Identität und Selbstsein
Ein Beitrag zur transzendentalen Ontologie der Subjektivität
„Kein Ding sei, wo das Wort gebricht.“
Wir sind in unserer Welt umgeben von Gegenständen und Stoffen, wenn wir nicht wie die alten Atomisten die Leere hinzunehmen. Da sind auf der einen Seite Sterne, Pflanzen, Tiere, Mitmenschen, da sind auf der anderen Seite Wolken, Wasser, Schnee.
Wir können das stoffliche Sein von Wolken, Wasser und Schnee auf das gegenständliche Sein einzelner Moleküle von H2O zurückführen. Also bleiben die Gegenstände.
Aber wir können nur meinen, unsere Welt sei von gegenständlicher Struktur, wenn wir ein kohärentes Aussagesystem bilden, mit dem wir das Weltsystem so abbilden, daß wir Gegenstände eindeutig repräsentieren.
Was genau als Gegenstand zählt, bleibt offen: Erscheinen uns Sterne als Gegenstände, weil sie in unser visuelles Wahrnehmungsschema passen? Denn genauso gut können wir sagen, sie seien in Wahrheit eine stoffliche Ansammlung von Molekülen verschiedenster Zusammensetzung, und in Wahrheit seien diese Moleküle die eigentlichen Gegenstände. Und dies gilt auch von Pflanzen, Tieren, Menschen.
Nehmen wir also an, die Welt bestehe aus Gegenständen, dann besteht sie auch, wie uns sogleich evident ist, sowohl aus Gegenständen als auch den Aussagen und Sätzen über Gegenstände, in denen wir ihr Eigenschaften zusprechen. Aber nicht nur dies, denn wie wir sehen werden: keine Aussagen und Sätze ohne Gedanken, keine Gedanken ohne jemanden, der sie denkt; demnach besteht unsere Welt zumindest aus Gegenständen, Aussagen und denkenden Subjekten oder Sprechern.
Wie bilden wir Gegenstände als wesentliche Bestandteile unseres Weltsystems in Aussagen ab? Wir lassen sie durch Namen und Begriffe repräsentieren: „Peter geht über die Straße“ ist eine solche Aussage, in der wir den Gegenstand „Peter“ durch seinen Namen repräsentieren. „Die Person, deren Zwillingsbruder du bist, geht über die Straße“ ist eine Aussage, in der wir den Gegenstand mit Hilfe einer begrifflich eindeutigen Umschreibung repräsentieren; denn mit dem Ausdruck „dein Zwillingsbruder“ wird ein Weltgegenstand eindeutig identifiziert.
Wenn wir glauben, Peter sei in Wahrheit ein im Raum-Zeit-Kontinuum relativ konstantes stoffliches Bündel von Molekülen und Atomen, die sich nach bekannten Gesetzen in ihren Mustern ersetzen können, müßten wir formulieren: „Die Menge der stofflich elementaren Entitäten X1…n bewegt sich über die Straße.“ Wobei wir am Ende der Analyse immer wieder auf gleichsam residuale Gegenstände stoßen, denen wir in unserer Aussage die genannten Eigenschaften zusprechen. Eine strukturelle Differenz der Aussageform wird somit nicht erzielt.
Wir könnten uns natürlich auch, en passant gesprochen, anstelle einer langweiligen Gegenstandsontologie anzuhängen, ins Abenteuer einer beschwingten und luftigen Ereignisontologie begeben, und statt zu sagen „Peter geht über die Straße“, formulieren wir:
„Da ist ein Gehen, und es wird realisiert am Ort P zur Zeit T von dem Molekülverband Q.“
Doch müssten wir immerhin den Gegenstandsbezug in dem Ausdruck Q beibehalten, und es besteht keine Aussicht, diesen wiederum in Begriffen von Ereignissen zu analysieren und umzuformen. Den Grundbegriff der Identität werden wir auch in der Welt der Ereignisse nicht los, denn immerhin ist Gehen nicht Fliegen und schon gar nicht Liegen, also gehorchen auch Ereignistypen gewissen Identitätsmerkmalen.
