Kurze Widerlegung des Materialismus
Wir gehen von folgender Annahme aus: Wenn der physische Gegenstand wesentlich oder notwendig kein subjektives Moment, ob Erleben oder Gedanke, in sich enthalten kann, ist der Materialismus oder der theoretische Versuch, das psychische und mentale Leben auf das physische und materielle Sein zu reduzieren oder mit ihm zu identifizieren, unwahr.
Wir können den Materialismus so widerlegen: Wenn jeder Gedanke auf einen Hirnzustand abbildbar und reduzierbar wäre, müßte auch der Gedanke, daß jeder Gedanke auf einen Hirnzustand abbildbar und reduzierbar wäre, auf einen Hirnzustand abbildbar und reduzierbar sein. Doch dieser Gedanke kann kein Hirnzustand sein, denn er umfaßt die Menge aller möglichen Hirnzustände, und wäre als der Gedanke, daß diese Gesamtheit aller möglichen Hirnzustände die Gesamtheit aller möglichen Gedanken repräsentiert, eo ipso selbst kein Hirnzustand mehr.
Wir können den Gedanken, daß alle Gedanken oder mentalen Zustände Hirnzustände sind, demnach beliebig iterieren und ad infinitum auf sich selbst anwenden. Die Menge der möglichen Hirnzustände ist vielleicht unbegrenzt, aber die Menge der möglichen Gedanken ist überabzählbar unendlich groß, denn ich kann wie durch Addition der Eins bei den Zahlen durch Iteration seiner Selbstanwendung (oder durch seine Negation) einem Gedanken immer den nächsten folgen lassen. Wenn die Menge der möglichen Gedanken die Menge der Hirnzustände, die ihnen korreliert werden sollen, um Potenzen übersteigt, kann die Grundannahme des Materialismus, daß jedem mentalen Zustand ein Hirnzustand korreliere oder mit ihm identisch sein müsse, nicht wahr sein.
Wir können den Materialismus auch so widerlegen: Wir können jedem Gedanken prinzipiell seine Negation folgen lassen. Aber negative Tatsachen wie die Tatsache, daß es NICHT regnet, sind keine natürlichen Tatsachen, sondern Funktionen unseres Denkens, die wir benötigen, um den Horizont des Denkbaren abzutasten. Negative Tatsachen sind nur möglich im semantischen Raum unseres Glaubens und Fürwahrhaltens. Neurologische Zustände sind Zustände jenseits oder diesseits unserer Formen des positiven oder negativen Behauptens und Fürwahrhaltens. Also sind Negationen, wie die Aussage „Jetzt regnet es nicht mehr“ neuronal nicht hinreichend abbildbar und reduzierbar. Kurz gesagt: In der Natur gibt es keine negativen Sachverhalte, die Bildung der Negation ist aber ein wesentliches Verfahren unserer geistigen Tätigkeit.
Wir können den Materialismus auch so widerlegen: Ein Kennzeichen des Geistes ist seine Intentionalität oder die Fähigkeit, einen Gedankeninhalt oder gedanklichen Gegenstand zu haben. Dabei hat die semantische Form des Enthaltens und Enthaltenseins des Gedankeninhalts im entsprechenden Gedanken oder des mentalen Gehalts im mentalen Zustand wie das Enthaltensein des mentalen Gehaltes „Rot“ im entsprechenden Farbeindruck keine Ähnlichkeit mit dem räumlichen Enthalten und Enthaltensein eines Dinges in einem Behälter. Ein Neuron mag bestimmte chemische Stoffe aufnehmen und zeitweilig enthalten, aber niemals einen gedanklichen Gegenstand. Es gibt weder intentionale Zustände rein materieller Natur noch materielle Zustände, die den intentionalen Zuständen des Geistes analog sind, ihnen entsprechen oder ihnen korreliert werden können.
