Gastlichkeit
Anmerkungen zur Semantik eines institutionellen Begriffs
Zusammenfassung:
Die Semantik des institutionellen Begriffs „Gastlichkeit“ und seine Anwendung im Sprachgebrauch weisen die für institutionelle Begriffe überhaupt typischen Merkmale auf: weder subjektiv noch objektiv zu sein, trotz des Anscheins keine rein konstatierende oder deskriptive Anwendung zuzulassen, sondern eine performative Sprachverwendung zu fordern, was sich im systematischen Unterschied der Identitätsmerkmale sowie der Anwendungs- und Erfüllungsbedingungen deskriptiver und performativer Begriffe bestimmen läßt. Zugespitzt sagen wir, ein Gast ist ein Mensch nicht aufgrund von Identitätsmerkmalen physischer und psychischer Natur, wie etwas aufgrund deskriptiver Merkmale eine Blume oder ein Fisch ist, etwas aus Wasser oder aus Holz besteht, jemand ein Mann oder eine Frau, ein Kind oder ein Greis ist, jemand fröhlich singt oder traurig den Kopf hängen läßt – dagegen ist jemand ein Gast, wenn er als Gast zu einem gastlichen Aufenthalt bei einem Gastmahl oder einer Feier eingeladen worden ist. Ähnlich wie ein Freund nur Freund ist, wenn es einen anderen gibt, der sein Freund ist und ihn als solchen ansieht und benennt, so ist jemand ein Gast, wenn es einen Gastgeber gibt, der ihn einlädt, und andere Gäste, die ihn als solchen begrüßen und ansehen.
Hier dürfen wir allerdings nicht in den trivialen und verbreiteten Fehler der Soziologen verfallen (der gleichsam zur Modephilosophie oder medialen Weltanschauung abgesunken ist) und die institutionellen Begriffe als bloße soziale Konstruktionen betrachten: Institutionelle Begriffe konstituieren in der Tat den Gegenstand, den sie benennen, indes implizieren sie Regeln ihrer Anwendung, die keineswegs ins Belieben der Sprecher gestellt sind, sondern ihnen ein bestimmtes Verhalten und Reagieren aufzwingen oder abverlangen. Insofern ähneln sie den Spielen (oder Sprachspielen Wittgensteins), die Erfindungen menschlichen Witzes und menschlicher Spielfreude sind, aber einmal in die Welt gesetzt Regeln ihrer Verwendung implizieren, gegen die zu verstoßen bedeutet, das jeweilige Spiel nicht korrekt oder überhaupt nicht zu spielen.
So ist Freundschaft eine symmetrische Relation, die nur in der reziproken Anwendung derjenigen Geltung hat, die sich Freunde nennen; andererseits ist es ein ungeschriebenes Gesetz der Freundschaft, Wort zu halten und gegebene Versprechen (es sei denn aus Not oder entschuldbaren triftigen Gründen) nicht zu brechen, sondern einzuhalten. Gastlichkeit ist ein nicht symmetrischer Relationsbegriff, insofern einer Gast nur ist, wenn er von einem Gastgeber eingeladen wurde (wer sich selbst einlädt, bekommt die Folgen seines ungehörigen Verhaltens alsbald zu spüren), indes impliziert die institutionelle Tatsache, ein Gast zu sein, das Einhalten gewisser ungeschriebener Regeln und Gesetze der Gastfreundschaft (die der alte Begriff der Sitte oder Sittlichkeit umschrieb), in erster Linie, die Rangordnung oder Hierarchie einer jeden Gastlichkeit zu beachten: Der Gast bedankt sich durch bestimmte Handlungen oder Gesten wie Geschenke und Präsente für die Einladung, der Gastgeber nimmt Dank und Präsente entgegen; ein Gastgeschenk muß den Gesetzen symbolischen Austausches gehorchen, das heißt, es darf in seiner Art und seinem Aufwand das Ansehen und das Prestige des Gastgebers weder übersteigen noch in seinem Schatten stehen, wie wenn jemand seinen Gastgeber, einen einfachen Mann, mit einer goldenen oder mit einem Diamanten verzierten Agraffe „überrascht“ oder seinen Gastgeber, einen angesehen Gelehrten, mit dem Geschenk eines Trivialromans düpiert, es darf aber auch dem Ansehen und Prestige des Gastes nicht unangemessen sein, wie wenn ein subalterner Beamter die Frau seines Gastgebers mit einer Brosche beschenkt, deren Wert sein Salär weit übertrifft.
