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Feb 20 25

Umwölkt von Veilchenduft

Die Steifen lockern sich und lachen.
Ein Hündchen hat gebellt,
ein Spatz ist durch das Kirchenschiff geschnellt.
Wie Reime manchen toten Docht entfachen.

*

„In deine Träne laß mich ein,
ein Salzkorn, hin und weg zu tauen.“
„Ein Spiegel nur kann ich dir sein,
in meinem Auge deins zu schauen.“

*

Im Traume klappern Holzpantinen,
ein Kimono fließt, Zehen wippen.
Aus Wachs sind hier der Liebe Mienen,
sie schmelzen nicht an Traumes Lippen.

*

„Den Becher heb an deinen Mund,
worin ich meinen Herbst gegossen
von Trauben, wie ein Wehlaut rund.“
„Den Kuß, der kühlt, fühl auf der Stirn,
den Enzian, dem Schnee entsprossen,
als aufgetaut mein Hauch den Firn.“

*

Dem Seufzen, Keuchen, dumpfen Stöhnen,
gedrungen aus der Hadeskluft,
entwand ein selig-süßes Tönen
der Gott, umwölkt von Veilchenduft.

 

Feb 19 25

Die letzte Reise

Wenn was ihm Heimat gab verblaßt, verweht,
die Knospen, unter Eos Hauch entzündet,
ihr Duft, der sein Gemüt genährt, entschwindet,
fragt keins, wohin der stumme Dichter geht.

Ward ihm zum Karst der Garten, und das Wort
erstickt vom geilen Speicheln fremder Zungen,
von Fäulnisgasen übertäubt die Lungen,
ein Pilgrim ohne Muschel zieht er fort.

Ins Traumland wandert er, wo Hund und Hirten
am Feuer lagern und den Ausgebrannten
mit froher Glut und süßer Milch bewirten.

Dem aus der Muttersprache schnöd Verbannten
erbebt die Lippe schon von frühen Weisen.
Zu Hirten des Vergil magst, Dichter, du noch reisen.

 

Feb 18 25

Aus der Hadeskluft

Dämonisch, ein Waran, sein Kuß ist Tod,
die Jungen flüchten, kaum entschlüpft der Schale,
vor ihrer Mutter, Monstrum, Kannibale.
Solch Graun erweicht kein Hauch, kein Abendrot.

Aus Tiefen steigt Kolonos Götterhain,
wo seherisch, der sich geblendet, lauschte,
Gesang der Nachtigall, Laub, das sanft rauschte,
als tränke Charis ihn mit goldnem Wein.

Wir aber tasten seelenblind ins Leere,
und hören fern wir Edens Quellen singen,
ist es, als ob uns dunkle Glut verzehre,

unstillbar züngelnd Flammen uns verschlingen.
Wir flehen aus der Hadeskluft vergebens:
„Träuf, Lazarus, uns Tropfen wahren Lebens!“

 

Feb 17 25

Die Endzeituhren ticken

Die Wolken fließen weich wie Traumgebilde,
doch wenn sie Sturmes Klauen blindlings rupfen,
siehst Flocken du noch, milchig-schäumend Tupfen,
und wieder blaut der Schlaf des Himmels milde.

Es war dir, ferner Gärten Wasser quillen,
und Flüstern wob durchs Dunkel Silberfäden.
Steh auf und mach sie dicht, die Fensterläden,
das tiefe Weh, sie können es nicht stillen.

Verweigre dich dem Flammenkuß der Rose,
kühl, Dichter, deine Stirn am Veilchentau,
verstumm vor scheuen Lippen der Mimose.

Hüll dich ins Tuch aus dunklem Jenseitsblau,
mag Nacht darein auch Inseln Lichtes sticken,
lieg still und hör die Endzeituhren ticken.

 

Feb 16 25

Rettung für die Autochthonen

Flucht nur wär Rettung für die Autochthonen,
die hellen, vor den Dunklen, den Barbaren,
die in den längst entstellten Marken wohnen,
vor tückisch-milden auch, Verräterscharen,

am Blut der Mutter saugend, Parasiten,
die ihren faden Geist mit Phrasen würzen,
aus der zerfressnen Galle Wahn geglitten.
Sie werden, stirbt der Wirt, ins Leere stürzen.

Wohin? Sie reisen schon, die Wehmutkranken,
gen Nord, zu Sterngeschwistern, Rentierlappen,
dort bauen, unter Birken, heiter-schlanken,

sie Hütten, krönen sie mit Eichlaubwappen.
Sie retten sie, die Sprache aus dem Sumpfe,
wo Geister an ihr nagen, wurmblind-dumpfe.

 

Feb 15 25

Nur wenig Grün

Nur wenig Grün blieb, müden Lebens Licht,
uns, deren Herzen lange schon ergrauten,
es gleicht dem Moos, an dem Kristalle tauten,
auf einem Mal, das auseinanderbricht.

Getrübtem Aug verschwimmt die hohe Schrift,
ihm wollen zwischen Namen, frommen Siegeln
sich Wasser namenloser Tiefen spiegeln,
wo fahler Strahl auf Asphodelen trifft.

Und pflückst halbblind du ärmlich-dürre Halme
auf Karsten, Dichter, längst versteinter Worte,
sie geben dir den Duft nicht mehr zum Psalme.

Sink nieder auf die Schwelle jener Pforte,
wo hoffend du hast angeklopft – vergebens.
O dürftiges, o Grün des müden Lebens.

 

Feb 14 25

Pilger durch die Dunkelheiten

Den Augen, Pilgern durch die Dunkelheiten,
als glimme fremder Sterne Licht im Spiegel,
als wär gelöst verschwiegner Liebe Siegel,
ließ feuchter Schimmer die Pupillen weiten.

Grün glänzt die Schneide von zerbrochnem Glase.
Wie rote Blüten auf im Staub gegangen,
wie Tupfen Rouge auf eingefallnen Wangen,
Blutstropfen sind’s. Tot liegt ein Weib im Grase.

Sag, Dichter, was du sehend klar empfunden.
Sind sie auch wirr, die Linien des Lebens,
und liegt ein Zwielicht auf den späten Stunden,

daß dir erscheinen fremd vertraute Zeichen,
du ziehst des Verses Furchen nicht vergebens,
wenn sie bis an den Saum der Urnacht reichen.

 

Feb 13 25

Die Feuer der Erde

Wo aber heller schäumte die Luft und blauer
die Himmelsapsis sich wölbte, gab sich die Erde,
erweckt vom schwarzen Flackern der Zypressen,
in süßeren Früchten.

Der Dichter schlief zwischen den Gräsern und hörte
im Traum die Wasser durchs Laub der Dämmerung rauschen,
den blanken Fuß des Götterbilds zu netzen
im dunkelnden Haine.

Uns sind entrückt, wie von den Blattern entstellt sind
die Bilder, trocken die Adern verwitterter Male,
und schabt wer ab den Schorf der Zeit, so sieht er
nur fahlende Fratzen.

Die Erde, zum Schweigen gebracht unter Asphalten,
staut auf, die an grimmigen Wurzeln entfachten, die Feuer.
Es werden die Schale des dumpfen Schlafs zerbrechen
gefräßige Flammen.

 

Feb 12 25

Zertrümmerte Aphroditen

Die greise Muse muß den Blick jetzt senken,
wenn tätowierter Phrasen Muskeln schwellen.
Die Anmut lernt vor schwarzer Mäuler Bellen
die sanften Glieder spastisch zu verrenken.

Verpönte Namen gleichen edlen Vasen,
woran obszön man schilt die runden Lenden.
Zertrümmert werden, die Plebejer blenden,
die Aphroditen unter Meerschaumgazen.

Die sich wie Ranken um die Säulen wanden,
Akanthusblätter, Weihtums First zu krönen,
der Hymnen hohe Atemrhythmen schwanden.

Hör, Dichter, auf im Angstverlies zu ächzen,
birg dich ins Schilf, mag Mondnacht dich versöhnen,
lausch Lethes Flut nach deiner Seele lechzen.

 

Feb 11 25

Flüstern wie von Ranken

Ein schattenhaftes Flüstern wie von Ranken
hat kaum gekühlt den stummen Schmerz der Wunden,
nur halb gefüllt die leeren Abendstunden,
wie Schaum die Muscheln, die mit Monden schwanken.
Was wir einmal als Schöpferwort empfunden,
ward schattenhaftes Flüstern wie von Ranken.

Und bat ich dich, den hellen Vers zu sagen,
die Knospe, die auf dunklem Teich geschwommen,
betaut von Tropfen, die im Frührot glommen,
hast du, als wär der Glanz nicht zu ertragen,
den Blick gesenkt, schwiegst wie ein Kind beklommen,
wenn ich dich bat, den hellen Vers zu sagen.

Es schwebt der Geist noch über grünen Wellen
an Ufern, wo ihm huldigen Narzissen.
Sind aber Dichter, die den Duft vermissen,
geheime Sonnen, trunkner Verse Schwellen,
führt sie die Nacht, von Blitzen aufgerissen,
zum Fruchtland, hold umspült von grünen Wellen.

 

Feb 10 25

Die alternde Kindfrau

Ein sanfter Strahl hat schon genügt, und feines
Lächeln, von dem sie selber nichts gewußt,
umspielte ihren weichen Mund.

Saß sie vorm Fenster, und es wehten Zweige
trunkne Schatten auf und nieder, beglänzte
Feuchte, der schon dunkelte, den Blick.

Hat ihr auch das Schicksal aufgebürdet
Scheite der Erinnerung, die Finger wie Fühler spreizend
trat sie lauschend auf den Saum der Nacht.

Das graue Haar rehbraun getönt, die blasse Wange
von zartem Rouge gehöht, blieb dunkle Glut,
die Sehnsucht kaum mehr schürt, das Herz.

„Wird nicht alles weniger“, so sprach sie öfters,
„wie das schimmernd trat hervor, das Bildnis
auf der Münze, abgegriffen vom Gebrauch?“

Ich sagte nichts, doch schmeckte Fadheit,
wie einer Frucht, die zuviel Sonne runzeln ließ,
und wässrig trieft der Lebenssaft.

„Die Namen auch, die Blüten süßen Dufts,
wir sahen nicht, daß Herbst sie wohl vergoldet
mit einem Licht, das Bitterkeit aus Pfützen trank.

Verschweigen wir, was unter Ranken uns geglüht,
der Wingert wurde aufgelassen,
ungekeltert blieb der stillen Hoffnung Wein.“

Ein sanfter Strahl hat schon genügt, und feines
Lächeln, von dem sie selber nichts gewußt,
umspielte ihren weichen Mund.

 

Feb 9 25

Ins Leere gleiten

Am Licht geprüft ergrünten Baumgedanken,
in Dunkelheit gekeimt, der Nacht entsprossen.
Das Dichterwort, von Rätselhauch umflossen,
weht ferne schon, ein Flüstern zarter Ranken.

