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Die Rose Schönheit

02.12.2016

Sentenzen und Aphorismen

Wir sind als singuläre Instanzen des seiner selbst bewußten Lebens das Unvordenkliche, Unauslotbare, Unerforschliche, insofern Imago Dei.

Wenn du glaubst zu wissen, wer oder was du bist, bist du dir schon entfremdet.

Der Verbrecher, der sich vollständig mit seiner Tat identifiziert, kann ins normale Leben mit normalen Mitmenschen nicht zurückfinden.

Darin ist er dem Psychotiker, der wähnt, ein schwerer Verbrecher zu sein, obwohl er keiner Fliege etwas zuleide tat, nicht unähnlich.

Weil wir uns nicht verlorengehen können, dürfen wir uns ohne Angst in die Tiefen unseres Selbst oder unserer selbst fallenlassen.

Ein Genie wie Goethe ist es in dem Maße, wie es sich in seine Tiefe fallenlassen kann.

Die neurotische Hemmung und die neurotische Angst rühren von Gedächtniswunden oder Verknotungen im Netzwerk der Erinnerungen: Es ist, als gewahre der Gehemmte Pfeilspitzen oder Glassplitter in seinem Inneren, an denen er sich unweigerlich verletzen würde, wenn er sich fallen ließe.

Zu glauben, man sei vollkommen gesund, ist ein Symptom tödlicher Krankheit.

Zu glauben, man sei geistig vollkommen gesund, ist ein Symptom von Geisteskrankheit.

Wie der Glaube, allwissend wie Gott zu sein, ein Symptom psychotischer Manie darstellt.

Wir sprechen, wenn wir mit anderen reden, auch mit uns selbst. Das gilt es zu bedenken, wenn wir sie beleidigen, anschreien, verhöhnen oder sonstwie attackieren.

Es gibt eine sprachliche Feinheit und einen Nuancenreichtum des Ausdrucks, die wie bei Goethe auf seelische Verwobenheiten und ein unterirdisches Wurzelwerk schließen lassen.

Es gibt allerdings auch eine sprachliche Raffinesse und eine Gewagtheit des Ausdrucks, mit denen manche ein schillerndes Kostüm über eine erschreckende Leere und Hohlheit des Seelenlebens drapieren.

Unter den geistreichsten sprachlichen Maskeraden verhüllt sich manchmal ein dummer August des Gefühls.

Das kleine, anämische, bebrillte und hühnerbrüstige Männlein, das ein Glanzphoto des Boxweltmeisters im Schwergewicht an die Wand gepinnt hat.

Die einseitige Tendenz zu Polemik, Satire und Kritik ist ein Symptom der Selbstvergiftung.

Vorsicht ist geboten vor jenen, die da antreten, alles neu, besser, vollkommener machen und die Welt umkrempeln oder wie sie sagen vom Kopf auf die Füße stellen zu wollen: Sie stehen selbst meist nicht mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen oder Möglichkeiten des Lebens.

Vorsicht auch vor jenen, die ihr Leben scheinbar ganz den Erniedrigten und Beleidigten oder den „Erniedrigten“ und „Beleidigten“ widmen und weihen, am Ende wollen sie über deren Kopfe hinweg oder über deren Köpfe hin ans Licht, zumindest ins Rampenlicht.

Wer ständig die Rede vom „Anderen“ und vom „Fremden“ im Munde führt, ist sich selbst nicht nahe genug, ist für das Eigene blind.

Als Freund eignet sich, wem man seinen Hund, seine Katze, sein Kind anvertrauen mag.

Wir können unsere Nichtexistenz nicht denken. Denken wir uns tot, so als schon gestorben, denken wir uns als nichtseiend, so als noch nicht geboren.

Der transzendentale Charakter des Selbst ist eine fließende, osmotische Grenze, die anders als Mauern und Schanzen einschließt, was sie ausschließt, impliziert, was sie negiert. Wir haben eine gemeinsame Grenze unseres Tuns und Redens, und das Bild der Lauschenden stellt sich ein, wie sie in Shakespeares Romeo und Julia oder im Zwischenspiel des Sommernachtstraums durch den Spalt in der Wand sich verständigen.