Wir können den Materialismus auch so widerlegen: Wenn ich an meinen Freund Peter denke, könnte ich zwar glauben, an Peter zu denken, in Wirklichkeit aber denke ich an Karl, denn in diesem Moment verwechsle ich Peter mit Karl. Aber diese Täuschung lag nahe, denn Karl ist der eineiigige Zwilling von Peter. Das neuronal repräsentierte Bild, was immer dies heißen mag, auf das sich mein Hirnzustand bei der Erinnerung an Peter bezieht, unterscheidet sich dabei nicht von dem Bild, auf das sich mein Hirnzustand bei der Erinnerung an Karl bezieht. Wenn ich mich bei der Addition zweier Zahlen verrechne, haben beim Zustandekommen dieses Rechenfehlers die synaptischen Verbindungen in meinem Gehirn fehlerfrei funktioniert, denn ich erhalte eine Zahl als Summe, wenn auch die falsche. Täuschungen, Verwechslungen, Irrtümer semantischer Natur finden auf der physischen Ebene keine Parallele. Im Übrigen würde der Gedanke an Peter, in dem sich der Gedanke an Karl verbirgt, in diesem Falle durch ein und denselben Hirnzustand repräsentiert: An diesem könnte demnach nicht ausgemacht werden, welche Identität der intentionale Gegenstand des Gedankens wirklich hat.
Wir können den Materialismus auch so widerlegen: Wenn ich die Zahl 8 mit einer Primzahl verwechsle, kannst du mich korrigieren, indem du mich auf die mathematische Regel der Bildung und Bestimmung von Primzahlen hinweist. Der Begriff des Irrtums im semantischen Sinne findet auf physische Vorgänge keine Anwendung: Sie folgen keiner Regel, sondern gesetzlichen Abläufen oder statistischen Regelmäßigkeiten. Sie können auch nicht im semantischen Sinne korrigiert werden, denn sie begehen keine Fehler und Irrtümer, sondern erleiden höchstens „Pannen“ und Funktionsausfälle.
Im Folgenden führe ich einige weitere Gründe an, die den Wahrheitsanspruch des Materialismus in Frage stellen:
Den Farbeindruck „rot“ zu haben kann keine Transformation der Lichtstrahlen sein, die von der roten Rose ausgehen. Der Farbeindruck ist ein mentaler Zustand, Lichtstrahlen sind rein physische Zustände, wir finden dazwischen keine begrifflichen Übergänge oder konzeptuellen Metamorphosen. Dasselbe konstatieren wir bei allen Sinneseindrücken und Empfindungen: Der Schall ist nicht das Gehörte, das Gewicht des Buches in der Hand ist nicht die Druckempfindung, die mit dem Sonnenlicht angestrahlte Wärmeenergie ist nicht die Wärmeempfindung.
Wir können psychologische Prädikate und Aussagen wie „Ich habe jetzt hier einen Rotempfindung“ nicht durch physiologische oder physikalische Prädikate und Aussagen übersetzen und ersetzen; diese Übersetzungsleistung wäre aber eine Voraussetzung dafür, den Wahrheitsanspruch des Materialismus einzulösen. Auch wenn es gelänge in dem erwähnten Satz den psychologischen Ausdruck „Rotempfindung“ durch eine lange Reihe von mit der Konjunktion „und“ verknüpften wahren physikalischen Aussagen über Lichtfrequenzen, Nervenbahnen der Netzhaut, Hirnareale und Hirnzustände zu übersetzen und zu ersetzen, blieben die deiktischen Ausdrücke „jetzt“ und „hier“ unübersetzbar und unersetzbar. Nehmen wir an, wie gehen naiv davon aus, „jetzt“ und „hier“ durch zeitliche und räumliche Koordinaten übersetzen und physikalisch objektivieren zu können. Die Frage ist dann: Welchen Zeitpunkt und welche Raumstelle sollen die Koordinaten angeben – den Ort, wo jetzt die rote Rose steht, oder das Hirnareal, in dem die Rotempfindung erzeugt wird. Aber wo ist die Rotempfindung, wenn ich davon rede, daß diese Rose dort rot ist? Im Auge? Im Kopf? Aber gefragt, wo ich das Rot wahrnehme, zeige ich wohl kaum auf meinen Kopf, sondern auf die Rose dort vor mir. Die korrekte Verwendung von deiktischen Ausdrücken setzt eben das voraus, was der Materialismus durch Übersetzung von Psychologie in Physiologie ablösen will, das sprechende Subjekt, aus dessen Ich-Perspektive es einzig sinnvoll ist und allein sinnvoll sein kann, deiktische Hinweise wie „jetzt“ und „hier“ zu verwenden. Die angemessene Verwendung physikalischer Prädikate setzt demnach die Verwendung psychologischer Prädikate voraus und kann demzufolge diese nicht ersetzen und überflüssig machen.