Vom Blitz geweckt, dem Schlaf des Schnees entsprungen,
grub Wasser sich ein Bett, und Lefzen troffen.
Dem schien ein Pfad durchs Schilfgeseufz noch offen,
hat Melusines bleichen Mund besungen.

Wie die an heißen Stirnen schmelzen, Flocken,
sind nun der frühen Bilder Traumkristalle.
Das Flußbett unsres Fühlens, es fiel trocken.

Schon fault das Moos auf den zersägten Scheiten.
Daß von der Brust sich löse Dämons Kralle
und stumme Schatten wir ins Leere gleiten.

 

Feb 8 25

Im Schmerz bist du mir nah

Wie eine Frucht, am Gaumen aufgegangen,
und süßer Saft zerrinnt im dunklen Munde,
ist die Erinnerung an jene Stunde,
da süß in Südens Gärten Vögel sangen.

Wie jählings aufgeflattert sich die Hände
wie weiche Schalen eins ums andre schlossen.
Ein goldnes Licht war durch das Grün geflossen,
daß sich der Tag am Traum gestillt vollende.

Weilst du auch fern, im Schmerz bist du mir nah.
So steht am Fenster, der die müden Augen
ins Zwielicht taucht, als ob an Ästen, toten,

Orangen glühten, wie ich einst sie sah,
als mich verlangte, hellen Schlaf zu saugen,
und du den Mund mir recktest hin, den roten.

 

Feb 7 25

Die Taube und ich

Philosophische Aphorismen und Sentenzen

Die schöne Waldtaube, der ich täglich Sonnenkörner streue, kann ich von ihr sagen, daß sie auf dem Dach des Hinterhofgebäudes ruhig sitzend auf mich wartet, mich sieht, erkennt und wiedererkennt, wenn ich ans Fenster trete und es öffne, in demselben Sinne es sagen, wie ich sage, daß ich sie sehe, erkenne und an ihrer charakteristischen weißen Halsbinde wiedererkenne?

Die Taube kommt in der frühen Morgenstunde, sobald es hell wird. Erinnert sie sich daran, daß sie gestern auch hier war, vorgestern, vor einem Monat?

Kann sie voraussagen, vermuten, hoffen, daß ich bald wieder ans Fenster trete und ihr Körner streuen werde? Kann sie wünschen, daß es heute ein paar Körner mehr als gestern oder vorgestern sein werden?

Kann sie befürchten, daß ich heute nicht ans Fenster trete, und sollte dies der Fall sein, darüber spekulieren, warum es nicht geschah, und sich etwa fragen: „Vielleicht ist er verreist, krank oder am Ende gar gestorben.“

Kann sie sich sagen: „Da ist er wieder, dieser seltsame Mensch, der sich meiner annimmt, an mich denkt, mich nicht vergißt?“

Ich erkenne das Tier als diese bestimmte, einzigartige Taube. Ich weiß, was ein Tier ist, kenne diese und jene Arten und Gattungen von Tieren wie Schlangenartige und Kobras, Wolfsartige und Hunde, Vögel und Tauben, Hominiden und Menschen, und unter allen Menschen diesen einen, der ich selbst bin. Doch die Taube weiß nicht, daß ich ein Mensch bin, weiß nicht, daß sie eine Taube ist.

Etwas wissen heißt hier, es sagen können. Es nicht wissen heißt, es nicht sagen können. „Können“ hat hier einen semantisch-logischen, keinen nur physiologischen Sinn.

Ich weiß, daß ich die Taube nur eine gewisse Zeit füttern werde. Jedenfalls, solange ich Gefallen daran finde und es will. Verläßt sich die Taube darauf, daß ich es weiterhin tue, wäre sie enttäuscht, wenn ich davon Abstand nähme?

Der enttäuschte und betrogene Liebhaber der antiken Elegie und Komödie liegt nächtelang auf der Schwelle der Geliebten. Meine Taube wird, so ist zu hoffen, wenn sie die ausgestreuten Körner ein paar Tage vergeblich zu erspähen versucht hat, den Weg zu mir meiden.

Was sollen wir von den treuen Hunden sagen, die ihr unterwegs verlorengegangenes Herrchen über weite Strecken suchen und wiederfinden, die gar vor dem Grab des verstorbenen harren und darben? Es kann wohl nicht nur die durch die Fütterung konditionierte Bindung als ausschlaggebendes Motiv in Anschlag kommen. – Vielleicht aber drängen sich in solchen Fällen Projektionen menschlicher Verhaltensmuster und Gebärden auf die innig geliebten Haus- und Schoßtiere verständlicherweise geradezu unaufhaltsam auf.

Kann die Taube sich vornehmen, morgen einmal nicht zu erscheinen, gleichsam aus Trotz, weil ich ihr heute zu wenig Körner gestreut habe? Kann sie ein paar Tage ausbleiben, um mir den beinahe verwegenen Hinweis zu geben, wie sehr ich ihrer erfreulichen Anwesenheit bedarf; so wie Liebende es tun, die sich dem anderen entziehen, um ihn seiner Sehnsucht innewerden zu lassen?

Die Waldtaube ist äußerst scheu. Manchmal verharrt sie lange auf dem Dach, als wäre sie nur bereit, sich auf den Boden herabzustürzen, wenn ihr das Wagnis unbedenklich zu sein scheint.

Ich dagegen scheue mich manchmal, den Tiernarren zu spielen, wenn ich mich von einem Nachbarn beobachtet glaube.

Das instinktive Zögern des Tiers und meine soziale Scheu entspringen unterschiedlichen motivationalen Quellen und sind nicht vergleichbar.

Früher kamen sie zu zweit, und friedlich pickten nebeneinander Taube und Täuberich. Nun kommt sie schon lange allein. Ob er gestorben ist, ein Opfer der oft hier krächzenden Krähen wurde?

Warum ist es albern, der verwaisten Taube den sozialen Status einer Witwe zusprechen zu wollen?

Tauben kennen, auch wenn sie wie andere Vogelarten eine langjährige Bindung einzugehen pflegen, keine sozialen, auf Konventionen beruhenden Institutionen wie die Ehe.

Die Übertragung von dem Menschen eigentümlichen Gepflogenheiten und Institutionen auf das Leben und Verhalten der Tiere ist ein typisches poetisches Verfahren der Fabel, wie wir es von Äsop bis zu La Fontaine und Lessing kennen.

Der Waldtaube mit dem silbergrau schimmernden Federkleid wachsen keine schwarzen Federn zum Zeichen, daß sie Trauer trage.

Die Taube und die Sippe ihrer nahen Anverwandten pflegen keine Trauerrituale, suchen den Ort, wo der verunglückte blutsverwandte Artgenosse umkam, nicht auf, um seiner in Stille zu gedenken.

Ich sage mir: „Wie seltsam, Federn zu haben, und statt der Arme und Hände einen Schnabel; wie merkwürdig, sich aus dem Stand durch ein paar kräftige Flügelschläge jählings in die Lüfte zu erheben und in einem hohen, eleganten Flug den Kranz des weit emporragenden Kamins auf dem Nachbarhaus zu erreichen, um dort in die Runde zu schauen.“

Die Taube aber kann sich nicht sagen: „Wie seltsam, eine nackte Haut zu haben und nur auf dem Kopf, unter den Achseln und an den Geschlechtsteilen behaart zu sein, auf zwei Beinen zu stehen und zu gehen, Hände an den Armen zu haben und mit ihnen Dinge zu verrichten, die ein Schnabel nicht zu leisten vermag; wie merkwürdig, einen Mund zu haben, aus dem es nicht gurrt, sondern spricht.“

Ein Kamerad aus der Kinderzeit, dessen Großeltern aus dem Ruhrgebiet stammten, setzte die dortige Tradition der Brieftaubenzucht mit seinem Vater fort. Die edelsten Vögel wurden ausgesucht und in Käfigen von Mitgliedern des Taubenzüchtervereins in weit entfernte Orte verbracht; dort ließ man sie frei und zu Hause wartete alles gespannt, wann sie wieder eintreffen würden. Die Flugzeiten wurden gemessen und Preise für die schnellsten Wettflieger vergeben.

Keine der für den Wettkampf ausersehenen Tauben hat sich je gesagt: „O nein, ich werde ihnen den Gefallen nicht tun, ich nutze die Gelegenheit und schlage ihnen ein Schnippchen, ich beschäme den Untertanengeist meiner den Menschen hörigen Sippe und fliege ins Freie, ins Offene.“

Menschen züchten, dressieren, erforschen und essen Tiere – nicht umgekehrt.

Was uns aber eigentlich fasziniert, sind wilde, ungezähmte, nicht ins Menschentum eingehegte Tiere – wie mich die Waldtaube, im Gegensatz zu der schon häßlich degenerierten gewöhnlichen Straßentaube.

Die Faszination durch die wilde, noch ungebändigte Natur wird wohl in der Vorromantik wie bei Rousseau und der Romantik wie bei Novalis und Eichendorff, hernach im Expressionismus und in neuer Dichtung wie bei Trakl und Rilke („Der Panther“) ein immer neu hervorbrechendes Thema; doch steht sie eigentlich am Beginn der künstlerischen Formung des menschlichen Bewußtseins wie in den Höhlenmalereien der Steinzeit.

Dem Kultivierten, der in der kulturellen Differenz des Rohen und Gekochten erzogen wurde, ekelt vor dem Verzehr rohen Fleisches; die Bakchen zerreißen im dionysischen Rausch Tiere, ja die verblendete Mutter den Sohn Pentheus.

Mit dem Schnabel picken; mit den Händen essen. Die geduldig erlernte Kunst, Messer und Gabel zu benutzen.

Der Wahn rückt den Kranken zurück in vorzivilisatorische Bewußtseinslagen.

Die Schamanen wähnen, fliegen zu können.

Hölderlin kommt nach Ausbruch der Krankheit in die gefährliche Nähe chaotischer Mächte, wie der Titanen, der Totengeister, der Stimmen aus dem Abgrund.

Nach Austreibung der Dämonen durch aufgeklärte Pfaffen und bieder-liberale Theologen wird das Christentum schal und fade.

Manche dekadente Dichtung wirkt im besten Falle noch wie ein Magenbitter nach einem zu üppigen Festschmaus.

Die Heroen der griechischen Mythologie und Dichtung wie der zornige Achilleus und der Kapitän der Argo haben einst dem schüchternen Pennäler Schauer über den Rücken gejagt.

Der Transhumanismus mit seinem grauen Wahn, den Menschengeist in neuronalen Maschinen zu verewigen, mutet wie eine letzte lächerliche Verleugnung der archaisch-animalischen Ursprünge des menschlichen Bewußtseins an.