Wenn die Bilderstürmer kommen und rasen und niederreißen, willst du dann dich davonschleichen mit der speichelleckenden Rede, ein Bild sei ja nur ein Bild und nicht, was es darstellt?

Die Dichtung vermag die Seele zu wecken, sie ist die Sonne für ihren Heliotropismus.

Und wenn wir nur niesen müssen, wenn Sonnenstaub in der Nase kitzelt.

Die Dichtung ist nicht nur die Perle, die im Dunkel der Seelenmuschel reift. Sie erregt in uns zugleich den Wunsch, nach ihr zu tauchen, und erzeugt allererst das Sehvermögen für entlegene, kostbare, geheime Dinge dieser Art.

Dichtung ist nicht Beschönigung und Beschwichtigung des Banalen oder Häßlichen, die Sonne ihrer Schönheit leuchtet hoch über dem Hübschen und Häßlichen, dem Erhabenen und Niedrigen, dem Rühmenswerten und Verächtlichen.

Der verklärte Leib der Sprache.

Dichtung, die das reine Ja ausdrückt, so wie die Sonne, die nicht anders kann als scheinen, die Blüte, die nicht anders kann als duften.

Wäre die Welt der Traum Gottes, wie könnte ich eine seiner Traumchargen sein, die ihn durchschaut?

Wenn aber die Welt ein Werk Gottes ist und er mich so schuf, daß ich davon erfahre?

Wenn nur das Reisen und das Zusammenraffen sogenannter Erlebnisse bildeten, wäre Kant kein Weltweiser geworden und Mörike nicht ein die Welt der Seele auslotender Dichter.

Die meisten Atheisten weist die Statistik in China aus. Nun ja, wenn eine alleinherrschende Bürokratie befragt wird, deren Führung den Atheismus zur Weltanschauung deklariert. Das ist hierzulande nicht besser: Die meisten glauben, was in der Zeitung steht, und sie inhalieren vor allem, was dort unterschwellig als dernier cri der Welt- und Lebensanschauung ausgedünstet wird, und befragst du sie nach der Legitimität ihrer medialen Vormundschaft, sagen sie dir, es stünde ja so oder so ähnlich auch in der und der anderen Zeitung.

Wir haben den Marxismus, die Psychoanalyse, den Nietzscheanismus, den Strukturalismus, den Poststrukturalismus, den Dekonstruktivismus und den Postmodernismus hinter uns – was blieb? Ein paar Wortgirlanden vulgo Phrasen, einige grelle, fadenscheinige Flicken, über fleisch-, trost- und freudlose Gerippe geworfen, ein paar vermoderte Leichen im Keller, ein paar getünchte Leichen an den Kathedern und in den Feuilletonredaktionen, viele über Nacht zu Makulatur verrottete Ideen, Ideale und Imperative. Und der Abscheu vor jedwedem Ismus.

Im geistigen Hausrat kramen und die Begriffe entsorgen, die uns die geistige Freiheit einschnüren und den seelischen Atem abwürgen.

Man kann stattdessen auch jede beliebige Zeitung lesen und alle Begriffe durchstreichen, die wir SCHEINBAR verstehen.

Den Hauch, der dir das vergilbte Blatt einer Erinnerung vor die Füße weht, wichtiger nehmen als die TV- oder Zeitungsmeldung über so und so viele Tote bei dem und jenem Anschlag oder Erdbeben oder Krieg.

Es gibt den Kulturbetrieb und die Kultur deiner Seele.

Die seltene Blume der Erinnerung blüht in dem entlegenen Garten, zu dem du nur auf einem bestimmten Pfad gelangst; alle andere Pfade mußt du zuvor außeracht, mußt du dem Vergessen anheimgegeben haben.