Wir können allerdings geschickterweise unsere Ontologie auch als Verbindung von Funktionsausdrücken mit Begriffen, die die gemeinte Funktion erfüllen oder nicht erfüllen, formulieren: „dann und dort über die Straße gehen“ wäre der Funktionsausdruck, und „Peter“ der Begriff, der ihn erfüllt, wie „ist verheiratet mit“ der Funktionsausdruck ist, der von den Begriffen „Peter“ und „Paula“ erfüllt würde.
Ist der Funktionsausdruck durch den Begriff erfüllt, sprechen wir vom Vorliegen eines Sachverhalts oder einer Tatsache, so drückt der Satz „Peter geht über die Straße“ eine Tatsache aus, wenn Peter zur Zeit der Aussage über die Straße geht.
Wie dem auch sei, mit allen Aussagen, in denen wir den Namen „Peter“, mit dem wir den Gegenstand Peter repräsentieren und bezeichnen, salva veritate einsetzen können, das heißt in der Weise, daß die Aussage infolge der Einsetzung nicht falsch wird, beziehen wir uns demnach auf DENSELBEN Gegenstand. Das Gesetz, das unser Weltsystem beherrscht und zugleich das Aussagesystem, mit dem wir es abbilden, ist das Gesetz der Identität.
Wir können demnach von denselben Gegenständen nur sprechen, wenn wir Aussagen und Sätze gebrauchen, in denen wir sie mit denselben Namen und Begriffen benennen und ihnen gewisse Eigenschaften zusprechen, die wir nicht beliebig verändern oder austauchen dürfen.
Wir verfügen über Instrumente materieller und formaler Natur, mit denen wir die Identität von Gegenständen standardisierten Prüfverfahren unterziehen: Dieser Windhund vom okzidentalem Typ hat als Zygote, als Embryo, als Fetus, als Jungtier und alter Hund als zoologische Merkmalseinheit eine bestimmte DNA; Peter hat als Zygote, als Embryo, als Fetus, als Schulbub, als Erwachsener und als alter Mann eine bestimmte DNA.
Aber sollen wir sagen, die Zygote, der Peter entspringt, sei in demselben Sinne mit ihm identisch wie die Zygote, aus der der Windhund namens Luftikus entspringt? Wir meinen, Peter sei jemand, der nicht nur auf den Ruf „Peter!“ hört, wie der Windhund auf den Ruf „Luftikus!“ hört, sondern jemand, der sich selbst mit dem Namen Peter benennen kann, wenn er sich daran erinnert, wie er damals zum ersten Mal vor die Tafel der Schule trat, so wie sich der Hund Luftikus nicht selbst Luftikus nennt und sich nicht daran erinnert, wie er, Luftikus, damals zum ersten Mal über die Hürde gesprungen ist.
Peter könnte sich sowohl daran erinnern, wie er zum ersten Mal an die Schultafel trat, als auch daran, wie sein Kamerad Paul an die Tafel gerufen wurde. In beiden Fällen können wir die Aussage protokollieren:
(1) Peter erinnert sich daran, wie er zum ersten Mal an die Schultafel trat.
Dabei können wir für das Personalpronomen „er“ entweder „Peter“ oder „Paul“ einsetzen. Wenn wir hervorheben wollen, daß Peter sich daran erinnert, wie er, Peter, zum ersten Mal an die Schultafel trat, werden wir schreiben:
(2) Peter erinnert sich daran, wie er selbst zum ersten Mal an die Schultafel trat.
In dieser grammatischen Form des reflexiven Rückbezugs des grammatischen Subjekts des Nebensatzes auf das Subjekt des Hauptsatzes erblicken wir den Ausdruck dessen, was wir Selbstsein nennen.
Warum fällt es uns schwer, die Wahrheit der analogen Aussage anzunehmen, wenn sie den Hund Luftikus betrifft? Wir wollen imaginieren, bei dem damaligen Hundeturnier sei neben Luftikus auch sein Kamerad „Wuschel“ angetreten. Warum unterstellen wir dem klugen Tier nicht die Fähigkeit, den Satz:
(3) Luftikus erinnert sich daran, wie er zum ersten Mal die Hürde genommen hat
wobei mit dem Personalpronomen „er“ sowohl Luftikus als auch Wuschel gemeint sein können, in den Satz umzuformen:
(4) Luftikus erinnert sich daran, wie er selbst zum ersten Mal die Hürde genommen hat.