Groß dünkt uns nur, was wie absichtslos, ja unbewußt aus den dunklen Tiefen des Daseins emporwächst, wie die rätselhaften Organismen der Pflanzen und Tiere.

Betrachten wir die früh ans Licht tretenden, aber schon vollkommenen Formen der griechischen Dichtung wie das Chorlied und den Hymnos als Gewächse, Blumen des Munds gleichsam, wie der Dichter des letzten Hellenismus deutscher Zunge es nannte, verstehen wir die Faszination, die immer wieder von ihnen ausstrahlte.

Freilich, nur in der Kunst können wir geistig unbeschadet die Lampe des Sublimen dann und wann mit einem buntscheckig bemalten Schirm versehen und sie geisterhaft-vibrierende Schatten an die Wände unserer bürgerlichen Behausung werfen lassen; öffnen wir die Schleusen urtümlicher Wildheit im sozialen Umgang, verwahrlosen die Sitten und wir können uns bald selber nicht mehr trauen, geschweige denn unserem Nachbarn, der statt wie bisher höflich zu grüßen, aller Hemmungen entledigt vor uns ausspuckt.

Wie Nacht auf Tag, Mond der Sonne folgt den Domestikationen von Wildgetreide und Wildtieren, der Bändigung des Feuers, der Formung und Bemalung und dem Brand von Tongefäßen sowie der Verhüttung von Metallen und ihrer Verfertigung zu Waffen und kostbarem Geschmeide für die Elite der Krieger und Priester-Herrscher in den mittels Aufschreibsystemen verwalteten palast- oder burgzentrierten Siedlungen immer auch und immer wieder der Einbruch des Wilden und Undomestizierten im Rausch der Feste mit ihren Maskentänzen und dionysischen Chorgesängen.

Die Tragödie vereint die Rationalität des Diskurses einzelner Protagonisten mit dem wilden Jubel- und Klageruf, dem zwielichtigen Pathos der Masse.

Die deutsche Klassik hat die Schauer und das Faszinosum ursprünglichen Daseins zur Bewunderung der großen Leidenschaft und zur sentimentalischen Erquickung an instinktgedämpfter Anmut gemildert; über all dem liegt ein zauberhaft schimmernder Schleier der Schwermut. Rilke war der letzte Dichter deutscher Sprache, der diesen Schleier im hohen Stil seiner Sonette an Orpheus und der Duineser Elegien hat wegreißen wollen, um die Nähe des Unheimlichen und Fremden im Eigenen nicht nur zu zeigen, sondern ihre animierenden Pollen und Wohlgerüche in die dumpfe Stube des Untermieters bei der immer hüstelnden, abgemagerten Witwe Melancholia wie den Duft ferner Gärten ins aufgestoßene Fenster des Schlafs einströmen zu lassen. Doch auch sein später hymnischer Gesang mündet in die Klage.

 

Feb 6 25

Wolken gleich ein Lebewohl

Tags ballen sich, zerfließen Gischt und Wogen,
nachts säumt wie Rüschen weiches Wellenkräuseln.
Durchs Herzgeflecht kommt erst ein Sturm, dann Säuseln,
den Wolken gleich ein Lebewohl gezogen.

Ein Hauch, und Blüten schwimmen in den Schalen,
ein später Strahl, und Veilchen wollen weinen.
Das Tropfen weckten aus geborstenen Steinen,
ergrüntes Moos wird unterm Monde fahlen.

Füllt klingend sich das Glas mit goldner Feuchte,
in dunklen Kellern mußte lang sie reifen.
Daß er die Nacht der Schwermut uns erleuchte,

gingst, Dichter, du dem Wort ein Licht entzünden.
Es lächelt, wen der sanfte Strahl mag streifen,
muß in den stummen Abgrund er auch münden.

 

Feb 5 25

Sonett an müde Dichter

Schwebt auch die Flocke Wort noch hoch im Blauen
und schimmert auf im Säumen später Strahlen,
im Dämmerlicht des Zweifels wird sie fahlen,
wird an der Schwermut stummen Monds ergrauen.

Wir sind auf früh gebahntem Pfad gegangen,
vom Orient bis an die Bernsteinküste,
doch keiner ist, der noch von Sängen wüßte,
die in Oasen keusche Brunnen sangen.

Laß, müder Dichter, dich vom Schnee nicht blenden,
nicht von entrückter Erde Traumgewand,
das bald zerrinnt, wenn Lerchen jählings steigen.

Nach neuen Quellen schürf mit heißen Händen,
daß sich befeuchtet dürrer Ödnis Land
und graue Herzen sich dem Rauschen neigen.

 

Feb 4 25

Jenen, die durchs Leben hinken

Sie können Grinsen, Feixen nicht ertragen,
die Scheuen, die vorm grellen Worte weichen
ins Flüstern milder Schatten, ihresgleichen.
Sie stottern, sollen sie von Liebe sagen,
o wie sie vor der Rose Glut erbleichen.
Sie können das verkniffne Antlitz nicht ertragen.

Und die gesenkten Blicks durchs Leben hinken,
als lasteten auf ihren Schultern Scheite,
nur schwacher Sehnsucht Strahl ist ihr Geleite.
Doch wenn im Schnee die keuschen Sterne blinken,
erahnen Himmels ungeheure Weite
auch die gesenkten Blicks durchs Leben hinken.

Ein zarter Dorn war’s, der da riß die Wunde,
und unter keinem Kuß mocht sie vernarben.
Sie lauschen Quellen nach, die lang schon starben,
als kehrte noch die unversehrte Stunde.
Im Sommer war’s mit seinen goldnen Farben,
da ihnen riß ein zarter Dorn die Wunde.

 

Feb 3 25

Der Aussatz auf dem Asphalt

Die unter Dornen fielen, blindlings, Samen,
das fahle Licht wird sie nicht auferwecken.
Gleich Händen, übersät von Altersflecken,
kein Hauch, kein Kuß rührt auf ertaubte Namen.

Du sahst, wie Disteln aus Metopen drangen
und bittrer Lattich wuchs auf Tempelstufen.
Den Kuckuck hörtest du im Haine rufen,
wo Ödipus einst Nachtigallen sangen.

Preß, Dichter, nicht dein Ohr aufs gelbe Moos,
es ist ein Aussatz nur auf dem Asphalte.
Die Ader hat ein Eisenzahn zerbissen,

verklungen ist der Quell in Gaias Schoß.
Was tief im Schlaf dir Melusine lallte,
erstickt in deinem angstzerdrückten Kissen.

 

Feb 2 25

Die Inschrift auf dem Grabe

Wie Schnee auf Gipfeln glänzt und Abgrund funkelt,
bezeugt das Diadem, Wort von Propheten.
So blendete das Licht von Hochgebeten,
das uns obszönes Wortgespinst verdunkelt.

Als unter grüner Wipfel Schatten schliefen,
die einen weiten Pilgerweg gegangen,
war ihnen, als ob Edens Wasser sangen.
Wir treiben schlaflos über stummen Tiefen.

Nimm, Dichter, einen Strahl von dem Geschmeide,
laß küssen ihn die Inschrift auf dem Grabe,
damit sie unsre Dunkelheit erleuchte:

„Es füllten Engel ihm des Herzens Wabe,
die Süße gab er hin dem bittern Leide.“
Daß uns Erinnerung das Auge feuchte!

 

Feb 1 25

Das schlichte Leben sagen

Die Ros’ ist ohn warum.
Sie blühet, weil sie blühet.
Sie acht nicht ihrer selbst,
fragt nicht, ob man sie siehet.

Angelus Silesius

 

Das schlichte Leben lebt sich ohne Frage.
Es fragt die Rose nicht nach Sinn und Gründen,
warum so hold sich ihre Knospen ründen.
Es öffnet sich ihr Schoß dem Sonnentage,
sie streut den Wassern, die ins Dunkel münden,
die Blüten, opfert hin sich ohne Klage.

Vollkommen ist die Webkunst einer Spinne,
sie grübelt nicht, ob auch die Fäden halten.
Voll Anmut sind die zarten Klanggestalten,
als bebe eines Vogels Herz vor Minne.
Die Stirn des Tigers legt sich nicht in Falten,
kein Zweifel hindert, daß die Lefze rinne.

Du auch, o Dichter, laß vom Grübeln, Zagen,
mag dich der Schnee der leeren Seite blenden,
schon taut er unter deinen heißen Händen,
schon siehst du Gras und Zeichen zitternd ragen
und hörst, wie Tropfen leise Reime spenden.
Kein Grübeln, Dichter, lehrt das Wahre sagen.

 

Jan 31 25

Blindes Fluten

Wie stumm sie wandern, Wolken, weiße, graue,
so sanft, so wild sind ihre Traumgestalten.
Kaum daß sie sich zu Schneegebirgen ballten,
zerfasern sie, aus Schlieren quillt das Blaue.
Was unter ihnen wir im Schlafe lallten,
war wie ihr Schatten auf der Sonnenaue.
Wie stumm sie wandern, Wolken, weiße, graue.

Wie still sie sitzen, Tauben hoch auf Dächern,
und drunten Hupen, Bellen, Scheibenklirren.
Streust Körner du, mag eine abwärts schwirren.
Ihr Antlitz birgt die Muse hinter Fächern.
Sie ließe wohl ihr süßes Lächeln flirren,
säß still dein Geist gleich Tauben auf den Dächern.

Was unterm Mond uns trägt, ist blindes Fluten.
Die Seele wogt wie Schaum und Gischt der Meere,
es zerrt an ihr Gestirn und Erdenschwere.
Stich sanft, o Vers, laß träumend uns verbluten.
Der Tropfen Reim, er fällt anheim der Leere.
Was unterm Mond uns trägt, ist blindes Fluten.

 

Jan 30 25

Spät, zu spät

Jung tatst du mit, auf daß du nichts versäumtest,
und dein nicht achtend lagst du auf der Lauer.
Was du erjagt: Chimären ohne Dauer.
Es wurde still. Dir ward, als ob du träumtest,
die Silberlocke weht im Abendschauer,
hoch stand der Mond, wo du am Ufer säumtest.

Früh galt dir, Vers um Vers hinabzuschlingen,
als wäre Lesen rohe Kost verdauen,
Verstehen Ungeschmecktes achtlos kauen.
Und spät, zu spät, hörst du, wie Vögel singen,
die ihre Brut zu nähren Nester bauen
und hegen sie mit des Gesanges Schwingen.

Es ist zu spät, wenn sich die Schatten längen,
noch einmal auf den Sonnenfirst zu steigen.
Wenn Wasser seufzen unter Weidenzweigen
und Seufzer tropfen in den Laubengängen,
gebiete deinem heißen Weh zu schweigen.
O birg es in den Schatten, die sich längen.

 

Jan 29 25

Fromme Mythen

Träume dünken uns die Paradiese,
goldner Tropfen Dunst der Erdenhölle,
Lied, Gemurmel einer blauen Quelle
unterm dunklen Stöhnen im Verliese,
die erweckt aus ödestem Gerölle
eines Dichters Traum vom Paradiese.