Ein Geheimnis der geistigen Signatur der natürlichen Welt enthält der symmetrische Aufbau der Moleküle, Kristalle, Pflanzen und tierischen Organismen. In einer einohrigen Welt gäbe es keinen Bach, in einer zyklopischen Welt keine Pyramiden und Tempel.

Der Mund ist der Zwilling des Afters.

Wir müssen ausscheiden, was wir verdaut haben, auch zur seelischen und geistigen Hygiene.

Freilich müssen wir zuvor wirklich verdaut haben.

Der Eingang der elementaren Lebensressourcen von Luft und Nahrung ist der Ausgang der ungreifbarsten, aber wirkmächtigsten Symbole.

Wir bemerken, daß große lyrische Dichtung syntaktisch meist unverfettet und schlank daherkommt; der Gebrauch von Konjunktionen wie „aber“ und „denn“ ist hier schon verschwenderisch oder oft ein Zeichen der Ausdrucksschwäche auf der metaphorischen und metonymischen Ebene. Die systematische Verwendung von logischen Partikeln oder kausalen, konzessiven, adversativen und selbst temporalen Konjunktionen entbehrt sogar die odische Lyrik der Antike, auch wenn sie sich gern in periodischen Wellen über die Grenzen von Zeile und Strophe ergießt. Daraus schließen wir, daß lyrische Dichtung einen anderen logisch-semantischen Aussagetyp verkörpert als die sich in Begründungen, Ableitungen, Einschränkungen und Zeitschichtungen ergehende Prosa.

Das allgemeine Kennzeichen der lyrischen Sprache ist die Verwendung von Vergleichswörtern wie „wie“, „gleich“, „ähnlich“, die wir in allen abendländischen Poesien am Werke sehen. Ja, die explizite Verwendung solcher Vergleichswörter kann sogar eingespart werden, ohne daß der Vergleichscharakter eingebüßt würde: beauty’s rose might never die formuliert Shakespeare in seinem ersten Sonett. Dabei ist der Vergleich von Schönheit und Rose mittels der Verwendung des attributiven Genetivs implizit gesetzt. So übersetzt Paul Celan bündig: Die Rose Schönheit soll nicht sterben.

Warum ist der Vergleich das wesentliche Verfahren der lyrischen Sprache? Weil damit Bereiche und Tiefenschichten der seelischen Wirklichkeit entdeckt und ausgelotet werden können, die dem logischen Aussagetyp des theoretischen Diskurses als unmittelbare Phänomene unzugänglich bleiben. Die Entdeckungen und Auslotungen metaphorischer Natur verlaufen in Graden der Vertiefung und Intensivierung: Zunächst haften wir an der trivialen Feststellung, daß wir das Phänomen der Rose als schön empfinden und bezeichnen; dann entdecken wir, daß Schönheit für uns den Faszinations- und Ausstrahlungswert der Rose hat; bis wir schließlich Schönheit als Rose sui generis deklarieren.

Um wessen Schönheit geht es? Schönheit der Rose, der Frau, des Körpers, der Seele? Nun, all dies, aber wenn wir von der Rose Schönheit sprechen, zielen wir auf das Geheimnis, daß im Schöpferwort, das alles ans Licht brachte, Rose, Frau, Körper und Seele, ein Gedanke, eine Art Versprechen oder eine Verheißung mitgesprochen wurde, die wir nicht anders als im gelungenen, in sich vollendeten Dasein erfüllt finden, in jener Daseinsform, die wir in religiöser Rede als verklärt bezeichnen.

Wir kennen den episch-vollatmigen Vergleich aus Homer: Der Ansturm der Feinde wird mit einem Wogenschwall des unruhigen Meeres verglichen, wenn sich ein Unwetter zusammenbraut und der Wind das Wasser zum Schäumen bringt; oder die Menge der sich am Strand vor Troja sammelnden Kämpfer der Hellenen mit einem Bienenschwarm, der wimmelnd um den Stock sich sammelt, um zu den Blüten auszufliegen. Dieser Vergleichstyp ist explizit, ausführlich, schwelgend; er zielt nicht auf seelische Intensivierung und Verdichtung des Ausdrucks wie die Lyrik, die mit einem Wort anstelle langatmiger Vergleiche auskommt, sondern auf die Durchsichtigkeit und dramatische Erhellung der evozierten Situation.

