Existenz oder die Person, die sie beabsichtigt, ausführt oder unterläßt, zu unterstellen; von einer Person zu reden aber setzt wiederum voraus, die Kontinuität eines Subjekts in der Raumzeit zu unterstellen, das sich seiner Erlebnisse bewußt ist.

Wenn nun der Skeptiker und der Naturalist, und jeder Naturalist ist Skeptiker in Bezug auf unsere nichtempirischen Begriffe und im übrigen Nihilist in Bezug auf unsere sonstigen ästhetischen oder moralischen Sinnansprüche, denn die logische Konsequenz des Naturalismus ist die radikale Skepsis in Bezug auf die Wahrheit und Relevanz der begrifflichen Voraussetzungen unserer Erfahrung, wenn nun also der Skeptiker und der Naturalist Begriffe wie Subjekt, Bewußtsein, Person und Handlung als Projektionen und also letztlich als Illusionen zu dechiffrieren oder zu dekonstruieren vermeinen, die der Natur unserer organischen Ausstattung entspringen?

Nun, dann wird alles Reden sinnlos; aber, was der Naturalist nicht sieht, auch sein eigenes: Denn zu meinen, die Wahrheit der Aussage: „Ich habe Schmerzen“ sei begrifflich kontingent und nichts als eine Projektion unserer leiblichen Ausstattung mit einem Nervensystem, gibt den Begriff der semantischen Identität auf und läßt die Interpretation zu, daß der Sprecher auch Vergnügen und Lust empfinden könnte. Die Gültigkeit der Aussage skeptisch zu unterminieren heißt, die Existenz der Subjektivität des Bewußtseins in Abrede zu stellen, das seiner Erlebnisse unmittelbar innewird.

Wer meint, die Bedeutung unserer grundlegenden Begriffe sei eine Funktion oder Wirkung der neuronalen Abläufe unseres Organismus, kann mit diesem Satz schlichtweg überhaupt nichts meinen, denn der Satz leugnet die Wahrheitsbedingung unserer Sätze, nämlich eine Funktion nicht von natürlichen Ereignissen, sondern von begrifflichen Bezügen zu sein. Die Wahrheitsbedingung der Aussage „Ich habe Schmerzen“ besteht in der Existenz des subjektiven Bewußtseins, das seiner Erlebnisse unmittelbar innewird, so wie die Wahrheitsbedingung des Satzes „Karl ist der Dieb“ in der Existenz von Personen besteht, die absichtsvolle Handlungen ausführen können. Wenn wir weder wissen, was eine Person, noch, was eine Absicht oder was eine Handlung ist, können wir nur die Bewegung der Hand sehen, die in die Schublade greift.

Zu meinen, der Satz „Karl ist der Dieb“ sei eine Projektion unserer natürlichen Ausstattung, gemäß der wir den Bewegungen der uns umgebenden Exemplare unserer Spezies Intentionen unterstellen, die in Wahrheit unmittelbare Folgen der neuronalen Abläufe in ihrem Organismus sind, heißt dem Satz jede wahre Bedeutung zu bestreiten.

Weil der Naturalist annimmt und von seinen Voraussetzungen anzunehmen genötigt ist, daß unser bedeutungserzeugendes kognitives System wie alle organischen und neuronalen Systeme, Hände, Augen, Gehirne oder die neuronalen Substrate von Wahrnehmung oder Erinnerung, Hervorbringungen und damit Funktionen der evolutiven Anpassung unseres Organismus darstellen, begibt er sich a priori der begrifflichen Voraussetzung, die ihn in die Lage versetzen würde zu erkennen, ob eine kognitive Anpassungsleistung den betreffenden Organismus befähigt, Aussage zu bilden, die wahr oder falsch sein können. Denn das Auge mag Teil des perfekt an die Umwelt angepassten visuellen Systems sein, aber ob es uns mit Informationen beliefert, die uns nicht nur über die Art und Weise unterrichten, wie uns die Dinge erscheinen und vorkommen, sondern mit wahren Informationen über die Art und Weise, wie die Dinge sind, diesen wesentlichen Unterschied kann der Naturalist in seiner Theorie nicht sinnvoll formulieren und berücksichtigen. Wenn er aber keinen semantisch fundierten Begriff des Wahren und Falschen voraussetzen kann, muß der Naturalist auch auf den Wahrheitsanspruch der naturalistischen Theorie Verzicht tun.

Was ist die begriffliche Voraussetzung für die Möglichkeit, daß unsere Aussagen über die Welt wahr oder falsch sind? Sie müssen einen semantischen Gehalt aufweisen, der die Person, die ihn hat, über die wirklichen Vorkommnisse ihrer Umgebung informiert und ihrem Verhalten Entscheidungsoptionen anbietet. Karl hat unlängst gesehen, daß sein Freund Peter Geldscheine in seiner Schreibtischschublade verstaut hat. Wenn er nun die Absicht hegt, seinen Freund zu bestehlen, kann er dies aufgrund der Tatsache ausführen, daß die Aussage „In Peters Schublade befinden sich viele Geldscheine“ einen Inhalt seiner Erinnerung darstellt und zudem wahr ist.

Der Naturalist muß von seinen Voraussetzungen her die Relevanz und Wahrheitsfähigkeit der semantischen Gehalte unseres Bewußtseins in Abrede stellen: Sie sind seiner Theorie nach nichts als Ketten von neuronalen Sequenzen, in denen elektrische und chemische Prozesse stattfinden, die in Wirklichkeit keinen semantischen Gehalt haben können; der semantische Gehalt, der sich in unserem Bewußtsein tummelt, ist dagegen rein epiphänomenal, irrelevant für unser Verhalten, illusorisch, gleichgültig, ob er darüber hinaus wahr oder falsch sein mag.

