Die drei Quellen des menschlichen Unglücks
Die erste Quelle ist moralischer Natur: Was du anderen an Schaden zufügst, kommt so oder so, früher oder später, in reiner oder verdichteter Form auf dich zurück.
Der „Größte Feldherr aller Zeiten“ hat kein geringes Unglück über sein Volk und andere Nationen gebracht, er zahlte mit dem von ihm zu entrichtenden höchsten Preis, dem eigenen Leben, und beging Selbstmord.
Die großen Perversen auf dem römischen Kaiserthron konnten auf bemessene Zeit ihre Macht- und Triebentfaltung in ungehemmter Zügellosigkeit auskosten, dann holte das Schicksal mit Gift und Dolch und Strick, das sie anderen zugedacht hatten, sie selber ein.
Du hast dein Versprechen nicht gehalten und dein Wort gebrochen, das ausgeliehene Gut nach seiner Nutzung dem Eigentümer wiederzuerstatten. Du dachtest dir, dich aus dem Staub machen zu können und Gras über die Sache wachsen zu lassen. Es war ja nicht das erste Mal, daß dies dir zu gelingen schien. Doch dann wuchsen die Schatten um dich, keiner zog dich mehr ins Vertrauen, keiner mochte dein Anliegen anhören, die Freunde schnitten dich.
Der Parasit, der auf Kosten anderer lebt, hat sich mit geschickt oder kunstvoll bemalten Masken der Lüge oder Schmeichelei oder der erotischen Faszination in fremdes Leben eingeschlichen: Der Türspalt stand für einen Moment der Unaufmerksamkeit oder der Langeweile oder der Sehnsucht offen – und schon ist er hineingeschlüpft. Schon begann sein Rüssel zu saugen, schon stach die Mücke zu, schon hat der Vampir, zärtlich vielleicht, doch tief genug, gebissen. Doch von Blut und Gut anderer zu leben, heißt zum Gespenst zu werden, zum leeren Nachbild und zur wurzel- und grundlosen Schlingpflanze, die nicht in sich Halt zu finden vermag, sondern nur an der Stütze und im Schatten ihres Wirts. Der moralische Schaden des Schmarotzers ist eben diese Unwürdigkeit und Nichtswürdigkeit eines hohlen Daseins, das eigener Wurzeln und tragender Gründe ermangelt. Leidet er denn darunter? Vielleicht ist er moralisch abgestumpft und so rohgesinnt, daß er nicht einmal leidet. Dann muß er spätestens büßen, wenn sein Übergriff dem Gastwirt Atem und Lebenswillen benimmt, er schwach wird, hinsiecht und darniedersinkt: und mit ihm der elende Gast.
Wer vorgibt zu sein, was er nicht ist, der Scharlatan und Betrüger, wird früher oder später entlarvt, wenn der Chef sein Unvermögen mit der Entlassung quittiert, wenn ihm das Plagiat der Diplomarbeit oder der Dissertation, wenn ihm Urkundenfälschung nachgewiesen werden, wenn ihn die betrogene Geliebte, die Freundin, die Frau sitzenläßt oder hintergeht, wenn ihn das mit lächerlichen Mätzchen und faulen Zaubertricks gefoppte und genasführte Publikum auszischt: Wer den Schaden hat, braucht für Spott nicht zu sorgen.
Wer in verantwortlicher Position die Interessen seines Volkes und Landes gegen die verstiegenen Ansprüche einer vorgeblich hörerwertigen Gesinnung zurückstellt und verletzt, dieser Schädling aus gutem Gewissen, hat seinen Teil dahin, wenn die Geschädigten die Folgen in Form von sittlicher Verrohung, kultureller Verwüstung oder wirtschaftlichem Niedergang zusehends am eigenen Leib verspüren: Sie schicken ihn in die Wüste.