Sollen wir sie fromme Lügen heißen,
Schleier, die vorm bleichen Antlitz wehen
den Verlornen, die am Abgrund stehen,
daß entrückt von ihrem milden Gleißen
sie gestirnt die Nacht des Todes sehen?
Fromme Mythen mögen sie uns heißen.

Sollen eitlen Wahns wir Dichter zeihen,
die den Atemschwund in Metren messen
und uns geben Schaum des Reims zu essen,
wenn wir nach der letzten Wegzehr schreien?
Nur wer unsre Ohnmacht hätt vergessen,
dürften eitlen Wahns wir rechtens zeihen.

 

Jan 28 25

Verkarstete Landschaft

Verkarstet ist die Landschaft, wo wir einst
durch süßer Düfte Wehen heimgegangen.
Dort war es, daß uns weiche Wasser sangen.
Nun hüll ich meine Augen und du weinst.

So wandeln wir den alten Kindheitspfad,
wo Halme unter grauen Winden zittern.
Die frühen Bilder blassen und verwittern,
die Veilchen wälzte hin ein eisern Rad.

Geschwollen ist die Haut des Lieds, zerstochen
von einer Wespe, die nur einmal sticht.
Gott leiht sie nicht, die Salbe, die sie heilte.

Erstarb das Melos, ward die Blum gebrochen,
gehn stumme Schatten wir im Dämmerlicht.
Kein Sänger ist, der uns entgegeneilte.

 

Jan 27 25

Die Heimkehr vom Gebirge

Goldenen Blühens
Dämmerlicht
ist erloschen schon.

Ich gehe auf dem steilen Weg,
abwärts,
vorbei an schroffem Urgestein,
am Wehen bärtig alter Farne,
betropft von Tropfen matten Lichts,
Moos, älter als das Menschenwort,
grüner als sein schwacher Sinn.

O zu gehen, einsam, und nicht wissend,
ob einer abgeirrt
oder ihm bestimmt ein Ziel.

Vorbei an jähen Schluchten,
wo geschmolzene Wasser
in kristallinen Schalen,
dem kalten Kuß des Mondes hingereckte,
sich verschäumen.

Und immer steigen, sinken
Stimmen,
deren Sinn mir fremd,
doch schmerzlich-süß,
wie eines Traums,
der seine Fenster hoher Landschaft weit geöffnet,
und fernhin knirschen
im weichen Schnee des Schlafs die Schritte
saumselig-froher Schatten.

Mir ist, ich sollte eine Gabe,
die Wahrheit meines Leids,
von diesem knöchernen Gebirge
hinab in Täler bringen,
dem Wandrer gleich den Enzian,
den er im harschen Firn gepflückt,
daß Trost noch Augen mögen schauen,
die vom Warten in der kargen Heimat
und bleicher Sehnsucht
beinah blind.

Reicht aber jener, was er fand,
und ist am Rand des Abgrunds aufgeblüht
das Schöne,
Blüte, ausgesetzt und kühn sich abgetrotzt
dem scharfen Strahl,
sind meine Hände schrundig, leer,
und grau das Herz
vom Grauen,
dem Schweigen jener grenzenlosen Räume.

Mir ist, als läg ich vor der Schwelle,
es neigt die Mutter,
neigt die Schwester
das Ohr an meinen Mund,
doch hab ich nichts als Lallen,
das von den Worten übrigblieb,
wie warme Milch,
die von den Lippen eines Kindes,
ungetrunkne Liebe,
erdwärts rinnt.

Daß sie mich gnädig bergen,
wenn noch Milde das Gedächtnis schönt,
den allzu Müden
gütig betten,
wo eine Kerze flackert vor dem Bild,
das schlichten Sinnes einst der Ahn gemalt:

Kreuz auf fernem Gipfel,
wo sanft der Schnee
erglüht
im Untergang der Sonne.

 

Jan 26 25

Schöne fromme Mythe

Wie auf Stegen, drunten raunt die Leere:
„Dämmer bin ich, jäh vom Blitz gespalten,
Knospen, die sich träumerisch entfalten,
und sie sinken, bleich wie Schaum der Meere.“
Könnten Hand in Hand wir uns nur halten,
auf den Stegen, unter uns die Leere.

Einsam gehen wir, bevor wir fallen,
wie die Blüten, barsch vom Sturm gepflückte.
Und von dem, was unser Aug entzückte,
können wir nur wie die Narren lallen,
Worte, Hauch der Seele, wahnentrückte.
Einsam gehen wir, bevor wir fallen.

Kindlich wähnten wir, daß uns behüte
jener Engel, der die Flügel breitet,
auf dem Steg, dem schwanken, uns geleitet.
Keiner hebt empor uns voller Güte,
wenn der Fuß in dunkle Leere gleitet.
Kindlich war sie, schön die fromme Mythe.

 

Jan 25 25

Magnolien drängen schon

Σκιᾶς ὄναρ
ἄνθρωπος

Eines Schattens Traum
der Mensch

Pindar

 

Magnolien drängen schon an hellen Säumen,
sind noch vom Rauhreif überstäubt die Bänke.
Mir glänzt das Aug, wenn deiner ich gedenke,
seh ich die Knospen von der Bläue träumen.
Daß ich die volle Blüte dir noch schenke,
kommst du den Pfad, den die Magnolien säumen.

Ein Schluchzen steigt aus Büschen, die es hüllen,
das kleine Nest von flaumig-weichem Leben.
Ein leises Zwitschern will uns Kunde geben,
daß scheue Herzen süßer pochend füllen
der Wehmut Waben, die ins Helle schweben,
steigt Schluchzen aus den Büschen, die es hüllen.

Magnolien drängen schon, wenn wir noch träumen,
den Schatten gleich, die Pindaros beschworen.
Ist aber Glanz den Hohen auserkoren,
ein Schimmer will, ein Lächeln nicht mehr säumen,
küßt Charis die in Lust und Gram verloren.
Magnolien drängen schon, wenn wir noch träumen.

 

Jan 24 25

Daß wir uns bergen

Ruht still der See, kann sich das Sternlicht spiegeln,
der Hauch des Monds läßt zittern es, verschwimmen.
Um Lichter, die wie zarte Blüten glimmen,
hörst du der Motten feiste Schatten flügeln.
O dämpfen wir, verhalten wir die Stimmen,
wenn sich auf stillem See die Sterne spiegeln.

Wo weiße Wolken übers Wasser gleiten,
weckt Wind in Nestern, die im Schilfe schwanken,
ein Zwitschern, Rufe, die empor sich ranken.
Und die wir stumm ins Ungewisse schreiten,
schließt auf das bange Herz ein leises Danken,
wenn weiße Wolken übers Wasser gleiten.

Daß wir uns bergen unter grünen Lauben,
vom heißen Strahl nur Tropfen Lichtes bleiben,
die langsam rinnen, Milch auf Honigscheiben.
Es mildern dunkles Weh die Turteltauben,
wenn dunkler gurrend sie die Schnäbel reiben,
wo sie sich bargen unter grünen Lauben.

 

Jan 23 25

Fäden des Abendlichts

Das Wahre, Ganze können wir nicht sagen,
wir haben nur die Splitter, nur die Funken,
die bald in schwarzer Meerflut sind versunken.
Und wandeln wir beherzt an hellen Tagen,
ist jeder von der hohen Nacht schon trunken,
von der kein Wort, kein Traum, kein Stern kann sagen.

Mag auch der Hymne Sang zum Azur steigen,
und höher flügeln wie mit Adlerschwingen,
der blaue Abgrund wird ihn jäh verschlingen.
Im Laub der Dämmerung wiegt sich das Schweigen.
Zart sind die Schatten, die uns niederringen,
mag auch der hohe Sang zum Azur steigen.

Das schlichte Brot des Worts soll uns genügen,
der klare Wein aus heimatlichen Reben,
Lied, das aus Fäden Abendlichts wir weben.
Daß uns nicht reiße Angst aus Sinngefügen,
ergreift sie auch des Ungrunds dunkles Beben.
Das süße Licht des Lieds soll uns genügen.

 

Jan 22 25

Blatt, Schrift, Hauch

Blatt, gelöst wie der Träumer im Traum,
surrt es ins Dunkel, taumelt es blind.
Ariel gleitet im nächtigen Raum,
sichtbar macht er, singbar den Wind.

Schrift, geritzt in den Schlaf, in den Stein,
Name, von Efeu umrankt, von Tropfen geküßt.
Glanz einer goldenen Schale voll Wein
schäumt unsrer Schwermut, was sie vermißt.

Hauch, den Schleier lüftend vom Angesicht,
was die Herznacht verschwieg, zeigt uns der knospende Keim.
Eos, sanft erglühendes Rosengedicht,
sag es, lieblicher Mund, geründet zum Reim.

 

Jan 21 25

Abgeklärtes Denken

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Freie Radikale müssen durch konservierende Moleküle gebunden werden, sonst stiften sie nichts als Schaden.

Der abgeklärte Denker kann mit jedem beliebigen Ding beginnen und muß mit keinem enden.

Abgeklärt denken heißt die moralischen Scheuklappen ablegen, ohne auf das basale Ethos zu verzichten, das in einfachen Handlungen wie dem Grüßen oder dem Einhalten einer Verabredung zutage liegt.

Das an die Fütterung gewohnte Tier wartet nicht auf mich, wie ich es tue, wenn ich auf denjenigen warte, mit dem ich verabredet bin.

Das Tier ist durch die Erwartung gleichsam benommen, während ich, auf den Besuch eines Freundes wartend, in Ruhe ein Buch lesen, ja herumtrödeln kann, ohne auch nur an ihn zu denken.

Mit einem gummiweichen Faden läßt sich keine präzise Längenmessung durchführen; mit dehnbaren Begriffen nur Vages sagen.

Wer mit der Sprache schludert, wohnt in einem begrifflichen Kartenhaus, das der nächstbeste geschichtliche Sturm davonfegt.

Hans Guck-in-die-Luft, der spekulative Philosoph, wird über einen Alltagsgegenstand wie einen vergessenen Putzeimer stolpern.

Der abgeklärte Denker stolpert, doch nicht in den Abgrund: Er macht einen Fund. So entdeckt Wittgenstein am Brocken des unnachgiebigen definitorischen Allgemeinbegriffs den Spielraum der Familienähnlichkeit im stets impliziten Netz zusammenhängender Begriffe.

Der Clown stolpert über seine zu langen Schuhe, und alle lachen. Der Zelebrant stolpert über den Altarstein, und alle sind peinlich berührt.

Der Bruch in der kontinuierlichen Linie habitualisierten Verhaltens wirkt einmal komisch, ein andermal peinlich.