Wenn wir beliebig viele Neuronen verschalten und hierarchisch immer komplexer anordnen, können wir mittels solcher Modelle evolutiven Wachstums nicht den prinzipiellen Abstand oder die begriffliche Differenz zwischen physischen Komplexen und mentalen Zuständen „überspringen“. Die neuronale Komplexion erreicht trotz exponentiellen Wachstums gleichsam nie den Limes, an dem sie sich mit dem Mentalen berühren würde. Demnach erklärt die darwinistische Neurobiologie nicht, was sie zu erklären vorgibt. Umgekehrt glauben wir annehmen zu dürfen, daß durch Abbau neuronaler Komplexion wie infolge von Demenzerkrankungen die Hirnfunktion in Mitleidenschaft gezogen wird, die für die Erzeugung höherer mentaler Zustände wie des Ich-Bewußtseins zuständig ist. Aber wenn infolge von zu starker Lichteinstrahlung das Gesicht der Mona Lisa allmählich verblaßt, wäre es ein Fehlschluß, daraus zu folgern, daß es eine interne Beziehung zwischen dem Umgebungslicht des berühmten Gemäldes und dem auf ihm abgebildeten Sujet gibt. Ebensowenig erschließt sich uns aus dem negativen Befund, daß der Abbau bestimmter Hirnareale zur Verminderung und Einbuße der Ich-Funktion führt, das Bestehen einer internen Beziehung oder die Art der internen Beziehung zwischen diesen Hirnarealen und dem mentalen Ich-Zustand.
Für verpflichtende Äußerungen wie Zusagen, Versprechen, Eide oder unter Verträge geleistete Unterschriften können wir haftbar gemacht und zur Verantwortung gezogen werden. Selbst für jede harmlose Aussage gilt der Anspruch, bei Nachfragen ihre Geltung durch Hinweis auf andere Aussagen, mit denen wir sie begründen oder wahr machen, zu belegen. Wir nehmen dann implizit oder explizit die logische Form oder Regel in Anspruch, nach der unsere Aussage entweder im Nachweis einer passenden Wahrnehmungsaussage begründet ist oder aus nachweisbaren wahren Prämissen als Konklusion logisch folgt. Wir leben, sagen wir, im Reich der Gründe, insofern wir als sprechende Subjekte unserer Sinne mächtig und für unser bewußtes Handeln mehr oder weniger verantwortlich sind (auch wenn wir gegebenenfalls von triebhaften Impulsen überrannt und unserer Verantwortlichkeit auf Zeit beraubt werden, aber auch dies könnten wir nicht, wenn wir nicht cum grano salis verantwortlich Handelnde wären). Die Natur indes ist das Reich der Ursachen oder jedenfalls statistisch regelmäßig ablaufender Vorgänge, die wir (außer in Fällen magischen Aberglaubens) nicht zur Verantwortung für die Folgen ziehen können, wie sie sich aus Vulkanausbrüchen, Erdbeben oder Taifunen ergeben.
Wenn wir als sprechende Subjekte unsere Äußerungen (gegebenenfalls) zu beglaubigen oder zu vertreten oder zu verantworten haben, wohnen wir eo ipso durch die nackte Tatsache der Sprache nicht nur nicht einzig und allein im Reich der Ursachen, sondern immer schon im Reich der Gründe und demnach in einem moralischen Universum, auch wenn wir noch keine moralische Regel oder Norm explizit aufgestellt haben. Nach dem Humeschen Gesetz können wir bekanntermaßen aber aus dem Reich der Ursachen oder der Natur keine moralischen Normen ableiten: Also sind wir zumindest sprachlich-moralisch Bewohner zweier Welten.
Wir leben als sprechende Lebewesen auf der Schwelle von der Vergangenheit zur Zukunft. Wenn wir ein Versprechen oder die Zusage machen, ein geliehenes Gut in zwei Wochen oder Monaten oder Jahren zurückzuerstatten, gehen wir davon aus, daß wir mittels der Kausalität unseres Willens oder der Freiheit die Kausalreihe des Nichtbewußten oder der Natur soweit beeinflussen und in unseren Dienst stellen können, daß wir die Unlust und den Widerwillen, die Müdigkeit oder die Präferenz für bequemere Dinge am ausbedungenen Zeitpunkt überwinden und unseren ursprünglichen Zweck, das Gut zurückzuerstatten, verwirklichen werden. In den natürlichen Abläufen finden wir keine Schwelle von der Vergangenheit zur Zukunft, die durch ein intentionales Bewußtsein gekennzeichnet wäre, das sich auf die Erfüllung gedanklich antizipierter Zustände richtet.