Die Primitiven glauben, der ihnen zugefügte Schaden, vom zerbrochenen Topf bis zur Krankheit des Viehs, gehe auf das Konto des verderbenbringenden Wirkens böser Geister, die von Zaubereren und Hexen im Auftrag böswilliger, neidischer, gehässiger oder nachtragender Nachbarn durch das Dach steigen und durchs Schlüsselloch kriechen, um ihr mißliches Werk zu verrichten. Sie erkennen demnach richtig die moralische Dimension des sozialen Miteinanders und damit die moralische Quelle des menschlichen Unglücks. Ihre Dummheit indes liegt nicht darin, die wahren kausalen Zusammenhänge wie die physische Kausalität von Temperaturschwankungen oder Krankheitserregern zu verkennen, sondern im Mangel an Selbstbesinnung: Ist doch die Bosheit und Gehässigkeit, die sie als Motive des schädlichen Wirkens ihren Nachbarn unterstellen, nichts als der Spiegel ihrer eigenen Bosheit und Gehässigkeit.
Die zweite Quelle des menschlichen Unglücks ist anthropologischer Natur und entspringt der conditio humana, die durch die Schicksalsgebundenheit der körperlichen, seelischen und geistigen Dimensionen der humanen Existenz bestimmt wird: Hieraus leiten sich auch die Formen des Leidens her, die ein Gutteil unseres Unglücks ausmachen: Körperliches Leiden durch schmerzhafte Krankheit und Siechtum bis zum Tode, seelisches Leiden in den Formen seelischer Störungen von der Mißstimmung bis zur Depression und geistiges Leiden von der Wahrnehmungsstörung bis zum psychotischen Wahn.
Die hier betrachteten Aspekte des menschlichen Unglücks beziehen ihr Virulenz und Intensität aus der Wahrnehmung und dem Ausgesetztsein an die Stupidität, die Rohheit und den Widersinn der menschlichen Dinge. Wir begnügen uns mit der knappen Skizze einer Dämonie des Lärms, als pars pro toto. Wir betrachten den akustischen Auswurf und Abfall einer kranken Zivilisation mit den Augen eines lärmempfindlichen, der Stille zugeneigten Zeitgenossen. Es ist augen- oder besser ohrenscheinlich, daß der Lärm bewußt erzeugt und genossen, gesteigert und gezüchtet wird, in der Absicht, nicht nur die Umwelt aufs beklagenswerteste in eitlen und aufgeblähten Selbstgefälligkeiten zu beeindrucken und akustisch zu verschmutzen, sondern sich selbst bis zur Bewußtlosigkeit in Hinsicht auf die Nähe des eigenen Unterganges und der eigenen Hinfälligkeit und Todverfallenheit zu betäuben. Es ist wahr, daß die Haupttäter und gewöhnlichen Lärmverursacher und akustischen Schmutzfinke Männer sind – was auf die von Grund auf verderbte Natur dieses Geschlechts schließen läßt und der Rede vom Mann als Herrn der Welt und der gepriesenen „Mankind“ ex negativo rechtgibt.
Der stupid-monotone Schlag des Basses ist so laut, daß er von den Ohrstöpseln des im Bus oder der Bahn Mitreisenden störend bis zu dir dringt. Das Geschwätz des Hintermannes in sein Handy ist nicht nur unerträglich laut, sondern verletzt deine Intimsphäre durch schamlose Ausbreitung der seinen.
Ein dicklicher Fatzke im zerknitterten Anzug jault und röhrt und greint auf großer Bühne in sein Mikrophon, und die triefenden und schauernden Wolken seiner drei Emotionen – weinerliche Rührseligkeit, anklagende Entrüstung und sentimentale Menschheitsumarmung – werden von ekstatischen Atemstößen des Orchesters hin- und hergestoßen, dabei stöhnt und brüllt das mitgerissene Publikum mit, tausende Hände werden hochgerissen, geschwenkt und gerüttelt, es nimmt erst ein Ende, wenn der Sänger, schweißüberströmt, ausgezehrt und glückselig grinsend auf der Bühne zusammenbricht.
Zwei Jungs im Stadium der Vorpubertät spielen im Hinterhof des Hauses: Sie knallen einen schweren Fußball mit giftigen Tritten immer wieder gegen die scheppernde Garagentür, sie fahren sich mit kleinen eleganten Aluminiumrollern vor der Nase herum und schreien dabei im höchsten Diskant Bruchstücke von Schlagerrefrains oder obszöne Wortspiele, der eine, der herrische, herrscht den anderen, den servilen, im Befehlston an („Bring das jetzt zum Müll!“, „Fahr schneller!“, „Aus dem Weg!“) oder ruft imperativisch bloß ununterbrochen seinen Namen. Der Hof ist klein, ringsum Gebäude, alles hallt wider, keiner stört sich daran.