Die Grundunterscheidung, die Gastlichkeit allererst zu der Institution hierarchischen Charakters macht, die sie ist, findet gleichsam auf der Schwelle des einladenden Hauses statt: ja oder nein, rein oder raus, zugehörig oder nicht zugehörig, eine Selektion der Gäste gemäß der Legitimation ihrer Zugehörigkeit „chez nous“ mittels ihrer Einladungskarten. Natürlich kann man Karten fälschen und Legitimationen vortäuschen und erschleichen – was jederzeit von einem gewissen üblen Menschenschlag praktiziert wird, der gern auf Kosten anderer lebt, und wo einer großzügig einlädt und austeilt, wollen sie sich unter die Gäste mischen. Solcher leidigen Mitesser habhaft zu werden, ist ein Dienst am Wohl der echten Gäste und aller, die mit ihrer Produktivität dazu beigetragen haben, daß es Reichtum die Fülle gibt, so daß den dafür Auserwählten zufließen kann.
Die ganze Semantik institutioneller Begriffe verbirgt sich im „chez nous“, in der sprachlich-begrifflichen Institution des Wir, gleichsam der Meta-Institution an sich. Wir gehören zu den Gästen dieses Abends, weil wir allesamt vom Gastgeber eingeladen worden sind; daß wir und nicht andere eine Einladung erhalten haben, geht auf die Präferenzen des Gastgebers zurück, die wiederum eine Funktion seines Ansehens und Prestiges, seiner beruflichen und sozialen Stellung, kurz seiner Gruppenzugehörigkeiten, darstellen. Ist er ein Musiker, wird es von Instrumentalisten und Sängern unter den Gästen nur so wimmeln; ist er ein Priester, liegen andächtige Zurückhaltung und ein feiner Weihrauchschwaden in der Luft. Wir bilden das Wir der Festgemeinde, weil wir dazu ausersehen wurden; doch zugleich bindet uns diese flüchtige Institution an gewisse Regeln und Vorschriften des Benehmens, der Etikette und der Sitte (tradierter Gepflogenheiten des körperlichen und sprachlichen Ausdrucks und der Kommunikation), die nicht in unser Belieben gestellt sind, die zu mißachten oder zu übertreten vielmehr mit Sanktionen behaftet ist, die bis zur Rüge und öffentlichen Bloßstellung, ja zum vorläufigen oder endgültigen Ausschluß aus dem „chez nous“, dem institutionellen Wir, reichen können.
Institutionelle Begriffe implizieren Ordnungen ritueller und symbolischer Natur, die zwar starkem Wandlungsdruck ausgesetzt sind, aber nur bei gänzlicher Auflösung der Bedeutung des jeweiligen Begriffs auf ihren Nullwert schrumpfen: So impliziert Gastlichkeit rituelle und symbolische Ordnungen, die sich in der inszenierenden oder theatralischen Aufführungspraxis von Festlichkeiten und Gastmählern vom Empfang der Gäste über den rituellen Ablauf der Mahlzeiten bis zum Höhepunkt der Rede des Gastgebers oder eines Ehrengastes und der mehr oder weniger feierlichen Verabschiedung zeigen, aber sich auch in der Wahl der Kleidung, in der Sitzordnung, in den Gesprächsthemen und ihrer sprachlichen Diktion (ihrem Sprachniveau) oder in der Art und Qualität der unterhaltsamen Darbietungen bei der Feier niederschlagen.