Unser Verhältnis als sprechende Wesen zu unseresgleichen kann nicht nur durch Systeme kausaler Zuordnung oder rein statistischer Häufung beschrieben werden, wie wir es aus den natürlichen Ordnungen von physischen Gegenständen, Pflanzen und Tieren kennen. Blumen vermehren sich beispielsweise über die angepaßten Verhaltensdispositionen von Insekten, Tiere paaren sich unter dem Zwang hormoneller Ausschüttungen, und ihr Paarungs- und Brutverhalten wird über angeborene Signalübertragungssysteme reguliert. Wir regulieren unser Verhalten über sprachliche Kommunikationen, die in solch einem Maße variabel und modifizierbar sind, daß wir ihre Ergebnisse nicht oder nicht immer vorausschauen können. Auch wenn unser Gruppenverhalten durch Traditionen und Gebräuche in kulturelle Formen wie Ehe, Familie, Freundschaft geleitet wird, sind wir dabei nicht durch natürliche Gesetze determiniert, sondern durch kulturelle Konventionen in unseren Neigungen, Absichten und Zielsetzungen mehr oder weniger positiv oder negativ beeinflußt. Mehr oder weniger heißt, mehr oder weniger stark und streng mit Sanktionen behaftet. So sind sogenannte Tabus auf das Verhältnis der Geschlechter oder auf das Verhältnis zu den Toten in vielen traditionsverhafteten Gruppen stark durch Strafen bewehrt, während die Überschreitung der Konvention, bei einer roten Ampel nicht über die Straße zu gehen, milde sanktioniert ist. Die Einübung in kulturelle Konventionen geschieht durch Erziehung und Gewöhnung, sodaß wir aufgrund der Künstlichkeit der Konventionen auf einen mehr oder weniger großen kulturellen Spielraum bei der Erziehung schließen können. Von Gewöhnung und Erziehung können wir bei Pflanzen kaum oder gar nicht, bei Tieren nur im übertragenen Sinne sprechen. Was uns bei der Aufzucht ihrer Brut bei Vögeln und Säugern an unsere Formen der Erziehung erinnert, sind Formen der selbst natürlich disponierten Konditionierung des Verhaltens. So lernen Singvögel die Muster bei der Wahrnehmung ihrer natürlichen Feinde erkennen. Unsere Formen der Erziehung dagegen können nicht auf Formen der Verhaltenskonditionierung reduziert werden: Freilich gewöhnen wir uns daran, Muster im Ausdrucksgebaren der Mitmenschen wie das Lächeln oder den Ausdruck von Wut und Ekel wahrzunehmen, doch müssen wir lernen, aufgrund dieser Wahrnehmungen die Bedeutung des Ausdrucks zu erkennen und sie als intentionalen Gehalt eines mentalen Zustands zu verstehen, während Tiere aufgrund der Musterwahrnehmung auf ein konditioniertes und oft auch angeborenes Verhaltensrepertoire zurückgreifen. Die von ihrer Verwandten gelegte chemische Spur ist für die Biene kein konventionelles Zeichen, das sie erkennen und dechiffrieren müßte, sondern ein Reiz, auf den durch Nachverfolgung reflexhaft zu reagieren sie keine Wahl hat, während wir die Einladung unseres Nachbarn zu einem Festmahl aufgrund uns wichtiger erscheinender Gründe ausschlagen können (wie wenn wir am betreffenden Termin unsere kranke Schwester besuchen wollen).
Hier ersehen wir den begrifflich fundamentalen Unterschied zwischen Ursachen und Gründen, Determinanten und Überzeugungen: Der Materialist muß in fataler Konsequenz die begriffliche und mentale Autonomie von Gründen und Überzeugungen leugnen und annehmen, daß alle Gründe nur verkappte Ursachen seien. Damit verengen sich die Bahnen unseres Handelns auf jene Menge von Verhaltensdispositionen, die durch entsprechende Reize unwillkürlich wie bei der Biene durch die hormonelle Spur ihrer Verwandten oder auf konditionierte Weise wie beim Jungvogel durch das Wahrnehmungsmuster des Greifvogels ausgelöst werden. Wenn wir statt der Einladung des Nachbarn zum Festessen zu folgen den Besuch bei der kranken Schwester präferieren, geschieht dies in materialistischer Sicht aufgrund einer Determinierung unseres Verhaltens durch Formen der Konditionierung, nicht aber, wie wir aufgrund kultureller Konventionen anzunehmen geneigt sind, aus freien Stücken, weil uns das Wohl der Kranken wichtiger ist als unser eigenes Wohl, auch wenn es durch besagtes Festmahl gesteigert würde.