Wir gehen davon aus, daß Luftikus nicht nur mangels fehlender Intelligenz oder einer andersartigen Hirnstruktur an der Umformung des Satzes scheitert, sondern daß er Erinnerungen dieser Art nicht zu bilden imstande ist, weil er über die Sprache nicht verfügt, in der er sie ausdrücken könnte – auch wenn dieser Umstand kausal mit seiner Hirnstruktur verknüpft sein sollte, doch spielt das für unsere semantisch-logischen Überlegungen keine Rolle.
Peter ist also jemand, dem wir die Fähigkeit zuschreiben, beliebige Umformungen von Sätzen des nichtreflexiven Typs in Sätze des reflexiven Typs vorzunehmen. Da diese Fähigkeit wie es scheint schon pränatal angelegt ist, können wir von der Zygote, die einmal Peter heißen wird, nicht in demselben Sinne sprechen wie von der Zygote, die einmal auf den Namen Luftikus hören wird.
Wir können den Satz:
(2) Peter erinnert sich, wie er selbst zum ersten Mal an die Schultafel trat
vorausgesetzt, die Erinnerung trifft zu und der Inhalt der ganzen Aussage (einschließlich des Nebensatzes) ist wahr, durch folgenden Satz ersetzen:
(5) Peter weiß, wie er selbst zum ersten Mal an die Schultafel trat.
Wir können annehmen, daß Sätze über Inhalte des phänomenalen Bewußtseins wie Empfindungen, Wahrnehmungen oder Erinnerungen dann wahr sind, wenn die Identität desjenigen, der als Subjekt des Aussagesatzes genannt wird, mit demjenigen, der als Subjekt des abhängigen Nebensatzes genannt wird, oder die vollständige grammatische Reflexivität gegeben ist.
Wenn derjenige, der damals an die Schultafel trat, derselbe ist, wie derjenige, der sich jetzt an dieses Ereignis erinnert, ist der Satz, daß er sich jetzt an ein Ereignis erinnert, das damals stattfand, wahr.
Um uns hilfreicher Abbreviaturen zu bedienen, können wir sagen, daß Sätze jeglicher Art den Gedanken dessen ausdrücken, der sie jetzt denkt, einmal gedacht hat oder irgendwann denken wird. Jeder Gedanke ist eine transzendentale Funktion der Subjektivität, deren Gedanke er ist oder sein kann.
Wir sahen, daß Aussagen eine Ontologie implizieren, deren Kernstück Entitäten wie Peter oder Luftikus darstellen, die wir zum Objekt unserer Aussagen machen, oder deren Struktur aus Funktionsausdrücken besteht, die durch Einsetzen von Namen und Begriffen erfüllt oder nicht erfüllt werden.
Hier vollziehen wir die transzendentale Kehre. Um im Bild zu sprechen: Die Aussagen sind gleichsam die Koordinaten auf den Raumachsen und der Zeitachse unseres Koordinatensystems, während der Nullpunkt als Ort oder Kreuzungspunkt der Subjektivität fungiert. Ohne Nullpunkt fliegt das Koordinatensystem auseinander; nur der Nullpunkt gibt uns die Maßgabe, unsere Aussagen in unser Welt- und Aussagesystem einzutragen und einzuordnen.
Das ontologische Geheimnis der Welt, das offen zutage liegt, ist die Tatsache der Subjektivität. Die Welt, unsere Welt, gleicht der Schöpfung aus dem Nichts, aus dem das Wort als schöpferisches Ereignis auftaucht. Hier enden unsere Erklärungsversuche, sie können nicht wissenschaftlicher Natur sein, denn auch das Dasein der Wissenschaft ist eine Funktion der Subjektivität.
Das Subjekt spricht, und wo es keinen schöpferischen Nullpunkt gibt, aus dem sein Wort ergeht, gibt es keine Welt.