Eine Auflösung oder parodistische Umkehrung der Ordnung und der rituellen und symbolischen Gesetze der Gastlichkeit finden wir in den burlesken Feiern des Karnevals, die aber voraussetzen, was sie parodieren, oder in literarischen Fiktionen wie dem „Gastmahl des Trimalchio“ des Petronius, in dem die altrömischen institutionellen Werte und Begriffe der Virtus, des Anstands, der Sittsamkeit in einem wüsten Exzeß obszöner und irrwitziger Übertreibung und Übersteigerung das Zeitliche segnen; und dennoch entwirft der geistreiche Schriftsteller Petronius für diese Umkehrung eigene Formen ritueller und symbolischer Ordnungen, die den Bogen bis zur grotesken rituellen Scheinbeerdigung des Gastgebers auf seiner eigenen Feier spannen.
Gastlichkeit und Gastfreundschaft sind institutionelle Begriffe, die sehr verbreitete soziale Gepflogenheiten benennen. Ihre semantischen Implikationen sind weitreichend und verwickelt, aber ihre semantische Grundform ist überschaubar.
Einer lädt sich Gäste ein, und dies aus unterschiedlichsten Beweggründen: Es gilt ein Fest wie einen Geburtstag oder ein Jubiläum zu feiern, er spielt den spendablen Gastgeber, um sein Prestige als großzügigen Lebemann oder Gesellschaftslöwen zu überhöhen, einer sucht sich unterhaltsame Gäste, um auf kurzweilige Art seine Langeweile zu zerstreuen.
Die institutionelle Hierarchie, auf die wir zunächst und gleichsam auf der Schwelle des Gastmahls oder der Party treffen, begründet der Unterschied von Gastgeber und Gast – wobei der Gastgeber ein Privatmann oder der Repräsentant einer gesellschaftlichen Einrichtung wie eines Vereins, eines Unternehmens, einer Behörde oder Bildungseinrichtung sein kann.
Die Hierarchie oder Rangordnung zwischen Gastgeber und Gast ist dem institutionellen Begriff der Gastlichkeit gleichsam einbeschrieben, inhärent oder implizit. Zu wissen, daß man, hat man einmal die Schwelle des Gasthauses überschritten, dem Gastgeber (und seiner Gattin) zu besonderer Ehrerbietung und Aufmerksamkeit verpflichtet ist, gehört zu jener Art des Wissens, die wir allen institutionellen Begriffen zuschreiben: dem impliziten Wissen.
Ehrerbietung oder Achtung ist eine Funktion kontrollierter und dosierter Aufmerksamkeit: Alle Blicke richten sich auf den Gastgeber, der in der Mitte der Runde oder am Kopfende des Tisches sitzt, wenn er die Begrüßungs- und Dankesworte sagt und das Glas zum Begrüßungstrunk erhebt oder den Toast auf den Ehrengast spricht, der zu seiner Rechten sitzt. Kurz: Wer am meisten und intensivsten und längsten angeblickt wird, steht in der Hierarchie oben und verdient die höchste Achtung.
Die Rangordnung zwischen Gastgeber und Gast zeigt sich ebenso in der Auslese und Auswahl der Gäste: Der Gastgeber nimmt das souveräne Recht in Anspruch diejenigen einzuladen, die seinen Auswahlkriterien nach Würdigkeit und Wert, nach faktischer oder symbolischer Nähe entsprechen, allen voran die eigenen Verwandten, die Freunde sowie achtbare, einflußreiche oder unterhaltsame Zeitgenossen. Wer nicht oder nicht mehr eingeladen wird, darf dies als starken Hinweis verstehen, durch den Raster der Auslese gefallen zu sein und zu denjenigen gezählt zu werden, die der Ehre der Teilnahme an der Feier nicht oder nicht mehr gewürdigt werden – eine Form der Stigmatisierung, die je nach der sozialen Stellung des Gastgebers und seines Prestiges und der mehr oder weniger fragilen sozialen Position des Ausgeladenen weitreichende Folgen für den Ausgestoßenen haben kann.