Sich verhaspeln, sich versprechen: Manchmal kommt eine verschwiegene Wahrheit ans Licht.

Das widerspenstige Werkzeug bringt den Werkwelt- und Bewandtniszusammenhang des Heideggerschen Daseins zur Erscheinung.

Die ausgefallene Lampe weist auf den unterbrochenen Stromkreislauf; der untaugliche Begriff („Repräsentation von Sachverhalten“) auf den unterbrochenen Strom der lebendigen Sprache („die Mannigfaltigkeit der Sprachverwendungen“).

Das schiefe sprachliche Bild gleicht dem Blick in einen Zerrspiegel.

Übereinandergelegte Muster lassen nur das begrifflich Triviale hervortreten.

Auch der Kriminelle ist mehr als das kriminalpsychologische Profil, aufgrund dessen man ihn identifiziert hat. So war Caravaggio nicht nur ein Mörder, sondern auch ein bedeutender Maler.

Betrachten ist nicht beobachten, plaudern nicht Mitteilungen machen, dichten nicht verklausuliert sagen, was sich umstandslos sagen ließe.

Hölderlin vermochte nicht der deutsche Pindar zu werden, weil die Feste, auf denen seine Chorlyrik hätte erklingen können, im Land der Dichter und Denker keinen Stifter, keine Stätte, keine Gemeinde fanden.

Auf knapp bemessenem Raum einen Gehalt verdichten, der bisweilen ins Unermeßliche reicht: Prinzip und Verfahrensweise der antiken Lyrik (Pindar, Horaz).

Der geistvolle Einfall entspringt im Gedränge.

Mögen sie nur Stroh dreschen – ein Funkenflug genügt.

Man kann nicht fragen, wie es wäre, nicht zu existieren.

Das Leben kann sich selbst nicht in Frage stellen.

Sein ganzes Leben damit vertun, die eine Rätselnuß zu knacken – und post mortem wird offenbar, sie ist hohl.

Die Wissenschaft gibt uns keine Antwort auf die Frage nach dem Wozu. – Der Sinn haust nicht als marginaler Gast oder zufälliger Mieter im sinnlosen Gehäuse der Natur.

Überspannte Wissenschaftler verfangen sich in Pseudo-Erklärungen (wie „Denken ist ein Hirnvorgang“ – „Liebe ist die Ausschüttung bestimmter Hormone“).

Daß es vergeht, ist kein Einwand gegen das, was da ist.

Überspannte Philosophen zwängen das Denken unter das Joch eines Systems („Alles ist Geist: Idealismus“ – „Alles kann auf physikalische Gesetze zurückgeführt werden: Naturalismus“) oder eines Projekts („das Projekt der Aufklärung“ – „das Projekt der Moderne“).

Er tat wie ein Seiltänzer, der auf einem dünnen Seil über einen schwindelerregenden Abgrund balanciert; doch schleppte er sich in Wirklichkeit mit plumpen Schritten über den Asphalt der Plattheiten und Trivialitäten dahin.

Die Bilder nicht von Menschen bewohnter Landstriche und Gegenden, der Wüsten und Steppen, der Weiten und Tiefen der Ozeane trösten uns noch über das parasitäre Gewimmel unserer Gattung auf dem schwärenden Leib der alten Gaia.

Begriffsschranzen und Theoriesnobs, die auf rhetorischen Stelzen über die Köpfe der Minderbemittelten hinweg Dunkles künden, um mittels änigmatischen Geschwätzes Eindruck zu schinden.

Die wurmstichigen Früchte am Baum der politischen Moral wie Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit, Inklusion und Vielfalt nimmt der auf bekömmliche geistige Diät eingeschworene abgeklärte Denker nicht in den Mund – es sei denn, um sie coram publico angeekelt auszuspeien.

Torheit oder unverzeihliche Naivität verlangt bedingungslose Freiheit der Meinungsäußerung; doch sie der hemmungslosen Meute zu gewähren, heißt, in Kauf zu nehmen, daß man sie da und dort und immer wieder, in den Worten aller Sprachen, doch verwandten Sinnes, brüllen hört: „Gib den Barabbas frei, den da schlag ans Kreuz!“

Der aufgrund zur Massenhysterie gesteigerter sexueller Freizügigkeit traumatisierte Priester fühlt mit den vor den Kopf gestoßenen orthodoxen Rabbinern und hält sich einiges zugute, wenn er die Vorteile der Separation gegenüber der Koedukation von Knaben und Mädchen herausstreicht. – Das Motiv für die Äußerung seines Arguments, daß die beiden Geschlechter ab einer bestimmten Altersstufe zu ihrem eigenen Vorteil getrennt erzogen werden sollten, mag zwielichtig sein; doch ist es deshalb unwahr?

Der frühe Existentialist marschierte nach vorn gebeugt wie gegen einen Sturm anrennend, der altgewordene wandelt auf den überwachsenen Pfaden der Gelassenheit in windstillem Kreis.

Der abgeklärte Denker billigt sich einen Spielraum bei der Wahl der überlieferten geistigen Speisen zu, insofern sie seinem empfindlichen Magen zuträglich sind und seinen verfeinerten Geschmack nicht beleidigen. – Dies gilt – horribile dictu – auch für die Bewirtung durch politische Köche; denn er ist souverän genug, die erlesene Kost monarchisch-höfischer und aristokratisch-elitistischer Provenienz dem Mischmasch plebejisch-demokratischer Vulgarität vorzuziehen.

Der Spätling ist kein Gargantua geistiger Völlerei.

Der Abgeklärte hat einen Degout vor allem, was zu dick aufgetragen, mit geblähten Backen ins grelle Scheinwerferlicht hinausposaunt oder ohne gnädige metaphorische Verhüllung an poetischen Erektionen feilgeboten wird.

Die Sensationsgier, also die Journaille, führt zur Verrohung des Fühlens und Sagens.

Wenn kein Blut von der Leinwand rinnt, die sie für Kunst, kein Leichengeruch aus den Furchen dessen dringt, was sie für Dichtung halten, wendet sich der barbarische Zeitgeist gähnend und gelangweilt ab.

Zu großen Werken inspiriert der Glaube an die eigene Größe, so der Glaube göttlicher Erwählung den biblischen Juden, der Glaube an die kulturelle Vormachtstellung den Erbauer der Akropolis, der Glaube an die weltpolitische Führungsrolle Roms den Schöpfer der Äneis.

Wer sich seines Daseins oder zumindest seiner nationalen Identität schämt wie der moralisch gedrückte Deutsche, verachtet auch die großen Werke seiner Vergangenheit.

Stufen des Sinns, Grade der Verständlichkeit. Wir können unterschiedliche Schichten oder Stufen des Sinns eines physiognomischen, gestischen und sprachlichen Ausdrucks anhand der unterschiedlichen Grade seiner Verständlichkeit identifizieren. Die bejahende Antwort der alten, gebrechlichen Dame auf die Frage, ob wir sie über die verkehrsreiche Straße geleiten sollen, und der Nachvollzug der pythagoreischen Gleichungen am rechtwinkligen Dreieck sind von höherer Transparenz und Verständlichkeit als die Zweideutigkeit eines Delphischen Orakels und einer nur scheinbar trivialen oder absurd anmutenden Formulierung des späten Wittgenstein (wie derjenigen vom unverständlich sprechenden Löwen oder dem auf dem Kopf stehenden Haus der Sprache); dagegen nimmt der Grad der Unverständlichkeit und Rätselhaftigkeit in dem Maße zu, wie wir in die änigmatischen Gedichte eines Paul Valéry oder die scheinbar oder wirklich widersinnigen Verlautbarungen der Geisteskranken vordringen. Wer uns mit dem Anspruch kommt, er sei ein Bote Gottes, ist uns immerhin noch verständlicher als der Schamane oder Verrückte, der mit den Armen flattert und ein Vogel der Geisterwelt zu sein vorgibt. – Wir sollten solche Fälle exemplarisch studieren, um den echt änigmatischen vom pseudoänigmatischen dichterischen Ausdruck unterscheiden zu lernen, denn letzterer ist ein nicht selten mißbräuchlich verwendetes Mittel, auf unsere Kosten Aufmerksamkeit zu provozieren, die sich im günstigen Fall endlich in ein leichtes Kopfweh auflöst.

Genialität anzuerkennen verlangt Demut vor der Kontingenz ihrer Entstehungsbedingungen.

Fruchtbarkeit des kulturellen Bodens, ein gedeihliches seelisches Klima und die sensorische Eigenart der indogermanischen Völker bildeten schicksalshafte Lebenslinien in der Physiognomie der griechischen Genialität.

Göttliche Samen, die unter die Disteln des Unglaubens und die Schatten des Zweifels fallen, können nicht sprießen.

Wesentliche dichterische Metaphern sind wie Blitze in der Nacht.

Woran er auch streift, ob Stein oder Halm, Tau oder Blatt, stumme Kreatur oder Engelsflügel, der wache dichterische Geist findet stets die Öffnung zur Fülle des Seins.

Man kann die herrliche Windung der Muschel und den in ihrem Innern schimmernden Perlmutt ebensowenig aus natürlichen Entwicklungsgesetzen ableiten wie die sublime Gestalt der Pindarischen Ode und ihren an jähen Stellen aufgehenden inneren Glanz aus literarhistorischen.

Geheimnisvolle Klänge, überwirklich, übersinnlich, als wäre der Geist des Dichters eine himmlischen Lüften ausgesetzte Äolsharfe.

 

Jan 20 25

Keime und Samen

Wohl sind Keime heimlich eingesunken,
doch das Herz der Erde war schon grau.
Wehen Frühlingslüfte wieder lau,
wanken an den Ufern Schilfe trunken,
sind verkümmert, unerweckt vom Tau,
Keime, in die Herznacht dir gesunken.

Hast es nachgesungen, noch ein Knabe,
Lied, das von Ioniens Inseln flog,
flügelnd Schatten übers Schulheft zog.
Blieb ein Goldglanz in der Sonnenwabe,
wo dein müdes Herz sich Süße sog,
war’s, was du gesungen, noch ein Knabe.

Blumensamen, der im Schnee gefroren,
Schlaf umfing ihn, traumlos-weiße Nacht.
Seufzen stieg zu Mondes kalter Pracht
über Blüten, an die Nacht verloren.
Daß im Strahl des Liedes uns erwacht
Blumensamen, der im Schnee gefroren.

 

Jan 19 25

Nächtiges Wasser

Ist süß es, ist es bitter,
das nächtige Wasser,
wenn es säumend zwischen Uferschilfen fließt?

Was unbegrenzt in sich zerrinnt,
Schaumlider über Nächtigem verschließt,
es ist bitter-süß.

Scheint einsam nicht die hohe Nacht,
wenn stumme Nester in den Schilfen schwanken,
schluchzend Wasser um die Wurzeln quillt?