Am späten Abend steht das große Doppelfenster der Wohnung im ersten Stock weit offen, Gestalten junger wirrmähniger Männer mit nackten tätowierten Oberkörpern tauchen darin auf, brutale Klänge subhumaner punkartiger Live-Musik brausen durch die Luft, durchschüttern den ganzen Straßenzug, immer wieder lehnt sich einer der Trommler, Bongospieler oder Gitarristen weit aus dem Fenster und brüllt wie am Spieß aus Leibeskräften seinen Refrain in die Nacht. Dann legen sich wieder die elektrischen Sägen der Gitarren an den Gehörnerv. Das Spektakel dauert Stunden. Da wohnen alte Leute, da wohnen Menschen, die den Schlaf dringend brauchen, weil sie morgens früh zur Arbeit gehen, da wohnen kranke Alte, da liegt vielleicht im Haus nebenan ein Mensch im Sterben. Keiner stört sich daran, kein Prostest erhebt sich.
Auf der kleinen Grünfläche hinter dem Haus wird gegrillt, beißende, stinkende Rauchschwaden ziehen durch die offenen Fenster des heißen Sommerabends. Gläser klirren, Hochrufe erschallen, martialische Gesänge werden angestimmt, dann brechen aus den aufgebauten Lautsprechern die Gassenhauer des Rock und Pop. Erst wenn der Morgen graut, ebben die Stimmen ab.
Auf dem Fluß rasen getunte Motorboote. Sie zerschneiden, zerfurchen, zerfräsen die stille, glatte Fläche des Wassers. Sie gefallen sich darin, von leiser Gangart auf Höchstgeschwindigkeit zu beschleunigen, Wellen zu schlagen, daß Schilf und Röhricht am Ufer sich biegen, da hat etlichen Fischen ihr letztes Stündlein geschlagen, da fliegen vor Schreck die Enten auf, während die junge Schar den Eltern verzweifelt nachfiept. Jeder will den anderen übertreffen, an Lärm, an Schnelligkeit, an der sexistischen Exposition der halbnackten Weiber, die auf dem Vorderdeck sich in geilen Posen recken. Doch der eine ist unübertrefflich, ein bullig-kompaktes Gerät, das scharfe Kurven meistert, immer nahe daran, zu kentern oder sich zu überschlagen, es jault auf und dröhnt und heult wie eine Hyäne, das Kielwasser schäumt, und am Hintern der Lärmmaschine steigt eine künstlich erzeugte Fontäne hoch in die Luft, wie eine unversiegliche Ejakulation.
Ein Weib schreit stundenlang bei offenem Fenster an einem pornographischen Spieß. In kurzen Atempausen dringt ein Knallen und Klatschen wie von Peitschen nach draußen, als würde das Gesäß einer alten, aufgedunsenen Venus malträtiert.
Im Untergeschoß hat sich eine dubiose asiatische Sekte einquartiert. Wenn sich die Gemeindeglieder versammeln, ertönt dunkles Gemurmel, aus dem bald die hohen Spitzen verzückter Ausrufe und gellender Interjektionen einer Naherwartung aufsteigen, endlich fährt im silbernen Rolls Royce der Guru vor, blumenbehangene Mädchen begrüßen ihn, betritt er den Saal, ist das Toben und Schreien und Kreischen auf dem Höhepunkt, die grollende Baßstimme des Gurus, die aus den Lautsprechern schallt, durchzuckt die Ekstase der Genarrten wie ein Gewitter. Alle sind gut angezogen, wohlgenährt, die Frauen tragen elegante Tücher. Welchen Götzen beten sie an? Wessen Geld und Vermögen wird hier unproduktiv verausgabt? Keiner kümmert sich darum, in diesem Wurmfortsatz des christlichen Abendlandes.