Der Ausgeladene kann, soweit es in seiner Macht steht, Revanche üben und dafür Sorge tragen, durch geschicktes Intrigieren und Antichambrieren von einem anderen Gastgeber eingeladen zu werden, dessen Ansehen zumindest dem des abtrünnig gewordenen gleichrangig, wenn nicht gar überlegen ist.
Wir finden reichlichen Stoff zur Illustrierung dieser kleinen Analyse in der geistreichen und anschaulichen Schilderung der Rivalitäten der Pariser Salons, wie sie uns Marcel Proust in seinem Romanzyklus vor Augen stellt. Das Stichwort bei Proust heißt „chez nous“ und plaudert das ganze Geheimnis des institutionellen Begriffs aus, um den es uns hier geht.
Wir machen die interessante Beobachtung, daß sich die Hierarchien verschiedener institutioneller Begriffe überlagern, kreuzen und teilweise aufheben können: Wenn der Gastgeber seinen Chef und Arbeitgeber eingeladen hat, ist dieser auf Zeit, die Zeit der Feier, unter den Rang des sozial Untergebenen gerückt: Er sitzt neben ihm, aber nicht am Kopfende des Tisches, er spricht nicht das erste Wort, sondern höchstens das zweite, wenn er auf den Trinkspruch des Gastgebers antwortet.
Wir machen uns die Implikationen der Institution Gastlichkeit und insbesondere die symbolische Bedeutung der Tischordnung klar, wenn wir beispielsweise die Tatsache beachten, daß einer der größten Dichter deutscher Sprache, Friedrich Hölderlin, über viele Jahre seines Lebens auf die Gastlichkeit seiner Brotherren angewiesen war, bei denen er sich als Hofmeister oder Privat- und Hauslehrer ihrer Zöglinge verdingen mußte: Dazu gehörte auch, nicht am Tisch des Gastgebers und seiner Gattin und ihrer Kinder speisen zu dürfen, sondern sein Essen gemeinsam mit den Mägden und Bediensteten des Hauses in der Küche einnehmen zu müssen. Daß sich Hölderlin deswegen in seinem angeborenen Stolz gedemütigt und in seiner Selbstherrlichkeit gekränkt fühlte, entnehmen wir Briefen wie diesem an seine Mutter:
„Aber der unhöfliche Stolz, die geflissentliche tägliche Herabwürdigung aller Wissenschaft und aller Bildung, die Äußerungen, dass die Hofmeister auch Bedienten wären, dass sie nichts besonders für sich fordern könnten, weil man sie für das bezahle, was sie thäten, (…) das kränkte mich, so sehr ich suchte, mich darüber weg zu setzen, doch immer mehr und gab mir manchmal einen stillen Ärger, der für Leib und Seele niemals gut ist.” (Friedrich Hölderlin an seine Mutter, 10.10.1798, StA 6,1 S. 283)
Wir dürfen indes fragen, ob sich wahre Seelengröße nicht in der Gleichgültigkeit und Indifferenz gegen solche symbolischen Rangordnungen kundgetan hätte. Was ist gegen die anregende Gesellschaft von Mägden, Köchinnen und Knechten einzuwenden, aus deren Mund ein Dichter nicht weniger echte Lebenszeugnisse erfahren mag als von den faden und gestelzten Konversationen der Herrschaft?
Eine umgekehrte Lage finden wir in den Nachrichten über das widerborstige Auftreten des nicht weniger stolzen Philosophen Ludwig Wittgenstein, der sich schon mit seiner legeren Kleidung gegenüber den steifen Kragen seiner professoralen Kollegen absetzte: Ihm wird nachgesagt, er habe es im Speisesaal seines Campus zu Cambridge, in dem die Professorenschaft auf einem erhöhten Podium ihr Essen einzunehmen pflegte, demonstrativ vorgezogen, sich bei den – im wahrsten Sinne des Wortes – rangniederen Tischen der Studenten Platz zu nehmen.
Auch hier dürfen wir fragen, ob sich wahre Seelengröße nicht in der Gleichgültigkeit und Indifferenz gegen solche symbolischen Rangordnungen kundgetan hätte. Das Gerede hochnäsig-blasierter Studenten aus besseren Kreisen über Sportchampions und ihr Gesellschaftklatsch muß nicht anregender sein als das geistreiche Geplauder über Literatur und der Universitätsklatsch der Kollegen.