Funken streut der helle Schlaf,
lichte Rätsel in die dunkle Stille,
aufglimmend und verlöschend, unser Ebenbild.

Wird es nicht still, unheimlich still,
wenn vor dem Morgenrot die Sterne blassen
und Mondes Knospe in den Abgrund sinkt?

Nest um Nest erwacht im Strahl,
kein Dichter kann in Worte fassen,
wie zarte Bläue Gold aus Vogelrufen trinkt.

 

Jan 18 25

Vom Schrecken der Freiheit

Du willst der Meute nicht das Maul verbieten?
„Den Barabbas gib frei“, hörst du sie brüllen,
„den schlag ans Kreuz!“ Laß ihren Drang sie stillen,
den Geist ersticken sie, Wahnparasiten.

Frag nicht, weshalb die Anmut sie wohl hassen.
Ihr Klumpfuß hindert sie, gleich ihr zu schreiten,
der graue Star, den Blick ins Blau zu weiten,
ihr Geifer, Reines unversehrt zu lassen.

Birg, Dichter, dich im Turm aus Elfenbein –
umsonst! Rauch steigt empor, Krakeelen,
wenn geil sie von des Henkers trübem Wein

zur keuschen Nonne unterm Fallbeil stieren.
Durch Albtraumritzen fühlst du Dünste schwelen,
die deinen Vers mit Widersinn beschmieren.

 

Jan 17 25

Die letzte Symphonie

Anton Bruckner, 9. Symphonie

Trost gewährt die letzte Symphonie,
die der Meister uns noch hat gewunden
aus den Ranken stiller Dämmerstunden.
Wie geheimnisvoll löst ihre Harmonie
Fesseln, die den kranken Geist gebunden.
Trost gibt uns die letzte Symphonie.

Wie aus dumpfem Schlaf sind wir erwacht
im Gefild, das Taubheit nicht zertreten,
und wir staunen, Halm und Seele beten,
zitternd unter lichter Wogen Pracht.
Übersprüht von jähen Klangkometen
sind aus dumpfem Schlafe wir erwacht.

Reißt auch Brausen uns vom Stamme los,
reife Frucht muß in das Dunkel fallen,
eitel, sich an Schatten festzukrallen.
Was da weht, ist weihevoll, ist groß.
Im Unendlichen nur mag verhallen
Brausen, das uns reißt vom Stamme los.

 

Unter dem Dirigat von Günter Wand:
https://www.youtube.com/watch?v=PkiIR1XLgnk

 

Jan 16 25

Die stille Lampe

Die stille Lampe gönnt uns ein Besinnen.
Wie unterm Mond geht hin der Strom der Zeichen.
Obskure Rätselschäume, sie verbleichen,
verstreute Blüten, die entzücken, rinnen.

In lauer Sommernacht wölkt auf Gefunkel,
Leuchtkäfer, die, was lichtlos harrt, betören,
und Grillenzirpen wogt in wilden Chören.
Glanz orphischen Gesangs fließt aus dem Dunkel.

Wühlt heller Geist zu tief in Gaias Schoß,
Gestalt dem Ungestalten zu entlocken,
weckt er Erinnyen auf, Gezisch von Schlangen.

Glüht des Erkennens Sonne gnadenlos,
fällt bald der grüne Strom der Zeichen trocken.
Zu Karst wird Schilf, wo Somnambule sangen.

 

Jan 15 25

Monolog des Winds

Zarte Halme hab ich zart gestrichen,
und sie neigten sich, und schimmernd sanken
weiche Tropfen. Moos und Veilchen tranken.
Schatten sind vor meinem Hauch gewichen,
aufgeschauert aus dem Schlaf die Ranken.
Zarte Halme hab ich zart gestrichen.

Süße Düfte hab ich fortgetragen,
die um Knospen, seufzende, bang schwebten,
und die sie empfingen, Falter bebten,
sich in Purpurdämmerung zu wagen.
Rauschend starb ich, daß die Stillen lebten.
Süße Düfte hab ich fortgetragen.

Liebe, die am offnen Fenster harrte,
ob ein Lied aus märchenfernen Gärten
ihr noch künde vom Gelall der Zärten,
war ich Herold, der sie gnädig narrte,
gleich den Lippen flüsternd, den entbehrten,
daß sie lange noch am Fenster harrte.

 

Jan 14 25

Der Aufstand der Gnome

Könnt je ein Hottentott ein Arier sein,
ein Hodenschwinger je ein Kind gebären,
flieht zum Pazifik hin das Volk der Schären,
fließt unterm Pont des Arts der alte Rhein.

Gilt Kot für Kunst, in Dosen weich gepreßt,
der Kehle Würgen für Gesang der Musen,
fegt Frau von Milo weg ein Plastikbusen,
singt eine Nachtigall im Kuckucksnest.

Die alles mischen, Farben, Sprachen, Rassen,
was überragt, die edlen Knospen köpfen,
sind Gnome, die sich selbst und jeden hassen,

dem Sterne hohen Sinns im Auge blitzen.
Sie werden auch des Dichters Waben schröpfen,
den Honig schmieren um der Lüge Zitzen.

 

Jan 13 25

Bei zugezogenem Vorhang

Das hohe Wort mag unzugänglich blauen,
wie Enzian auf tief verschneiten Matten.
Dir weckt Erinnerung nur stumme Schatten,
erstickte Seufzer nur das Abendgrauen.

Du weißt es noch, es waren Tropfen, lichte,
im Tauwind süßen Blüten hingeronnen,
doch dorrte dir das Wort im Preis der Sonnen,
es flirrten im Asphalt die Wahngesichte.

Zu kraftlos, Dichter, für den Gipfelgang,
liegst du, den Vorhang zugezogen, blöde,
das Herz betäubt von nächtlich dumpfem Pochen.

Kein Bote bringt das Blau dir in die Öde.
Nur düstrer Flammen Zischen hörst du bang,
die dir das mürbe Mark des Lieds zerkochen.

 

Jan 12 25

Amor und Psyche im Schnee

Blaß schwebt hin der Mond,
eine Bitterfrucht,
die kein Lied mehr pflückt.

Zwillingsschatten gehen
durch den hohen Schnee,
und der Schnee ist Schlaf.

Eins ins andre träumend,
wogt es auf und ab,
wehes Herz der Nacht.

Atemnebel steigen
weich von Mund zu Mund
und zerflattern zart.

Was ein Herz dem andern
in sein Dunkel sagt,
licht wird es, Kristall.

Amors Schatten ist es,
Psyches, die verirrt
suchten sich so lang.

Ach, im Schnee sich fanden,
in Hesperiens Schnee,
Zwillingsschatten spät.

Glüht der Mond nicht schon,
Schmelz von goldner Frucht,
die das Lied entzückt?

 

Jan 11 25

Not lehrt dichten

Flimmernd in der Wüstenluft, Oase.
Rote Frucht, Nomade Mond der Nacht.
Hoher Dichtung würdig Sonnenpracht,
Orchideen in der blauen Vase.
Duft, dem Schlaf der Anmut dargebracht.
Eden, Chiffre ohne Ort, Oase.

Heimat, süßes Echo Heimatlosen.
„Dämmre, Tag!“, ruft, der vom Schneelicht blind,
halb erfroren ruft er: „Taue, Wind!“,
und der sie vermißt: „Haucht Liebe, Rosen!“
Not lehrt Verse, die wie Rauschen sind,
ferner Heimat Quellen Heimatlosen.

Ewig sind dem Antlitz wir verpflichtet
auf dem Schweißtuch jener reinen Magd,
Schönheit, die aus dunklem Abgrund ragt.
Rein Empfundenes hat wohl gedichtet,
wem das lang Entbehrte noch getagt.
Schweigen, dem die Blume Wort sich lichtet.

 

Jan 10 25

Verwitterte Ikone

Das Gold und Blau des Himmels sind zersprungen.
Der Lippen Purpur, die den Saum umfaßt,
den Kelch des hohen Geistes, ist verblaßt.
Das Brot zerbröckelt, Asche tauben Zungen,
verwischt vom Tau der Nacht der Wunderglast.
Das Gold und Blau des Himmels sind zersprungen.

Das Lächeln ist vom Angesicht geschwunden,
und hatte sich zum Kuß des Blicks gesehnt,
da sich des Jüngers Herz ihm angelehnt.
Blaß rosa schimmern noch des Heiles Wunden,
auch wenn der Segen sich ins Leere dehnt.
Das Lächeln ist vom Angesicht geschwunden.

Welk sehen wir, voll Schwermut, unsre Seele
in der Ikone, die verwittert fahlt,
als hätten träumend wir sie selbst gemalt.
Uns schmerzt, daß ihr das Licht der Gnade fehle,
das einst vom Schmelz des Inkarnats gestrahlt.
Welk sehen wir, voll Schwermut, unsre Seele.

 

Jan 9 25

Traurige Trochäen

Laß am Abend uns zum Ufer gehen,
dort, wo einst in ferner Kindheit Tagen
uns gerauscht aus Schaum und Muscheln Sagen,
schweigend auf die öde Meerflut sehen,
wo sich schreiend junge Möwen jagen,
abends Hand in Hand am Ufer stehen.

Briefe, die ich einst dir hab geschrieben,
Bündel, mit dem Seidenband umwunden,
eitle Stigmen trunkner Marterstunden,
wär’s auf dunklen Wassern hingetrieben,
Blume, der kein Strahl den Duft entbunden,
Duft, der meinen Briefen wär geblieben.

Glocken, die uns sanft geweckt, zu wandern
durch die Schneenacht unterm Stern der Gnade,
Schneenacht schimmerte, ein Lichtgestade,
wie sie stumm im Dunkel nun mäandern.
Überwuchert sind die frühen Pfade,
keine Glocke ruft, nur Schatten wandern.

 

Jan 8 25

Geleit von sanften Geistern

Sanfte Geister mögen dich geleiten,
hold dir wie versehrten Seelen Feen.
Sinnend magst, gedämpften Schritts, du gehen,
auf verschlungnen Pfaden, überschneiten,
wo die blassen Blüten niederwehen.
Mögen sanfte Geister dich geleiten.

Daß du nicht erschrickst vorm jähen Knistern,
Schatten, raschelnd im Gesträuch. Es regen
sich die kleinen Sänger deinetwegen,
zählen dich zu ihren Mitgeschwistern,
und sie singen süß den Abschiedssegen.
Schrick nicht auf, es war nur Flaum und Flüstern.

Kommst zum Schilf du, lausch der weichen Welle.
Trunken seufzt der Kahn, begrünt vom Moose.
Wie im Traum treibst du, die schwerelose,
an des Jenseitsufers sanfte Schwelle.
Nacht blaut hell, die hohe Herbstzeitlose.
Und im Schilf weint noch die weiche Welle.