Wenn wie der Materialist konsequenterweise annimmt unsere Gründe für eine Überzeugung identisch mit den Ursachen wären, die uns dazu disponieren oder determinieren, diese Überzeugung zu haben, wären auch die Gründe für die Überzeugung, daß der Materialismus die wahre Theorie vom Verhältnis des Mentalen und des Physischen darstellt, durch eine Reihe von Ursachen determiniert, die uns dazu disponieren oder determinieren, diese Theorie zu präferieren (beispielsweise weil wir mit ihnen unser Dasein darwinistisch vorteilhafter fristen können als mit anderen Überzeugungen). Damit erwiese sich der Materialismus als eine Theorie, die nicht falsch sein und also nicht korrigiert werden könnte, denn Überzeugungen, die von natürlichen oder objektiven Determinanten bestimmt werden, zu denen es keine Alternative gibt, sind keine echten Überzeugungen und somit weder wahr noch falsch, sondern einfach grundlose Behauptungen – womit sich der Materialismus selbst ad absurdum führt.
Die Theorie des Materialismus entlarvt sich aufgrund der Identifikation von Gründen mit Ursachen und von Überzeugungen mit den natürlichen Determinanten, die sie generieren, als eine Theorie ohne Argumente, das heißt eine Weltanschauung oder Ideologie: Denn Argumente sind logisch korrekt verknüpfte Gründe. Zu sagen, daß etwas der Fall ist, und gleichzeitig zu sagen, daß dies zu sagen, keinen Grund hat (weil der vorgebliche Grund in Wahrheit eine Ursache ist, die die Äußerung determiniert), heißt nichts zu sagen.
Wir sind als sprechende Wesen unserer Existenz bewußt. Bewußtsein aber ist kein mentaler Behälter, in dem wir steckten, oder eine Art mentales Feld, an dessen Rand wir noch eben etwas empfänden oder uns als schwaches Licht sähen, während in seiner Mitte und in seinem Zentrum das helle Licht des Ich-Bewußtseins erstrahlte: Da Bewußtsein überhaupt keine räumlichen Dimensionen hat, ist es barer Unsinn, aus der Tatsache, daß die neuronalen Netze des Gehirns kein steuerndes Zentrum aufweisen, zu folgern, es gebe kein Ich-Bewußtsein und kein Ich. Und umgekehrt: Ließe sich ein steuerndes Zentrum des neuronales Netzes nachweisen, wäre es damit noch nicht als Sitz des Bewußtseins oder Ich identifiziert oder könnte an ihm eine Spur des phänomenalen und des Ich-Bewußtseins ausgemacht werden.
Wir können die Existenz des Geistigen nicht aus physischen Tatsachen ableiten und erklären, vielmehr müssen wir die Tatsache des Ich als subjektiven Bezugspunkt unseres mentalen und sprachlichen Lebens voraussetzen. Wenn wir logische Evidenzen wie die Evidenz des zu vermeidenden Widerspruchs nicht aus anderen logischen Sätzen ableiten, sondern ihre Geltung bei Strafe des Versinkens in logisch-semantischen Unsinn voraussetzen müssen, werden sie deshalb nicht weniger gültig.
Die Welt der Gründe, in der wir sprechend und handelnd leben, ist durch Netze des rationalen oder vernünftigen Glaubens und Fürwahrhaltens mehr oder weniger kohärent und konsistent verknüpft. Kohärenz und Konsistenz als fundamentale Eigenschaften des Glaubens und Fürwahrhaltens sind aber keine natürlichen Eigenschaften und auf keine Weise auf natürliche Prozesse abbildbar und reduzierbar. Wenn wir unsere Verabredung einhalten wollen, müssen wir eine vernünftige oder sinnvolle Reihe von Handlungsschritten vollziehen, um den, der auf uns wartet, nicht zu enttäuschen. Dabei beziehen wir natürliche Zustände und Vorgänge, wie die Regulation unseres körperlichen Gleichgewichts und die nervös-muskuläre Steuerung unserer Gliedmaßen, aber auch den natürlichen Ablauf der Zeit durch Registrierung der Uhrzeit, in unser zweckgerichtetes Handeln ein. Wir wissen, falls wir nicht rechtzeitig aus den Federn kommen, geht die Sache schief. Die Modellierung negativer Sachverhalte durch konditionale Satzbildungen gehört dabei zu unseren rationalen Mitteln der Handlungs-und Lebensbewältigung. In der Welt der Ursachen oder der Materie finden wir keine Entsprechung zu dieser ausgezeichneten Weise rationalen Vorgehens.