Unter der inspirierenden Einwirkung des Schmerzes, den um den erigierten Penis geschnürte Bänder mit Versen ihres Propheten verursachen, brüllen die Kämpfer ihren Gottesschlachtruf und jagen mit einem Endzeitknall sich und ihre Opfer ringsum in die Luft.
Die dritte Quelle des menschlichen Unglücks ist metaphysischer Natur. Sie strömt und gluckst aus dem Zentrum der Ursünde oder der gefallenen und verdorbenen Natur, der tiefen Verstörung und Traumatisierung der elementaren Antriebe und Wünsche, die kein Maß finden, keine Vernunft annehmen, jedweder Würde ermangeln. Wir pflegen hochmütig Verstörungen und Irrungen dieser Art in der Sprache der Biologie, Psychiatrie oder Chemie auszudrücken und reden vom Wirken der Neurotransmitter und Hormone, aber wir mystifizieren vielleicht auf diese aufgeklärte Weise die verborgene Wahrheit.
Die wesentlichen Symptome der Krankheit, die diese Form des menschlichen Unglücks mit sich bringt, sind Angst und Langeweile: Angst im Bewußtsein der eigenen Existenz und Langeweile angesichts der letzthinnigen Sinnlosigkeit des eigenen Tuns. Angst und Langeweile sind zwei Seiten einer Münze: Wird die Angst mittels künstlicher Erregung wie durch das Ausloten aller Arten sexueller Perversion, durch Drogen und Rausch oder auf scheinbar sublime Weise durch Kunsterzeugung und Kunstgenuß betäubt oder mittels teuflischer Exzesse und Unternehmungen wie Terror und Krieg erschöpft, stellen bald sich Langeweile und Überdruß ein, der beste Nährboden der Angst.
Der von der Angst heimgesuchte Paranoiker ist besessen von den möglichen Gefahren, die seiner Existenz drohen, den Schatten, die um ihn lauern, den tückischen Anschlägen, die ihm gelten, den dämonischen Attacken, die seine Gedanken ablenken, verdrehen, umkehren oder seine Träume heimsuchen, den Dämonen in Form von Viren und Mikroorganismen, die im Innern seiner Organe lauern und an der Substanz des eigenen Fleisches nagen.
Der von der Langeweile heimgesuchte Melancholiker ist besessen von den Abgründen, Löchern und Wirbeln, die sich ihm unentwegt im Fluß der Zeit und der Ereignisse auftun: Immer ist da ein Spalt, ein schmutziger Winkel, eine abgebrochene Spitze, die alles Tun und Wirken unterminieren und von jedem Sinn und Zweck entleeren. Wie die Löcher der leeren Zeit, aus der einen die Langeweile angähnt, stopfen? Der Primitive macht es vor und stellt das Modell: Er opfert seine eigenen Kinder dem Götzen der Angst und Langeweile, dem Baal – doch dieser ist unersättlich. Die moderne Variante des Modells: Theorien und Ideologien zur Vernichtung der Menschheit, die sich als Theorien und Ideologien über die Befreiung, Verbrüderung und Erlösung der Menschheit verkleiden.
Die erste Quelle des menschlichen Unglücks, die moralische, kann durch gute Lebensführung, Anständigkeit und das Bemühen um gute Taten teilweise in harmlose Gefilde abgeleitet, doch nicht trockengelegt werden. Die zweite Quelle, die anthropologische, ist therapieresistent, geht sie doch aus der biologischen Natur des Menschen hervor; zudem enthüllt sie näherem Hinsehen einen Zustrom aus der dritten Quelle des Elends, der metaphysischen, und diese ist a fortiori unheilbar und trotzt allen Therapieversuchen. Es ist ähnlich wie mit der Radikalkur der bösen Triebhaftigkeit des männlichen Geschlechts: Kastriert man den Kerl, wird er schlaff, antriebslos, lebensunfähig und ein stumpfsinnig herumhängender, unnützer Sack.
Die ihre letzte Hoffnung auf die Aufhebung des metaphysischen Elends an das Kommen des Messias knüpfen, sehen insofern ziemlich klar – wenn auch die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines solchen Heilsereignisses umgekehrt proportional zur Intensität des Wunsches nach dem Glück der Auserwählten zu sein scheint.