 

Jan 7 25

Schnee, o sanfter Anmut Taumel

Als angehaucht du die vereiste Scheibe
und deine Nase daran plattgedrückt,
wie hat dich, Knabe, Schneelicht sanft entrückt.
Du hofftest, daß die Flockenhülle bleibe,
die wie ein Tuch den Tisch der Erde schmückt,
als angehaucht du die vereiste Scheibe.

Du hast die Verse leise nachgestammelt.
War’s Sapphos Mond, war’s Trakls dunkler Quell?
Ein Schlaks, die Wimpern schattend, Stimme hell,
hast Muscheln du, Fossilien gesammelt.
Wie blichen aus im Staub der Schulangst schnell
die Verse, die du vor dich hin gestammelt.

Beinah erstickt wie Veilchen unter Nesseln,
hat kaum ihr süßer Hauch dich mehr erreicht,
als Philologenqualm sie ausgebleicht.
Der Rhythmus stockte in gelehrten Fesseln.
Was von Magisterlippen troff, war seicht,
wie trüber Schaum von Lippen feister Nesseln.

Nun schneien sie erneut, die süßen Flocken,
sie singen in die Herznacht ohne Laut,
gleich Boten einer fernen Himmelsbraut,
in sanfter Anmut Taumel dich zu locken.
Daß dir nicht vor dem dunklen Tode graut,
schneit Herthas Wolke helle, süße Flocken.

 

Jan 6 25

Schneisen der Vernunft

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Die Logik und Struktur der Sprache überschreitet die Grenzen ihrer psychologisch oder evolutionspsychologisch erklärbaren Natur.

Torheit identifiziert das grammatische mit dem natürlichen Geschlecht. Doch wieso schurigelt uns die Struktur der altgriechischen, der lateinischen, der deutschen Grammatik nicht nur mit der Dualität des maskulinen und femininen Genus, sondern narrt uns darüber hinaus mit dem Neutrum?

Das Kind, das Huhn, das Rind – was die Begriffe meinen, entbehrt ja nicht eines natürlichen Geschlechts; während wir uns bei dem Mädchen, dem Knäblein, dem Hühnchen mit dem gleichsam ungeschlechtlichen Leichtsinn der Verkleinerungs- und Verniedlichungsform zufriedengeben mögen.

Die grammatischen Genera und ihr Beitrag zur semantischen Ordnung der Sprache sind ein philosophisch bedeutsames, indes kaum beachtetes sprachliches Phänomen.

Die Logik der Sprache manifestiert sich im Gebrauch von Sätzen zur Identifizierung bestimmter Sachverhalte, die nur im Lichte ihrer sprachlichen Darstellung für uns greifbar werden. „Es regnet“ bedeutet, daß der Sprecher den möglichen Sachverhalt, daß es regnet, als wirklich annimmt oder seine Behauptung als wahre Aussage verstanden wissen will.

Die Tropfen, die da fallen, sind naß oder bestehen aus einer spezifischen chemischen Substanz, nicht aber die Tatsache, daß es regnet.

Die logische Möglichkeit der Wahrheit oder Unwahrheit von Sätzen und die Objektivität von Gedanken kann nicht psychologisch erklärt oder naturalisiert werden.

Zu sagen „Es regnet nicht“ ist eine triviale, aber wahre Annahme angesichts der Beobachtung, daß die Straßen und Dächer trocken sind. Wir können träumen, daß es regnet, aber nicht von dem negativen Sachverhalt, daß es nicht regnet.

Unsere Fähigkeit, von negativen Sachverhalten zu sprechen, deutet auf einen sprachlichen Ursprung dessen, was wir Vernunft nennen.

Unsere mentalen Zustände und Befindlichkeiten sind gleichgültig oder gleichsam neutral gegenüber der Wahrheit oder Unwahrheit von Sätzen, die wir unter ihrem Einfluß äußern.

Man kann die logische Funktion nicht auf die kommunikative zurückführen. Da hilft weder Psychologie noch Soziologie. Der Begriff einer kommunikativen Vernunft gehört zum schillernden Begriffsplunder, der die akademische Jugend seit Dezennien in ein weltanschauliches Wolkenkuckucksheim locken soll.

Ein Satz ist unabhängig von der Tatsache wahr oder falsch, daß er mitgeteilt oder verschwiegen wird.

Die Logik ist nichts, was der Mitteilung bedürfte, denn sie sorgt, wie Wittgenstein sagte, gleichsam für sich selbst.

Die Mitteilung „Frau Müller sagt, sie habe drei Geschwister und ihre Eltern somit vier leibliche Kinder“ ist nicht gleichen logischen Ranges mit der Aussage „Die Anzahl der großen Jupitermonde ist gleich der Anzahl der Evangelisten.“ – Frau Müller könnte, ohne davon zu wissen, ein uneheliches Kind als leiblichen Sproß ihrer Eltern ansehen.

Ich muß die Anzahl der großen Jupitermonde nicht kennen, um zu wissen, daß sie dieselbe ist wie die Anzahl der Evangelisten, wenn ich sie einander eins zu eins zuordnen kann.

Die natürlichen Zahlen können keine mentalen Inhalte sein, wie beispielsweise Farbbegriffe, deren Definition und Umfang von Kultur zu Kultur schwanken mögen.

Wir können, wie Wittgenstein nachwies, nicht an allem zugleich zweifeln; könnten wir es, entzögen wir auch diesem Satz, daß wir an allem zweifeln, die semantische Basis des Wissens von der Bedeutung der in ihm verwendeten Worte.

Zu behaupten, die in der adäquaten Situation geäußerte Aussage „Da geht ein Mensch“ habe kein fundamentum in re und stelle keine Wahrheit an sich dar, sondern sei nur die Beschreibung eines visuellen Phänomens, ist Unsinn; denn wir wissen, was wir meinen, das heißt, verfügen über hinreichende Bedingungen der korrekten Anwendung unseres sprachlichen Ausdrucks, wenn wir in der entsprechenden Situation von einem Menschen reden, der an uns vorübergeht.

Die Aussage „Die Welt ist eine aus phänomenalen Daten konstruierte (wissenschaftliche) Fiktion“ oder „Die Welt ist meine Vorstellung“ ist Unsinn, denn wir wissen, was wir meinen, wenn wir von der Welt der physikalischen Dinge oder der Welt, in der Blumen sprießen, Löwen brüllen und Delphine schwimmen, im Gegensatz zu der fiktionalen Welt reden, in der Tiere sprechen oder sich Bäume vor der magischen Gewalt orphischer Gesänge beugen.

Die Aussage, daß es die Welt der von uns benennbaren Tatsachen gibt, ist eine synthetische Aussage a priori, die aus der Einsicht in die Falschheit der gegenteiligen Annahme folgt, daß die Welt nichts als ein Konstrukt unserer sinnlich gefütterten Einbildungskraft sei; sie folgt aus der Erkenntnis der Falschheit der Annahme, wir könnten an allem, also auch der Existenz der Welt, zweifeln.

Aus den Axiomen eines aus ihnen analytisch ableitbaren formalen Systems wie des Systems der natürlichen Zahlen können wir nach Gödel Sätze ableiten, die in diesem formalen System nicht beweisbar sind und demnach als synthetisch gekennzeichnet werden müssen.

Daraus folgt, daß die Alternative zwischen analytisch beweisbaren, aber inhaltsleeren, weil tautologischen Aussagen formaler Systeme und synthetischen, aber rein empirischen Annahmen, die auf Wahrnehmungssätzen fußen, unhaltbar ist, denn sie ist zumindest unvollständig, wenn wir die Geltung von synthetischen Sätzen a priori wie „Die Welt der von uns benennbaren Tatsachen existiert“ nicht zu leugnen imstande sind.

Wäre die Welt meine Vorstellung, eine bloße Fiktion oder ein theoretisches Konstrukt, könnten wir es nicht sagen.

Im Traum von dem Gedanken gestreift und überrascht zu werden, daß man träume, setzt ein implizites Wissen darüber voraus, wie es wäre, nicht zu träumen.

Wäre ich, wie Putnam erwies, ein Gehirn in der Nährflüssigkeit eines medizinischen Labors, könnte ich es nicht sagen; kann ich es sagen, ist die Annahme des Gegenteils evident.

Denke ich an meinen verstorbenen Freund Hans, so ist evident, daß sich der Name nicht auf seinen wahrnehmbaren Träger bezieht (denn Hansens Körper ist schon zerfallen), sondern auf die Person, deren Identifikation mir aufgrund von Bedingungen möglich ist, die sich meiner Willkür oder der Willkür rein sprachlicher Konventionen entziehen.

Der Unterschied meiner Erinnerung an Hans Castorp, den Protagonisten aus Thomas Manns Romanwerk „Der Zauberberg“, und meiner Erinnerung an meinen Freund Hans erhellt aus der kategorialen Differenz jener epistemischen Quellen, aus denen ich die Bedingungen ihrer jeweiligen Identifikation schöpfe – fiktionalen des Romans und realen von Dokumenten oder den von unabhängigen Zeugen mitgeteilten Berichten.

Daß die Faktoren der Multiplikation vertauscht werden können, ist ein triviales Wissen auf Basis analytischer Axiomatik; daß Goldbachs Vermutung über die Summe aller ganzen Zahlen aus Primzahlen gilt, ist ebensowenig trivial wie die Annahme, daß die Summe der Winkel im rechtwinkligen Dreieck stets 180 Grad ergibt; denn wir können nichteuklidische Geometrien entwickeln, bei denen diese Annahme nicht zutrifft.

Nicht alles, was wir wissen, ist kausal bedingt. Ich kenne die Wurzel aus 9 und weiß, ich wäre nicht da, hätten sich mein Vater und meine Mutter nie getroffen. – Abstrakte Formen und Hypothesen über irreale Bedingungen, die jeweils keinerlei kausalen Einfluß auf unsere Denkvorgänge haben, können unser Wissen vermehren.

Wahrnehmbare Dinge, die uns vor Augen liegen, sind weder das Muster für unsere epistemischen noch für unsere sprachlichen Fähigkeiten. – Ich zeige nach seiner Aufforderung auf eine Tanne, worauf mein botanisch versierter Freund sagt: „Gut gesehen, denn dies ist keine Fichte!“

Auf die Tatsache, daß es regnet, kann ich nicht zeigen; nur auf die fallenden Regentropfen. Auf die Tatsache, daß es nicht regnet, kann ich nur sprachlich Bezug nehmen.

Die Existenz von Schwarzen Löcher kann, da sie bekanntlich die kausal auf unsere Rezeptivität wirkenden Lichtwellen zurückhalten, wohl theoretisch erschlossen, aber nur indirekt empirisch belegt werden.

Wir wissen intuitiv um das, was wir unvernünftig nennen, eher als um eine positive Bestimmung von Vernunft. Wir halten es für unvernünftig, alles gleichzeitig in Frage zu stellen und zu bezweifeln, bevor wir mit Wahrheiten aufwarten können, die wir für unbezweifelbar halten.