Ein alternder Mensch pflegt hin und wieder über das Altern nachzusinnen, wenn er die Irrungen und Wirrungen der Jugendzeit Revue passieren läßt oder sich fragt, ob es sich gelohnt hat, jener erotischen oder anderer Abenteuer wegen auf die Erfüllung eines bestimmten Wunsches nach Bildung oder Selbstbildung Verzicht getan zu haben; oder ob in dem sich nähernden Dunkel des Abschieds da und dort ein schwaches Licht glimmt, das er noch einmal anfachen sollte: eine Freundschaft der Jugend, ein Gesprächspartner des reifen Alters oder ein Sehnsuchtsort, den er noch einmal oder überhaupt einmal aufsuchen könnte. Augenscheinlich sind solche Weisen der Erinnerung und Selbstbesinnung an die natürliche Tatsache gebunden, ein körperliches Dasein zu führen und mit dem biologischen Schicksals des eigenen Körpers und seiner Altersstufen auf das Intimste verwoben zu sein; aber die von unserem biologischen Schicksal getakteten Zeiten, an die wir uns erinnern, sind nicht die Zeitabläufe, die gewisse neuronale Vorgänge gebraucht haben, um jene Informationen zu verarbeiten, die mit unseren Wahrnehmungen und Erlebnissen kausal verbunden waren, sondern die Dauer unserer mentalen Zustände, wie das Erlebnis eines lang sich dehnenden Sommertages der Kindheit oder das quälend-lange und schmerzlich-schöne jahrelange Warten auf die Wiederbegegnung mit einer geliebten Person; denn wir können, auch wenn wir tausend andere Dinge gleichzeitig getan haben, doch von uns behaupten, daß wir die ganze Zeit auf jene Wiederbegegnung gewartet haben; wir können behaupten, daß wir uns viele Monate lang auf die Abschlußprüfung vorbereitet haben, auch wenn wir zeitweise Dinge trieben, die mit der Prüfung nicht das geringste zu tun hatten, wie einen Abend im Theater zu verbringen. Wir befinden uns auch im mentalen Zustands des Wartens, wenn wir im Wartezimmer des Arztes sitzen und uns in ein mitgebrachtes spannendes Buch vertiefen, und wenn wir uns fragen, was wir hier tun, sagen wir uns nicht, daß wir halt ein Buch lesen, sondern ein Buch lesend im Wartezimmer des Arztes warten. Ja, wir können davon ausgehen, daß diese Art des Wartens nicht einmal eine Repräsentanz oder Instantiierung in einem Hirnzustand findet oder finden muß, und dennoch sind wir im mentalen Zustand des Wartens. Wenn es aber mentale Zustände geben kann, denen keine oder keine eindeutig zugeordneten Hirnzustände korrelieren, ist der Materialismus widerlegt.
Wir gelangen schließlich dazu, unsere Fragerichtung radikal umzukehren: Wir fragen nicht, wie aus nichtbewußten, rein materiellen Vorgängen das sich seiner bewußte Leben entspringt, sondern wie wir die kosmisch-natürliche Evolution im Lichte der Tatsache unseres bewußten sprachlichen Lebens sehen und so weit wie möglich verstehen können. Wir haben ja in der Sprache selbst eine natürliche Tatsache, denn das Sprachvermögen als Grundlage aller höheren geistigen Tätigkeit ist uns angeboren. So kommen wir am Ende dieser Überlegungen nicht umhin anzunehmen, daß die metaphorischen Rede von der geistdurchwirkten Natur oder die metaphorische Rede von Gottes Schöpfung und seiner in der Natur wirkenden Providenz mehr als ein Körnchen Wahrheit enthält.
Ein Vortrag von Franz von Kutschera zur Vertiefung:
https://www.youtube.com/watch?v=ugCZqrStplE