Kehren wir zu unserer kleinen Analyse zurück, mit der wir zeigen wollen, daß das meiste, was wir über die menschlichen Angelegenheiten wissen können, dem impliziten Wissen zu entnehmen ist, das der Anwendung institutioneller Begriffe wie der Anwendung des Begriffs der Gastlichkeit zugrundeliegt.
Wer uneingeladen sich mit List oder roher Gewalt Zutritt zu einem Gastmahl verschafft, gilt uns rechtens als Schmarotzer oder parasitärer Eindringling, der von den Bodyguards oder dem Wachpersonal des Gastgebers am Schlafittchen gepackt und vor die Tür gesetzt gehört. Dagegen ist der Intrigant und Hochstapler, der sich den Zutritt mittels geschickter Vortäuschung angemaßter Zugehörigkeit zur Gesellschaft erschwindelt, von anderem, sprich komödiantisch-raffiniertem Kaliber. In Kleidung und Gehabe, in sprachlichem Niveau und Mienenspiel, mit Witz und Geistesblitz bietet er eine Mimikry, deren Kunstfertigkeit beinahe das Verweilen am ungehörigen Ort zu rechtfertigen scheint.
Der Zweck der Geselligkeit gibt die rituellen Ordnungen vor, denen sich die Gäste anzubequemen haben. Diese Ordnungen betreffen die Kleidung, die Art und den Aufwand der mitgebrachten Geschenke, die Sitzordnung, die Themen der Gespräche bei und nach Tisch, das sprachliche Niveau oder die Arten der Unterhaltung, von musikalischen und gesanglichen Darbietungen über theatralische Einlagen bis zum Tanzvergnügen.
Der Dame des Hauses gebührt besondere Aufmerksamkeit, sie ist zuerst zu begrüßen und mit einem Präsent, meist einem Blumenstrauß, zu erfreuen. Die Auswahl der zu Gehör gebrachten Musikstücke oder gesanglichen Darbietungen spiegelt natürlich den Geschmack der Gastgeber wider. Es versteht sich, daß die karierte Jacke und grelle Krawatte nebst drolligem Hütchen, die dem Silvesterfest gut anstehen, auf der Beerdigungsfeier fehl am Platze sind. Die allem Schönen zugetane, dazu wohl parfümierte und großzügig dekolletierte Dame zur Rechten mit schaurigen Details aus der Anatomie zu entgeistern oder den Pfarrer oder die Nonne zur Linken mit obszönen Witzen und schlüpfrigen Anekdoten erheitern zu wollen, verbietet sich ebenso, wie die Ohren der Hinterbliebenen mit deftigen Histörchen und frivolen Anspielungen auf die Schattenseiten im Leben des Dahingeschiedenen zu kitzeln.
Es ist auch unschicklich, den Vortrag des Ehrengastes, eines Honorarprofessors in Alter Geschichte, der sich langatmig über die Damenmode zur Zeit des frühen Kaisertums ergeht, aus der ersten Reihe mit lautem Gähnen zu quittieren; ebenso ist davon abzuraten mitzusummen, wenn die Gastgeberin in der Wiedergabe eines geistlichen Lieds von Brahms dilettiert; geschweige denn dem Wein in einem Maße zuzusprechen, daß die Zunge mehr preisgibt, als der brummende Kopf und das lädierte Gewissen am nächsten Tage sich eingestehen mögen.
Auch sollte der subalterne Beamte der Gattin des Vorgesetzten nicht mit einem Geschenk aufwarten, das sein Salär offensichtlich übersteigt, für ein unterwegs ausgerupftes Maiglöckchen ruft man nicht flugs nach der Vase. Das Geschenk, folgern wir, soll das Ansehen und das Prestige des Beschenkten an symbolischer Kraft weder ausstechen noch ganz in ihrem Schatten stehen.