Das Auftauchen logischer Inkonsistenzen, die unseren Alltagsverstand ruinieren, ist ein guter Hinweis darauf, daß der Weg, der zu ihnen geführt hat, nicht von der Vernunft empfohlen worden sein kann.

Zu fragen, wie es wohl sein oder sich anfühlen mag, eine Fledermaus zu sein, ist von nicht geringerem Unsinn als zu fragen, wie es denn ist oder sich anfühlt, ein Mensch zu sein.

Zu fragen, wie es wäre, wenn nichts existierte, ist von nicht geringerem Unsinn als zu fragen, wie es ist oder sich anfühlt, zu existieren.

Es ist unvernünftig, den Tod als Schatten über dem Leben anzusehen oder als einen Grund, es prinzipiell in Frage zu stellen.

Es ist unvernünftig, aus der Tatsache, daß ich hier und da einer Täuschung erlegen bin, zu folgern, die Welt sei ein Lügennetz, gewebt von der Spinne namens Verstellung, Trug oder Wahn.

Es ist unvernünftig, das Gegebensein des Zeichens für Identität oder Gleichheit im Modus des Indikativ Präsens zu lesen: 2 und 2 ist 4 heißt nicht, daß die Addition jetzt oder in einem zeitlosen Sinn gültig ist, sondern schlicht, daß sie gilt. Daher ist es unsinnig zu fragen, ob 2 und 2 auch 4 gewesen wäre, als es kein menschliches Wesen gab, das diese Gleichung hätte aufstellen können.

Es ist unvernünftig, uns vorzustellen, wie es wäre, wenn wir wesentlicher Dimensionen der menschlichen Existenz, wie der Fähigkeit, zu sprechen oder etwas zu beabsichtigen, entbehren würden.

Die Sprache kann keine Fähigkeit sein, die wir zufällig erworben haben, denn wäre dem so, könnten wir uns vorstellen, wie es wäre, ein Mensch zu sein ohne diese Fähigkeit.

Ähnlich wie die Intelligenz streut die musische Begabung nach dem Muster der Gaußschen Kurve der Normalverteilung.

Je stärker das Interesse an Macht und Politik, umso schwächer die Neigung zu den musischen Fächern.

Der Politiker Carlo Schmid hat noch Baudelaire übersetzt; die meisten der heutigen Politiker, gleichgültig, welcher Parteidoktrin sie folgen, wüßten nicht einmal mehr, was es mit den Fleurs du Mal für eine außerordentliche dichterische Bewandtnis hat.

Es ist unvernünftig, für alle Wege, auf denen wir zu Gewißheiten und mehr oder weniger gesicherten Überzeugungen gelangen, dieselbe Methode ihrer Überprüfung und Begründung festlegen zu wollen; unvernünftig, wie Platon anzunehmen, es gebe nur eine alleinseligmachende Methode, nämlich den argumentativen und deduktiven Beweis.

Unsere stärksten Intuitionen, wie sie beispielsweise ästhetische Präferenzen betreffen, können wir nicht mittels rationaler Gründe rechtfertigen.

Daß wir von dem, was bisher regelmäßig stattgefunden hat, induktiv auf das schließen, was morgen stattfindet, gibt uns bekanntermaßen kein absolutes Kriterium der Gewißheit an die Hand; aber in vielen Fällen lassen wir es rechtens dabei bewenden; sonst würden wir uns nicht mit der Wendung verabschieden: „Bis morgen“ oder erwarten, daß die Sonne auch am nächsten Tag aufgehen wird.

Es ist unvernünftig, aus der symmetrisch-polaren Struktur unserer leiblichen und psychischen Existenz eine metaphysische Grenzlinie zwischen hüben und drüben, hinten und vorn, unten und oben, rechts und links, gut und schlecht konstruieren zu wollen.

Je allgemeiner und unbestimmter die sprachliche Wendung, umso facettenreicher und nuancierter oft der semantische Gehalt ihrer kontextsensitiven Anwendung; so können wir naiv oder gehässig fragen, neugierig oder ironisch, schonend oder bohrend, als besorgte Mutter oder kaltherziger Kommissar, als Arzt oder Inquisitor, als frisch Verliebter oder eifersüchtiger Liebhaber.

Nuancenreich, vieldeutig, schillernd und opulent ist die Palette der venezianischen Maler; aber man kann auch Grau in Grau malend höchst geistreiche Mitteilungen machen.

Goethe verfügte vielleicht über den reichsten deutschen Wortschatz; doch konnte Trakl mit einem Bruchteil davon nicht geringere lyrische Wirkungen erzielen.

Es ist vernünftig, wenn derjenige, der sich den Magen aufgrund zu üppiger Kost verdorben hat, eine strenge Diät einhält; aber unvernünftig, wenn derjenige, der lange Zeit eine einseitig frugale oder vegane geistige Kost zu sich genommen hat, über Gott und die Welt philosophiert.

Nicht Gedanken oder Sätze, in denen wir sie mitteilen, nennen wir vernünftig, sondern die Überlegung und die Entscheidung, worüber wir uns welche machen sollten oder nicht.

 

Jan 5 25

Wo wir einst im Abendmond gegangen

Wo wir einst im Abendmond gegangen,
schimmerte die Frucht noch gelb und rot.
Worte zu verlieren tat nicht not,
denn da waren Vögel, die uns sangen,
wo wir einst im Abendmond gegangen.

Wo das weiche Moos gedämpft die Schritte,
hat betört den Blick ein Bild des Glücks,
zwei noch junge Rehe, sanften Blicks,
standen in der Lichtung grüner Mitte,
wo das weiche Moos gedämpft die Schritte.

Deine Wange streifte sacht die meine,
und die Feuchte, die ich da empfand,
schien aus einem tiefen Quell gesandt.
Als ob Gaia dunklen Wehes weine,
näßte deine Wange sacht die meine.

Nun hat sich mein Pfad im Schnee verloren.
Schnee bedeckt das sommerblaue Kraut,
Schnee, der nie mehr, nie mehr auf wohl taut.
Quell und Lied und Erde sind gefroren,
da ich meinen Pfad im Schnee verloren.

 

Jan 4 25

Gedämpfte Gluten

Ihr habt der Erdnacht Rinde blind durchbrochen.
Es ward die Knospe Aug euch aufgetan,
den Stern zu schauen auf der Schicksalsbahn,
die Feuer, die Gebein und Mark zerkochen.

Das Herz ward eingepflanzt, sich zu verzehren
nach einem Herzen, daß es zweisam brennt.
Und Mund an Mund, träumt ewig ihr getrennt.
Es heischt der Geist der Höhe das Entbehren.

Daß wild die Flammen nicht zusammenschlagen,
dämpft eure Gluten tränenmilde Feuchte.
Nur zarte Dochte, die ins Dunkel ragen,

entfacht Selenes Kuß zu stiller Leuchte.
Wie Blüten, die auf schwarzen Wassern schwimmen,
mögt umeinander kreisend ihr verglimmen.

 

Jan 3 25

Es wandeln sich die Bilder

Da sich ihr feuchteten die bleichen Wangen,
starb auf dem Teich die Blüte Mond, verglomm.
Ihr war, als ob im Schlaf die Vögel sangen
und bange Herzen klopften: „Sonne, komm!“

Die einsam gehen unter Schattenlauben,
auf öden Pfaden, wo das Gras verdorrt,
ergreift ein Gurren ferner Turteltauben,
ein Duft, geweht aus der Erinnerung Hort.

Zu weichen Tropfen werden Schneekristalle,
sie steigen unterm Strahl in Wolkendunst.
Der Weise raunte, daß sich Wasser balle.

Aus Nebeln blitze auf, o Stern der Kunst.
Es wandeln sich die Bilder. Wie im Regen
der matte Kiesel glänzt auf dunklen Wegen!

 

Jan 3 25

Francis Jammes, Dans le Verger

Aus: De l’Angélus de l’aube à l’Angélus du soir

Dans le Verger où sont les arbres de lumière,
La pulpe des fruits lourds pleure ses larmes d’or,
Et l’immense Bagdad s’alanguit et s’endort
Sous le ciel étouffant qui bleuit la rivière.

Il est deux heures. Les palais silencieux
Ont des repas au fond des grandes salles froides
Et Sindbad le marin, sous les tentures roides,
Passe l’alcarazas d’un air sentencieux.

Mangeant l’agneau rôti, puis les pâtes d’amandes,
Tous laissent fuir la vie en écoutant pleuvoir
Les seaux d’eau qu’au seuil blanc jette un esclave noir.
Les passants curieux lui posent des demandes.

C’est Sindbad le marin qui donne un grand repas !
C’est Sindbad, l’avisé marin dont l’opulence
Est renommée et que l’on écoute en silence.
Sa galère était belle et s’en allait là-bas !

Il sent bon, le camphre et les rares arômes.
Sa tête est parfumée et son nez aquilin
Tombe railleusement sur sa barbe de lin :
Il a la connaissance et le savoir des hommes.

Il parle, et le soleil oblique sur Bagdad
Jette une braise immense où s’endorment les palmes,
Et les convives, tous judicieux et calmes,
Écoutent gravement ce que leur dit Sindbad.

 

In dem Garten

In dem Garten, wo Bäume sind, die leuchten,
trieft voller Früchte Fleisch von goldnem Wein.
Das weite Bagdad döst ermattet ein,
und schwüle Himmel spiegeln blaue Feuchten.

Es ist zwei Uhr. Im schweigsamen Palast
nimmt man das Mahl in hohen kühlen Gängen,
Sindbad, der Seemann, reicht vor steifen Wandbehängen
den Krug, den tönernen, die Miene streng gefaßt.

Lamm vom Rost schmaust man, Kuchen dann mit Mandeln,
läßt hin das Leben fliehen, lauscht, wie Wasser fließt,
das ein Sklave, schwarz auf weißem Kies, in Eimer gießt.
Da fragen manches ihn, die da vorüberwandeln.

Ja, Sindbad ist’s, gibt hier ein großes Mahl!
Ja, Sindbad, der weise Seemann, der hat Gold in Fülle,
rühmt man ihm nach, ihm lauschen sie in Stille.
Seine Galeere war schön, sie kurvt, wie er’s befahl.

Er duftet gut, nach Kampfer, seltenen Aromen.
Vom Haupt tropft Balsam, die Nase, adlergleich,
fällt spöttisch auf den Bart, wie Flachs so bleich:
Er hat das Wissen, flicht’s in holde Gnomen.

Er spricht, schräg gießt die Sonne auf Bagdad
maßlose Glut, daß in den Schlaf die Palmen sinken.
Die Gäste, die sich rechten Sinnes Ruhe winken,
sie hören ihm in hohem Ernste zu, ihm, Sindbad.

 



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