Welche Bedeutung hat also der Satz: „Bedeutungen sind Projektionen unseres kontingenten neuronalen Systems“? – Gar keine! Denn er ist widersinnig, da er die Wahrheitsbedingung dessen, was er aussagt, im gleichen Atemzug bestreitet.

 

Philosophisch-theologisches Postscriptum:

Wir haben einen natürlichen Begriff von Liebe, der, eingebettet in die Naturgeschichte der Säugetiere, sich von der hegenden und pflegenden, der nährenden und wärmenden Haltung der Mutter und von der schützenden und bergenden, der weisenden und verpflichtenden Haltung des Vaters gegenüber dem Kind herleitet. Die erotische Liebe, so sie nicht mit Frühlings blauem Band davonflattert, erhält ihre Weiterung und Vertiefung in der Sorge der Liebenden füreinander und der gegenseitigen Treue nur, wenn sie aus dieser Quelle schöpft. Aber wir wissen um den giftigen Stachel, der diese noch so große, noch so beschworene Liebe zu lähmen, zu betäuben, zu entstellen vermag, den Stachel des Todes und des immerwährenden Abschieds, der das Angesicht der Liebenden voreinander verdunkelt. Wie verschreckt oder befleckt von diesem Schatten flüchtet sich die natürliche Liebe oft oder bald in die grenzenlose Wüste der Selbstsorge oder Selbstliebe zurück, als wären diese hier schattenlos, aber dank einer im Zenit brennenden Sonne des unerbittlichen Lebens.

Nur aus der Hoffnung auf ein ewiges Leben kann die Liebe die Angst vor dem Tod überwinden. Als könnten die Liebenden einst sich wiedersehen in jenem Garten, dessen Quellen nicht versiegen, weil sie nicht aus der Erde steigen, sondern Gesänge der Seligen sind, die den lobpreisen, der in der demütigen Menschwerdung der Allmacht und im freiwilligen Opfertod den natürlichen Begriff der Liebe durch den Begriff der göttlichen Liebe erhöht, erleuchtet, erlöst hat.

Der übernatürliche Begriff der Liebe ist kein Element unserer Erfahrung, die uns die sorgende Mutter zeigt, die um ihr früh verstorbenes Kind weint, den Vater, der um den verlorenen Sohn trauert, den einst Liebenden, der vor den seelischen Abgründen oder den Runzeln und Gebrechen der alt gewordenen einst Geliebten davonläuft.

Der übernatürliche Begriff der göttlichen Liebe ist auch keine begrifflich notwendige Voraussetzung unseres nichtempirischen Begriffssystems; er ist uns geoffenbart in der Heiligen Schrift und weist seine Spuren im Leben der Apostel, der Märtyrer, der Heiligen, der inspirierten Dichter und Denker. Er entstammt jener Sinndimension, die der Naturalist von seinen Voraussetzungen her als unfaßbar, überschwänglich, illusorisch abtut, in einem Sinne illusorisch, der den illusorischen Schein der von ihm als nützliche Fiktionen entlarvten Begriffe von Subjekt, Bewußtsein oder Person um ein vielfaches übersteigt. Auf diesem Felde enthüllt der Naturalist seine moralische Haltung als die eines radikalen Nihilisten. Und darin sieht er klar: Denn der Sinn der absoluten Liebe kann nur in einer gläubigen Haltung, durch einen Glauben begriffen und ergriffen werden, der selbst kein Element der natürlichen Erfahrung, sondern ein Geschenk der Gnade ist.

Vielleicht ist es möglich, ausgehend vom Begriff der übernatürlichen oder göttlichen Liebe, eine Variante des ontologischen Gottesbeweises des Anselm von Canterbury zu entwerfen. Wenn wir, wie der Naturalist annimmt, in der Bildung unserer Begriffe auf die Bedingungen der Naturgeschichte verwiesen sind, ist der Begriff der göttlichen Liebe, also die Fähigkeit einer Person, im Interesse anderer so zu handeln, daß sie ihre eigenen Ansprüche, selbst den Anspruch auf Leben, opfert, entweder illusorisch und absurd oder sinnvoll. Ist er, wie der Naturalist von seinen Voraussetzungen aus annehmen muß, eine unzulässige Projektion der Opferbreitschaft der natürlichen Liebe oder eine Projektion unserer natürlichen Ohnmacht und Verstrickung oder andernfalls absurd, müssen wir schweigen. Ist er sinnvoll, dann können wir einen Begriff, der unser natürliches Fassungsvermögen um ein vielfaches übersteigt, nur von derjenigen Instanz erhalten haben, die ihn verwirklicht; denn der Begriff einer absoluten Liebe, die sich nicht in der Tat und Wahrheit von Inkarnation und Opfertod am Kreuz verwirklicht hätte, wäre kein sinnvoller Begriff, sondern wiederum, wie der Naturalist meint, eine unsere Ohnmacht und Notdurft kompensierende Fiktion. Der Sinn des Begriffs der göttlichen Liebe ist demnach unvollständig, wenn sie nicht existiert; existiert sie aber oder hat sie sich ereignet, dann existiert auch derjenige, von dem sie Zeugnis gibt.

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