Körperliche Nähe ist eine symbolisch hochsensible Interaktion, die im Falle der Gastlichkeit meist rituell geordnet und eingehegt ist: Händeschütteln geht, ein Luftkuß auf die Wange der Hausdame ist nicht ungern gesehen, aber dem Gastgeber oder dem Ehrengast, der nach seiner Festrede wieder Platz genommen hat, jovial auf die Schulter zu klopfen, ist in den meisten Umgebungen gastlicher Natur fehl am Platze.
Wir kennen am fastnächtlichen Rhein die komisch-burleske Umkehrung und Parodie auf die Institution der Gastlichkeit, wenn die Gäste eigens eingeladen sind, sich über den Gastgeber lustig zu machen, Komödiant und Clown den Weisen mimen, der es den hohen Herren unter die Nase reibt, daß bei ihnen auch unter den Teppich gekehrt wird oder Leichen im Keller versteckt sind, die beleibte Gattin des subalternen Beamten ihren wogenden Busen mit falschen Klunkern beschwert und der ewige Student einen Doktorhut trägt – bis Gehabe, Anstand und sprachliches Niveau unter den girrenden Jubelrufen des Weingottes sich gerade noch vor dem Absaufen in die schwappenden Lachen der Obszönität zu halten wissen oder auch geradewegs darin ertrinken.
Wir haben im „Gastmahl des Trimalchio“ des Petronius ein literarisches Zeugnis von der Parodie der römischen Sitten der Gastlichkeit, hinter deren gekünstelter Derbheit und gespielter Vulgarität alle Ausgelassenheit rheinischen Karnevals verblaßt. Der Gastgeber ist alles andere als ein würdiger Vir romanus und Pater familias, sondern ein aufgedunsener, über die Maßen aufgeblasener Neureicher, der seine Gäste mit der scheckigen Darreichung üppigster, einander an Ungenießbarkeit übertreffender Mahlzeiten, absurder Artistik und ausgefallener Schamlosigkeiten zu delektieren vermeint, abgesehen von seiner faselnden, ins verfilzte Kraut schießenden Rhetorik, mit deren Hilfe er ein abgrundtiefes Loch von Unbildung mit dem warmen Urin seiner rhetorischen Inkontinenz zu füllen sucht.
Parodie, Verwilderung, pervertierte Umkehrung, Barbarismen, hyperbolischer Ausdruck, Maßlosigkeit der Mittel und Zwecke – diese und andere Stilmittel bietet der Sprachmeister Petronius auf, um für uns gleichsam die ins Bodenlose reichende Unterseite des institutionellen Begriffs der Gastlichkeit ans grelle Licht zu heben.
So werden wir über die sittlichen Grundlagen der von uns anzuwendenden institutionellen Begriffe belehrt: Sie dienen der Aufstellung und Aufrechterhaltung sozialer Ordnungen auf Zeit (wie ein Festmahl) oder Dauer (wie die Freundschaft), sie haben hierarchische Strukturen als Erfüllungsbedingungen – so kommt es im Falle der Gastlichkeit darauf an zu sehen, wer mit welchem sozialen Rang und Prestige zu welchem sozialen Zweck der Distinktion und Rangunterscheidung wen einlädt, wen nicht einlädt, wen auslädt oder wen hinauskomplimentieren läßt.
Wir nehmen auch zur Kenntnis, daß soziale Ordnungssysteme wie die Gastlichkeit nicht eines Mindestmaßes an theatralischen Mitteln und inszenierender Fähigkeiten ermangeln dürfen: So sind Gastmähler und Feste eine Art Aufführung, die im Empfang, in der Eröffnung, im Hauptteil mit den verschiedenen Gängen einer Mahlzeit und der Reihenfolge unterhaltender Darbietungen, schließlich dem Höhepunkt der Festrede oder der Übergabe eines Preises an den Ehrengast (erst spielt das Streichquartett einen Satz, dann erfolgt die Rede, hernach kommt ein anderer Satz zu Gehör) sowie der feierlichen Verabschiedung einem mehr oder weniger festgelegten rituellen Regime folgen.