Wir kennen auch in der Verwendung des Parallelismus der biblischen Sprache einen Aussagetyp der Vertiefung und Intensivierung, der den Sinngehalt des Gesagten prägnant und wuchtig macht: Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau (Genesis, 1, 27). Daß Gott den Menschen sich zum Bilde schuf, wird wiederholt und zur Steigerung der Prägnanz in der Umkehr- oder Spiegelform (Chiasmus) wiederholt: Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn. Diese Eigentümlichkeit der uns anvertrauten religiösen Sprache unterscheidet sie sowohl von der diskursiven Aussage als auch vom uns gewohnten lyrischen Ausdruck; aufgrund der variierten Wiederholung wird der religiöse Sinngehalt als hoch bedeutsam, als sublim oder erhaben über alles gewöhnliche Sprechen herausgehoben. Auch die biblische Sprache ist poetisch, sie verzichtet auf diskursive Mittel umständlicher Begründung und logischer Explikation; im Unterschied zur lyrischen Sprache strebt sie durch ein Verfahren wie den Parallelismus nach Eindeutigkeit und Klarheit, auch wenn das Zentrum, aus dem heraus sie spricht, verborgen bleibt.

In der Sprache der Hymnen verwendet Hölderlin ausgiebig den metaphorischen Genetiv zur Intensivierung und Vertiefung des Ausdrucks; dagegen wird die Gedankenbewegung, die in einem hohen Maße assoziativ ist, oftmals durch Verwendung des nichtadversativen, reihenden „aber“ ins Fließen gebracht; wir geben einen kurzen Abschnitt aus der nicht ausgearbeiteten und unvollendeten Hymne „Vom Abgrund nemlich“:

diese Zeit auch

Ist Zeit, und deutschen Schmelzes.

Ein wilder Hügel aber stehet über dem Abhang

Meiner Gärten. Kirschenbäume. Scharfer Othem aber wehet

Um die Löcher des Felses. Allda bin ich

Alles miteinander.

Die Verse gipfeln in der mystischen Formel für die Erfahrung der Alleinheit, der mystischen Vergegenwärtigung des individuellen Ich im Ganzen der Welt; hier ist die Sprache gleichsam in den Abgrund zur Hochzeit mit dem Geist der Schöpfung gegangen, aus dem auch die Trennung herrührt, der Ausgangspunkt des hymnischen Entwurfs, der an das Bild des sowohl königlich-majestätischen als auch sinnlich-gefährlichen Löwen anknüpft. Wir heften unser Augenmerk hier nur auf die Funktion der Verwendung des Hölderlinischen „aber“: Das Gedicht, dessen imaginärer Ort den Süden Frankreichs vor- und darstellt, wird mehrfach von der Erinnerung an die deutsche Heimat heimgesucht (das Fragment bricht ab mit der Erinnerung an die Blüthen von Deutschland): Mit dem Einsatz des „aber“ wird das Haften an der Erinnerung (… Zeit, und deutschen Schmelzes) gelöst, und das Gedicht spürt der scharfen und bis zur Schmerzlichkeit betörenden Gegenwart in der imaginären Gartenlandschaft des Südens erneut nach. Der Entwurf benötigt aber gleichsam ein zweifaches Lösen und Steigen, um auf den Gipfel seiner gnomischen Formel zu gelangen: Bei der zweiten Verwendung des „aber“ bemerken wir einen abrupten Wechsel von der visuellen Sphäre (Gärten, Kirschenbäume) zur rein gefühlshaften und olfaktorischen Sphäre (scharfer Othem aber wehet). Der Abgrund, der sich nun im Gedicht öffnet, ist gewiß unsichtbar, so wird er der Tradition mystischer Literatur gemäß gern mit der Anmutung des göttlichen Atems verknüpft; originär hölderlinisch ist dabei seine Charakterisierung als scharf.

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